Power Quality mit Smart Metern messen
Netzanalyse
Immer mehr Stromverbraucher sind mit Wechselrichtern ausgestattet, die die Netzqualität beeinträchtigen. Mit Zusatzfunktionen in intelligenten Stromzählern lassen sich Problemfälle bei nichtlinearen Lasten im Netz identifizieren. Der Fokus liegt dabei auf der Qualitätseinhaltung der Spannungsharmonischen nach EN 50160 sowie auf der Suche nach den Störungsverursachern.
Wichtige Pfeiler der Schweizer Energiestrategie 2050 sind der Ausbau der erneuerbaren Energien, die Substitution der fossilen Energieträger und, damit verbunden, die wachsende Elektromobilität sowie die Effizienzsteigerung verschiedener Systeme oder Verbraucherprodukte. Für die möglichst verlustfreie Wandlung von elektrischer Energie in Batteriespeichersystemen, drehzahlgeregelten Wärmepumpen oder Ladeeinrichtungen für Elektrofahrzeuge werden Wechselrichter oder Frequenzumformer eingesetzt. Der Nachteil solcher Applikationen ist eine erhöhte Verzerrungsblindleistung, die dazu führen kann, dass die Spannungsqualität gemäss EN 50160 nicht mehr erfüllt wird.
Beim Entwicklungsstart eines neuen Schweizer Stromzählers 2017 standen deshalb neben den bekannten Messfunktionen die Analysefähigkeiten zur flächendeckenden Überwachung der Spannungsqualität nach EN 50160 auf der Spezifikationsliste. Solche Funktionen kamen bisher nur in High-End-Stromzählern und vollumfänglich in Netzqualitäts-Messgeräten vor.
Zunächst mussten der genaue Funktionsumfang definiert sowie die Wirtschaftlichkeit analysiert werden. Zudem sollte das neue Produkt nachhaltig entwickelt sein, was auch die Energieeffizienz resp. den Energieverbrauch miteinschliesst. Nachfolgend werden die wichtigsten Aspekte der Produkteentwicklung erläutert.
Ausgangslage
Elektronische Stromzähler basieren heute meist auf standardisierten Messchip-Sets renommierter Hersteller. Die Sensoren messen Strom und Spannung sowie deren Phasenlagen. Das geschieht generell über Analog-Digitalwandler, welche Daten jeder Phase abtasten, in der Regel mit einer Abtastfrequenz, die zwischen 4 und 8 kHz liegt. Anschliessend werden mit einer Mikroprozessoreinheit die benötigten Grundwerte wie Phasenlagen, Blind- und Wirkenergie, Spannungen und Ströme sowie Blind-, Wirk- und Scheinleistung für die einzelnen Phasen und für das Gesamtsystem berechnet.
Das Zeigerdiagramm in Bild 1 illustriert die elementaren Messwerte, wobei das eingesetzte Messkonzept auf mehreren internationalen Standards basiert.
Die Blindleistung Q und die Scheinleistung S1 beinhalten nur die Komponenten der Grundfrequenz, nicht aber die Anteile mit Oberschwingungen (Verzerrung). Wichtig ist hierbei auch die Definition des Phasenwinkels φ, der sich ebenfalls nur auf die Grundfrequenz bezieht.
Oberschwingungen berücksichtigen
Die Scheinleistung S, die im Gegensatz zu S1 auch die Oberschwingungen berücksichtigt, kann durch das Produkt aus RMS-Strom und RMS-Spannung gebildet werden. Vorteilhaft ist, dass diese mit handelsüblichen Multimetern nachgemessen und berechnet werden kann.
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Etwas leistungsfähigere Messchips können für die einzelnen Phasenspannungen und -ströme die Kenngrösse THD (Total Harmonic Distortion: Gesamte Harmonische Verzerrung) berechnen. Diese Grösse wird aus dem RMS-Wert und der Grundschwingung (50 Hz) gebildet und beschreibt, wie gross die Anteile der Oberschwingungen im Vergleich zur Grundschwingung sind. Der Gesamtoberschwingungsgehalt THD könnte aber auch aus den Quadratsummen der Harmonischen- Anteile berechnet werden, sofern diese Werte verfügbar sind.
