Fachartikel Erneuerbare Energien , Konventionelle Kraftwerke

Grossbaustelle im Grenzgebiet

Gemeinschaftskraftwerk Inn

06.02.2020

Zwischen Martina im Engadin und Prutz im Tirol entsteht ein grosses Hochdruck-Lauf­wasser­kraftwerk. Nebst geologischen und technischen Heraus­forderungen ist das Projekt von einem umfangreichen, internationalen Geneh­migungs­verfahren geprägt. Die Engadiner Kraftwerke AG kann mit diesem Kraftwerk ihrer Pflicht zur Schwall-Sunk-Sanierung nachkommen.

Bereits in den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts tauchten erste Pläne für ein Kraftwerk zur Nutzung des Inns im schweizerisch-österreichischen Grenzgebiet auf. 1952 bildeten Österreich und die Schweiz eine Kommission zur Nutzung der gemeinsamen Innstrecke. Diese Kommission hatte die Aufgabe, die regulatorischen Rahmenbedingungen zu definieren, um ein grenzüberschreitendes Kraftwerk bauen zu können. Insbesondere mussten sich die beiden Staaten einigen, inwieweit österreichisches bzw. schweizerisches Recht anzuwenden ist, oder ob alternative Regeln zur Anwendung gelangen sollen. Besonders anspruchsvoll waren die Fragen zur notwendigen Restwassermenge sowie der Konzessions- bzw. Bewilligungsdauer. Beteiligt an diesen Arbeiten waren die beiden Staaten Österreich und Schweiz, das Land Tirol, der Kanton Graubünden sowie die potenziellen Investoren, unter anderen auch die Engadiner Kraftwerke AG (EKW). Erst 53 Jahre später, im Jahr 2005, war es dann so weit: Der ausgehandelte Staatsvertrag wurde durch die Eidgenossenschaft genehmigt.

Unter Beteiligung von EKW wurde 2006 die Gemeinschaftskraftwerk Inn GmbH (GKI) gegründet, die ein Jahr später bereits die für den Bau notwendigen Gesuchsunterlagen eingereicht hatte. Das aufwendige Gesuch, an dem 4 Planungsbüros und 20 Umweltgutachter mitgearbeitet hatten, umfasste 5400 Seiten in 11 Bundesordnern. Das Gesuch war an verschiedene nationale und regionale Amtsstellen in der Schweiz und in Österreich einzureichen. Die Prüfung der Gesuchsunterlagen sowie die Bearbeitung verschiedener Rechtsmittelverfahren liessen weitere Jahre verstreichen, bis 2013 endlich eine rechtskräftige Projektgenehmigung vorlag und 2014 ein Bauentscheid gefällt werden konnte.

Eckwerte des neuen Kraftwerks

Mit dem neuen Gemeinschaftskraftwerk Inn (GKI, Bild 1) entsteht ein grenzüberschreitendes, grösstenteils unsichtbares Kraftwerk auf dem Gebiet der Schweizer Gemeinde Valsot und sieben weiteren Gemeinden im oberen Inntal des Tirols. Das Kraftwerk staut mittels einer 15 m hohen Wehranlage in Ovella das aus dem Inn und aus dem oberliegenden EKW Kraftwerk Martina zufliessende Wasser. Maximal 75 m3 davon können pro Sekunde gefasst und über einen 23 km langen, mit zwei Tunnelvortriebsmaschinen ausgebrochenen Triebwasserweg zu den beiden Francis-Maschinen in der Zentrale Prutz geleitet werden, bevor das Wasser bei Prutz wieder dem Inn zurückgegeben wird.

Dank der verfügbaren Bruttofallhöhe von 161 m erzielen die beiden Maschinen eine elektrische Leistung von insgesamt 89 MW und eine Jahresproduktion von über 400 GWh. Die produzierte Energie steht den Gesellschaftern der GKI gemäss ihrem Beteiligungsverhältnis zur Verfügung. Basierend auf dem Staatsvertrag zur Nutzung des Inns im Grenzgebiet hat die Schweiz und damit EKW als Investorin Anrecht auf 14% der produzierten Energie. Über die restlichen 86% können die österreichischen Investoren verfügen. Bei Baubeschluss waren dies die Verbund AG sowie die Tiwag AG. Nachdem sich die Situation an den Strommärkten dermassen verschlechtert hatte, sah sich die Verbund AG jedoch gezwungen, aus dem Projekt auszusteigen und ihren Anteil der Tiwag AG zu verkaufen.

Geologie und Genehmigungsverfahren

Die anspruchsvollste Baustelle zur Errichtung des GKI befindet sich bei der Wehranlage in Ovella. Anspruchsvoll sind bei dieser auf der Landesgrenze liegenden Baustelle einerseits die aufwendigen Abstimmungen mit den nationalen und regionalen Behörden sowie die schwierige geologische Situation auf der Baustelle, direkt am Fuss der 600 m hohen, extrem steilen und instabilen Felswand auf der österreichischen Seite des Inns (Bild 2).

