KI im Dienste der Energieversorger
Dekarbonisierung des Gebäudesektors mit generativem Design
Ist es angesichts der Tatsache, dass die meisten Gebäude mit fossilen Brennstoffen beheizt werden und die Renovierungsrate bei nur 1% pro Jahr liegt, noch realistisch, die Klimaziele zu erreichen? Eine digitalisierte, KI-gestützte Planung könnte den Mangel an Arbeitskräften durch die Priorisierung von Projekten mit grosser Wirkung ausgleichen.
Energieversorger spielen eine Schlüsselrolle bei der Dekarbonisierung von Gebäuden, sei es durch den Einsatz von Wärmenetzen, Solaranlagen oder durch die Unterstützung von Städten bei der Erstellung territorialer Energiepläne. Doch angesichts der Tatsache, dass zwei Drittel der Gebäude immer noch mit fossilen Brennstoffen beheizt werden, nur 1% jährlich renoviert werden und ein Mangel an qualifizierten Arbeitskräften herrscht [1, 2], stellt sich eine neue Herausforderung: Wie können wir die Klimaziele in der nötigen Geschwindigkeit und dem erforderlichen Umfang erreichen? Heute ermöglichen innovative digitale Lösungen, mehr mit weniger zu erreichen, indem sie die bestehenden Teams produktiver machen und es ermöglichen, die begrenzten Ressourcen – finanziell, zeitlich und materiell – auf die wirkungsvollsten Projekte zu konzentrieren.
Urbio, ein Schweizer Softwareentwicklungsunternehmen, hat ein Tool entwickelt, das an drei Fronten innovativ ist und in einer Webplattform verlässliche Daten, interaktive Karten und ein sogenanntes «generatives Design»-Modul miteinander verbindet. Dieses Modul, das sich derzeit im Patentverfahren befindet, ermöglicht die intuitive Gestaltung von georeferenzierten Energieszenarien, ähnlich wie man heute Textinhalte mit Tools wie ChatGPT erstellt.
Ein komplexes Energiesystem
Der grossflächige Einsatz von Wärmepumpen, Wärmenetzen, Solaranlagen, Ladestationen und anderen dezentralen Systemen macht die Aufgabe der Energieversorger immer komplexer. Früher waren die Energieflüsse relativ einfach, kamen aus wenigen zentralen Quellen und wurden zu relativ vorhersehbaren Verbrauchern geleitet. Heute verschwimmen die Rollen und Grenzen, insbesondere durch die Abhängigkeit von fluktuierenden Ressourcen und durch das Aufkommen von «Prosumern», die den Strom, den sie dezentral erzeugen, auch selbst verbrauchen.
Darüber hinaus führen fragmentierte oder gar fehlende Datenquellen zu Unsicherheiten bei Investitionen in kapitalintensive Projekte. Angesichts der Billionen von Franken, die weltweit in die Dekarbonisierung von Gebäuden investiert werden, und einem sich verknappenden Arbeitsmarkt ist eine effektive Planung im Vorfeld entscheidend, um sicherzustellen, dass die lokalen Akteure ihre Anstrengungen auf die rentabelsten und effektivsten Projekte konzentrieren, um ihre CO2- und Erneuerbare-Energien-Ziele zu erreichen.
Derzeit verfügen wir nicht über die personellen Ressourcen, um diese Pläne im nötigen Tempo und Umfang umzusetzen, um die Ziele des Pariser Abkommens zu erreichen. Traditionelle Methoden sind zeitaufwendig und schränken die Fähigkeit ein, das Spektrum der Möglichkeiten systematisch und dynamisch zu erkunden.
Ausserdem müssen die Daten, die für Investitionsentscheidungen verwendet werden, strukturiert und leicht zugänglich sein, um die Überwachung und Aktualisierung von Geschäftsplänen für Infrastrukturprojekte in einem dynamischen Umfeld zu ermöglichen, in dem sich die Parameter fast täglich ändern.