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Die harmonische Verzerrung der Spannung THDu wird als eine wichtige Kenngrösse der Netzqualität nach EN 50160 [1] definiert. Der Grenzwert von 8% darf dabei nicht überschritten werden.
THDu und THDi werden von Stromzählerherstellern oft als wichtige Power-Quality-Netzkenngrössen angepriesen. In der Schweiz zeigt sich hier aber ein etwas anderes Bild: Der THDu-Grenzwert wird in der Regel bei Weitem nicht überschritten. Probleme gibt es hingegen bei den einzelnen Spannungsharmonischen, deren Grenzwerte ebenfalls in EN 50160 geregelt sind.
Das Zentrum Energiespeicherung der Berner Fachhochschule hat die Netzqualität in einigen Schweizer Stromnetzen untersucht [2] und sieht die künftigen Qualitätsherausforderungen ebenfalls bei den einzelnen Oberschwingungen, welche teilweise schon heute zu hoch sind. Bild 3 zeigt die Ergebnisse der Analysen der Spannungsoberschwingungen, wobei der alte Grenzwert für die 15. Harmonische in einigen städtischen Netzgebieten bereits überschritten wird. Die Grenzwerte gemäss EN 50160 wurden aber 2019 auf 1% bzw. 0,75% angehoben.
Interviews mit Netzverantwortlichen und Power-Quality-Spezialisten im Vorfeld des Smart-Meter-Entwicklungsprojekts ergaben, dass es in der Netzebene 7 nicht zwingend ein flächendeckendes, zumindest aber ein genügend repräsentatives Sensornetz zur Überwachung und Verlaufsentwicklung der Spannungsharmonischen geben sollte. Idealerweise würden aber alle modernen Stromzähler über eine solche Analysemöglichkeit verfügen, damit künftige Problemstellen möglichst früh in allen Netzgebieten entdeckt werden können. Das automatische Auswerten dieser Stromzählerdaten erspart ausserdem eine manuelle und flächendeckende Messkampagne im Feld.
Weiterführende Fachgespräche haben gezeigt, dass moderne Stromzähler auch Stromharmonische aufzeichnen und auswerten sollten, damit bei lokalen Grenzwertüberschreitungen der Spannungsharmonischen die Störungsverursacher möglichst schnell bestimmt werden können.
Das folgende Beispiel zeigt ein Gebiet mit Netzteilnehmern, in welchem die Grenzwerte aufgrund einer langen Netzzuleitung (hohe Impedanz) für einzelne Spannungsharmonische überschritten werden. Werden nun auch die Stromharmonischen aufgezeichnet, kann ein einzelner Verursacher von fern relativ leicht ermittelt werden. Komplexer wird die Bestimmung des Störers bei mehreren Verursachern, wenn sich einzelne Effekte wie Harmonische, deren Phasenlagen oder Resonanzen überlagern.
Umsetzung im Stromzähler-Entwicklungsprojekt
Die Kundeninterviews und die zusätzlich gewünschten Netzanalysefunktionen haben das Stromzähler-Entwicklungsteam bewogen, leistungsfähige Messsensoren einzusetzen, welche dem aktuellsten Stand der Technik entsprechen. Damit können nun Strom- und Spannungsharmonische in eigenen Datenprofilen abgespeichert werden, wobei das Intervall für die Mittelwertbildung beliebig wählbar ist. Gemäss EN 50160 ist hier ein Mittelungsintervall von zehn Minuten zu wählen.
Die Implementation sieht neben den fünf Last- und Power-Quality-Zeitreihenspeichern zwei zusätzliche Datenspeicher mit je 44 Messwerten sowie einer Speichertiefe von 60 Tagen vor. Der erste Speicher dient der Grenzwertbestimmung der Spannungsharmonischen gemäss Norm: In einem beliebigen Wochenintervall müssen 95% aller Oberschwingungen gleich oder unterhalb des definierten Grenzwerts sein. Der zweite Datenspeicher zeichnet die Stromharmonischen auf und dient der Identifikation kritischer Kundenapplikationen.