Die beiden Staaten einigten sich, dass für die Wehrbaustelle die österreichischen Normen anzuwenden sind. Trotzdem sind sämtliche Vorhaben mit beiden Staaten abzustimmen. Dadurch werden selbst unwesentliche Änderungen an der Wehranlage zu einem komplizierten und langwierigen Unterfangen.

Ungewohnt für die Schweizer Investoren ist zudem die Rolle der von den österreichischen Behörden bestimmten Sachverständigen, mit denen viele technische Details abzustimmen sind. Während in der Schweiz im Wesentlichen der Bauherr für die ordnungsgerechte Umsetzung eines Projekts auf sich alleine gestellt ist, werden in Österreich zahlreiche Freigaben für einzelne Projektschritte benötigt. Im Rahmen der Projektabwicklung sind dafür grosszügige zeitliche und finanzielle Reserven einzurechnen.

Unterschätzt in der Projektierung wurden die geologischen Verhältnisse der Felswand oberhalb der Baustelle sowie des Untergrunds der Wehranlage. Die schwierige Zugänglichkeit vor Baubeginn verleitete zu einer zu wenig fundierten Beprobung des Felsverlaufs. Die auf Beprobungen und auf Modellen basierenden Annahmen wichen stark von der letztlich vorgefundenen Situation ab, so dass umfassende Neuprojektierungen während der Bauphase unumgänglich wurden. Insbesondere musste für die Erstellung des Wehrs eine deutlich aufwendigere Baugrubenumschliessung gebaut werden als erhofft. Ähnlich stellt sich die Situation auf der anderen Talseite dar, wo in der nächsten Bauetappe das Einlaufbauwerk, die Fischauf- und Fischabstiegshilfen sowie das Dotierkraftwerk gebaut werden. Diese Bauetappe kann erst im Winter 2019/20 in Angriff genommen werden, weil ein Felssturz im Frühjahr 2019 diverse, von GKI in­stallierte Steinschlagschutznetze zerstört hat. Letztere müssen vor Aufnahme der Bauarbeiten wieder instand gestellt werden. Nebst der Instandstellung sind zusätzliche Felssicherungs­arbeiten notwendig, weil sich die Stabilität des über der Baustelle liegenden Felspakets zusehends verschlechtert hat.

Da es sich bei der Wehrbaustelle um die zeitkritische Baustelle handelt, führen diese Verzögerungen zu einer verspäteten Inbetriebnahme, schätzungsweise Ende 2022. Dieser Termin ist jedoch stark abhängig von den kommenden Wintermonaten, denn bei gros­sen Schneemengen muss die Baustelle aus Gründen der Personensicherheit geschlossen werden.

Modell des Allianzvertrags bewährt sich

Für den 23 km langen, auf der rechten Talseite verlaufenden Triebwasserstollen, der einen Innendurchmesser von 5,8 m aufweist, wurden zwei Doppelschild-Tunnelvortriebsmaschinen eingesetzt (Bild 3). Beide je 200 m langen und 1000 t schweren Maschinen starteten ungefähr in der Mitte des aufzufahrenden Triebwasserwegs ab dem Ort Maria Stein zwischen den Tiroler Gemeinden Pfunds und Tösens. Auf der vor dem Stollenfenster angelegten Installationsfläche wurde eine Fabrik zur Herstellung der rund 50 000 Tübbinge für die Schalung des Stollens aufgebaut.

Der Start der Vortriebsarbeiten verlief schleppend und auch nach einem Jahr gelang es der für den Vortrieb engagierten Unternehmung nicht, die vorgesehenen Vortriebsleistungen zu erreichen. Das Bauunternehmen und GKI kamen überein, sich einvernehmlich zu trennen, wobei GKI Eigentümerin der beiden Vortriebsmaschinen und der Baustelleninstallation wurde. GKI verpflichtete sodann drei andere Unternehmen, den Stollen mit den vorhandenen Installationen fertigzustellen. Dabei kam ein Allianzmodell zum Einsatz, das im europäischen Raum bisher kaum bekannt war, wonach sämtliche Kosten und die einkalkulierten Risiken offengelegt und mit der Bauherrin abgestimmt werden. Zudem wird ein angemessener Gewinn gemeinsam festgelegt. Die Bauherrin verpflichtet sich, alle Kosten, die detailliert offenzulegen sind, zu tragen.