Daten, Kartografie und KI: Ein Erfolgsrezept
Hinter den Kulissen des Innovationsparks Energypolis im Wallis hat das Start-up Urbio eine Webplattform entwickelt, die drei innovative und ergänzende Module vereint (Bild 1). Ziel ist es, Energieversorgern und Ingenieurbüros zu ermöglichen, die interessantesten Möglichkeiten zehnmal schneller zu identifizieren als bisher. Die Plattform erlaubt es den Nutzern, die besten Chancen auf nationaler Ebene zu erkennen und dann die Energiesysteme sowie ihre technisch-ökonomischen Parameter zu dimensionieren, und zwar auf der Grundlage einer schlüsselfertigen Datenbank, die an die eigenen Präferenzen angepasst werden kann.
Jedes Modul hat eine spezifische Funktion. Die «Data Factory» zentralisiert und kombiniert mehr als 80 verschiedene Datenquellen, darunter auch Open Data. Ergänzt werden diese durch Attribute aus Machine-Learning-Modellen und Nutzerdatenbanken. Während in der Vergangenheit die Kosten für die manuelle Datenerfassung und Verarbeitung bis zu 50% des Budgets für die Energieplanung betragen konnten, kann Urbio die Kosten auf weniger als 1% des Gesamtbudgets senken.
Der «Digital Twin» oder digitale Zwilling funktioniert wie Google Maps für Energiedaten. Statt wie auf der Google-Plattform nach Gourmet-Restaurants oder Wanderwegen zu suchen, loggt sich der Nutzer bei Urbio ein, um Informationen über den Wärmebedarf eines Gebäudes oder der Dachbeschichtung zu finden. Während solche Erkundungen heute in klassischen geografischen Informationssystemen möglich sind – wenn man über entsprechende Kenntnisse verfügt –, demokratisiert Urbio diese Tools, sodass ganze technische und kaufmännische Teams ohne umfassende Schulungen vom Mehrwert visueller und interaktiver Karten profitieren können. Ein weiterer Vorteil: Der digitale Zwilling von Urbio ermöglicht es, Millionen von Gebäuden gleichzeitig und in Echtzeit zu erkunden, zu filtern und zu aggregieren.
Schliesslich automatisiert das «Generative Design», das auf künstlicher Intelligenz basiert, die Erstellung von georeferenzierten Szenarien, die auf den Zielen und Einschränkungen des Benutzers basieren. Da das Modell auf einem vollständigen und transparenten Datensatz basiert, liefert es präzise und aktuelle Ergebnisse. Während die manuelle Erstellung eines Szenarios mit Datenaufbereitung und Problemmodellierung mehr als 40 Stunden brauchen kann, liefert die KI von Urbio vergleichbare Ergebnisse in 5 Minuten.
KI als Arbeitsbegleiter
Über die zugrunde liegenden Algorithmen hinaus innoviert Urbio auch in der Art und Weise, wie Nutzer mit der Plattform interagieren, um die gewünschten Ergebnisse zu erzielen. Obwohl es dem Namen nach der «Generativen KI» ähnelt, unterscheidet sich das generative Design von Urbio von den Sprachmodellen (LLM), die beispielsweise bei ChatGPT verwendet werden. Während diese Tools in der verbalen Interaktion mit Nutzern zur Erstellung kreativer textlicher oder visueller Inhalte hervorragend sind, bleiben die Ergebnisse oft unerklärlich und begrenzt, wenn es darum geht, mit Zahlen oder räumlichen Informationen zu arbeiten. Im Gegensatz dazu entwickelt Urbio eine patentierte Lösung, die es ermöglicht, optimierte und erklärbare georeferenzierte Net-Zero-Szenarien zu erstellen, während sie eine intuitive Interaktion direkt auf einer Karte ermöglicht. Statt sich darauf zu verlassen, dass die Maschine eine fertige Lösung produziert – die der Komplexität der realen Welt selten gerecht wird –, gestalten die Nutzer ihren Plan iterativ, indem sie ihr Fachwissen und kontextuelle Kenntnisse einbringen, während die Algorithmen die Kennzahlen in Echtzeit neu berechnen und verschiedene Ziele wie CO2-Emissionen, Investitionskosten oder andere optimieren. So bleibt der Nutzer am Steuer und sein digitaler «Begleiter» unterstützt seine Handlungen im Hintergrund.