Im Vergleich zu einem Standard-Stromzähler muss der eingesetzte Mikroprozessor über eine höhere Rechenleistung verfügen und Signalverarbeitungsfunktionen wie die Fast-Fourier-Transformation beherrschen können. Zudem ist der eingesetzte Datenspeicher wesentlich grösser zu dimensionieren. Des Weiteren benötigt ein solcher Stromzähler hochlineare und störungsrobuste Messshunts oder Stromtransformatoren (CT), denn diese müssen Stromharmonische bis zu 2 kHz genau abbilden können. Auf die in diesem Zusammenhang problematische Rogowski-Technologie wurde bewusst verzichtet. Die zusätzlichen Herstellkosten inklusive Abschreiber liegen für die beschriebenen Zusatzfunktionen bei wenigen Schweizer Franken. Diesen steht der funktionelle Mehrnutzen gegenüber, der durch den höheren Automatisierungsgrad in Analyse und Identifikation des Netzqualitätsproblems erreicht wird.
![<strong>Tabelle</strong> Energieverbrauch und Kosten bei Stromzählern in der Schweiz, Annahme Energie-Grosshandelspreis 4 Rp./kWh](files/content/news-articles/B_Artikel/Archiv/2021/2104/B_2104_Lendi/B_2104_Lendi_Tabelle.png)
Die anfangs geforderte Energieeffizienz wurde ebenfalls untersucht. Werden die aktuell verfügbaren Technologien eingesetzt, so entsteht wegen der Strom-Spannungsharmonische-Funktion eine Zusatzstromaufnahme von ca. 0,1 W pro Stromzähler. Hier ist aber auf einen wesentlichen Punkt hinzuweisen: Bestehende, nicht energieeffiziente Standardstromzähler verbrauchen inklusive Kommunikation in der Regel 2 bis 4 W Leistung. Das aktuelle, optimierte Design des eRS801-Zählers benötigt lediglich 1,1 W inklusive G3-PLC Power-Line-Kommunikation. Die Tabelle erläutert, weshalb die Leistungsaufnahme hochgerechnet auf rund 5,5 Millionen Stromzähler in der Schweiz wichtig ist.
Ausblick
Die leistungsstarke Messtechnik in modernen Stromzählern vermag mehr zu leisten als nur das Erfüllen der gesetzlich geforderten Zählerauslesung nach StromVV. Auch sind weiterführende Funktionen denkbar, die über die flächendeckende Analyse- und Prognosemöglichkeiten der Netzqualität hinausgehen. Eine mögliche Richtung zeigt das Projekt «NILM4Balance für Last- und Produktionsspitzen-Management» der Hochschule Luzern.[3] Durch die Modellierung von Gebäuden und den Einsatz von 15-Minuten-Lastgangwerten werden relativ genaue Analyse- und Prognosemodelle möglich, was zu einer sehr effektiven Stromverbrauchssteuerung führen kann.
Der Einsatz von Minuten- oder gar Sekundenwerten von Stromzählern könnte die lokale Detektion sowie die Analyse netzrelevanter Applikationen wie PV-Anlagen, Wärmepumpen, Ladestationen etc. noch effektiver machen. Eine von der Hochschule Luzern zu diesem Thema durchgeführte Vorstudie zeigt vielversprechende Resultate und Möglichkeiten. Hier soll Edge-Computing zum Einsatz kommen: Der Stromzähler bearbeitet und aggregiert die Sekundenmesswerte lokal und leitet nur die relevante Information an ein zentrales System zur Weiterbearbeitung weiter. Eine Weiterführung dieser wissenschaftlichen Arbeiten ist geplant. Interessierte Projektpartner dürfen sich gerne bei den Autoren dieses Artikels melden.
Zukünftige Zusatzfunktionen können über die gesetzlich bedingte Firmware-Aktualisierung in bereits installierte Produkte übertragen werden. Selbstverständlich ist eine Funktionserweiterung nur dann möglich, wenn diese durch die eingesetzte Hardware des Stromzählers bereits unterstützt wird.
Referenzen
[1] DIN EN 50160:2020-11, «Merkmale der Spannung in öffentlichen Elektrizitätsversorgungsnetzen», Deutsche Fassung EN 50160:2010 + Cor.:2021 + A1:2015 + A2:2019 + A3:2019.
[2] Michael Höckel, «Die Qualität der Spannung in Schweizer Verteilnetzen: Vorgaben, Status, Tendenzen», Betriebsleitertagung Brunnen, 2020.
[3] Hochschule Luzern, NILM4Balance.
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