Mit generativem Design können Akteure im Energiebereich grössere Gebiete viel schneller als bisher untersuchen. Und mit besseren Ergebnissen, da verschiedene Optionen mit geringerem Aufwand verglichen werden können, wodurch sich die Investitionsrendite erhöht. Das Ergebnis ist, dass Ingenieure und Vertriebsteams mehr Zeit damit verbringen, den Kunden einen Mehrwert zu bieten, als Daten und Szenarien vorzubereiten.
Wie Energieversorger von Urbio profitieren
Wärmenetze sind für viele Schweizer Energieversorger wie Romande Energie, Groupe E oder Oiken ein aktuelles Thema. In der Deutschschweiz wollte CKW wissen, welches die nächsten Schwerpunktgebiete für den Ausbau von Wärmenetzen in ihrem Tätigkeitsbereich sind. Angesichts der Notwendigkeit, in einem dynamischen Umfeld schnell zu handeln, suchten sie nach Möglichkeiten, ihren Prozess zu verbessern.
In der Vergangenheit waren diese Bewertungen mit einem hohen manuellen Aufwand verbunden: Sammlung der Gebäudedaten, Kartierung der Basisdaten in Desktop-GIS-Tools und anschliessende Anpassung von Wärmebedarfsmodellen in Ad-hoc-Tabellenkalkulationen. Die Prozesse litten unter lückenhaften Daten und repetitiver Arbeit. Mit Urbio konnte CKW den gesamten Prozess automatisieren, wertvolle Arbeitsstunden einsparen und es dem Team ermöglichen, sich auf die Erkundung von Szenarien mit Hilfe von schlüsselfertigen Karten und Kennzahlen zu konzentrieren (Bild 2).
Der Hauptvorteil dieses komplett digitalisierten Ansatzes besteht darin, Varianten mit unterschiedlichen Zielen zu vergleichen und nur diejenigen auszuwählen, die den angestrebten strategischen Zielen entsprechen. Bild 3 zeigt, wie drei indikative Szenarien – die von der KI in Echtzeit entsprechend den Zielen des Nutzers generiert werden – einfach miteinander verglichen werden können. Szenario 1 stellt eine ambitionierte Lösung dar, bei der alle Gebäude des Standorts an das Netz angeschlossen werden. Dies führt zu einer maximalen Reduktion der Treibhausgasemissionen, ist aber auch mit den höchsten Investitionskosten verbunden. Im Gegensatz dazu wird in Szenario 3 nur ein einziger Gebäudetyp angeschlossen, nämlich die mit Heizöl beheizten Gebäude. In diesem Szenario können fast 84% der Emissionen eingespart werden, obwohl nur 14% der Gebäude angeschlossen werden und nur etwa ein Zehntel der Investitionskosten anfällt, was eine strategische Lösung darstellt, wenn dies das angestrebte Ziel ist. Letztlich liegt die Entscheidung bei den Nutzern, die über die Plattform mehr als hundert verfügbare Kriterien erkunden können, um so ihre Investitionen zu optimieren.
Referenzen
[1] Luigi Jorio, Ein Jahrhundert, um alle Gebäude der Schweiz zu sanieren, swissinfo.ch, 2020.
[2] Justine Fleury, «Faute de main-d’œuvre qualifiée, la Suisse pourrait rater sa transition énergétique», Agefi, 2021.
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