Diese kostenbasierte Abrechnung wird mit einem Anreizmechanismus überlagert. Gelingt es der Unternehmerin, die erwarteten Kosten oder den erwarteten Zeitplan zu unterschreiten, wird der Gewinn zugunsten der Unternehmerin angepasst. Umgekehrt muss sie auf einen Teil des Gewinns bzw. auf den ganzen Gewinn verzichten, sofern die Arbeiten länger dauern, oder die Kostenerwartung nicht eingehalten werden kann, und dies unabhängig davon, wer die Verzögerung oder die Mehrkosten zu verantworten hat. Das im Allianzvertrag stipulierte Zusammenarbeitsmodell verhindert damit Diskussionen zu Nachforderungen. Auf ein sonst sehr aufwendiges Claim-Management kann verzichtet werden, weil die Lose-Win-Situationen im Wesentlichen eliminiert sind. Bei Schwierigkeiten sind beide Parteien interessiert, rasch eine kosteneffiziente Lösung zu finden, damit das Bauwerk möglichst günstig und frühzeitig fertiggestellt werden kann.

Nach Abschluss des Allianzvertrags und verschiedenen Anpassungen an der Baustelleninfrastruktur konnte das neue Konsortium beachtliche Fortschritte beim Vortrieb vermelden. Im Juli 2019 wurden die Vortriebsarbeiten erfolgreich abgeschlossen. Aus Sicht der Parteien hat sich die Abwicklung mit dem Allianzvertrag sehr bewährt.

Zentrale gemäss Terminplan fertiggestellt

Zwischen den Tiroler Gemeinden Prutz und Ried endet der Triebwasserweg mit einem gepanzerten Schrägschacht bei der Kraftwerkszentrale. Im Unterschied zur Baustelle in Ovella und den Vortriebsarbeiten konnten die Bauarbeiten in Prutz innerhalb des ursprünglichen Zeitplans fertiggestellt werden (Bild 4).

Die Zentrale ist von aussen kaum sichtbar. Lediglich 4,5 m des Gebäudes ragen über das Geländeniveau. Die Turbinen und Generatoren hingegen verstecken sich im 26 m tiefen unterirdischen Teil des Gebäudes. Für die optimale landschaftliche Einbindung der Zentrale konnte das Ausbruchsmaterial des im Sprengvortrieb erstellten Schrägschachts verwendet werden.

Wirtschaftlichkeit und Ökologie im Einklang

Anlässlich des Baubeschlusses rechneten die Gesellschafter mit Investitionskosten von 460 Mio. Euro. Unter Berücksichtigung der gravierenden Probleme bei der Wehrbaustelle in Ovella sowie in der ersten Phase des Vortriebs musste die Kreditsumme auf 604 Mio. Euro erhöht werden. Es ­handelt sich somit um ein teures Kraftwerksprojekt, das im aktuellen Markt­umfeld kaum gewinnbringend be­trieben werden kann.

Nebst der Energieproduktion dient das Kraftwerk allerdings auch der ökologischen Aufwertung des Inns zwischen Martina und Prutz, denn der heutige Betrieb der bestehenden Kraft­­werkskaskade der Engadiner Kraftwerke AG vom Stausee Livigno bis nach Martina führt zu grossen, unnatürlichen Abflussschwankungen im Inn unterhalb der Ortschaft Martina. Dank der neuen GKI-Stufe wird das sogenannte Schwallwasser, das zu einem unnatürlichen Anstieg des Innpegels führt, nicht mehr durch den Inn, sondern durch den neuen GKI-Triebwas­serweg geleitet. Dadurch, und kombiniert mit einer grosszügigen Rest­wasserabgabe, kann die neue Restwasserstrecke naturnah gestaltet und damit ökologisch aufgewertet werden.

Das überarbeitete eidgenössische Gewässerschutzgesetz sieht vor, dass von Wasserkraftwerken verursachte, künstliche Abflussschwankungen zu sanieren sind, wobei die damit verbundenen Kosten durch den Bund mittels eines Zuschlags auf dem Netznutzungsentgelt finanziert werden. Indem EKW als Schweizer Gesellschafter den Bau von GKI ermöglicht, kann die gesetzliche Pflicht einer sogenannten Schwall-Sunk-Sanierung erfüllt werden. Entsprechend wird EKW dafür entschädigt, so dass ein wesentlicher Teil der Investitionskosten durch den Bund finanziert wird. Nur dank dieser Unterstützung war es EKW möglich, einen positiven Bauentscheid zu fällen. Somit lässt sich festhalten, dass nur dank der Pflicht einer Schwall-Sunk-­Sanierung bald ein neues Wasserkraftwerk mit einer jährlichen Produktion von über 400 GWh erneuerbarer Energie in Betrieb gehen wird. Das Projekt GKI stellt somit eine Win-win-Situation für die Natur sowie für die wirtschaftliche Tragbarkeit des neuen Kraftwerks dar.

Autor
Michael Roth

ist Direktor der Engadiner Kraftwerke AG.

  • Engadiner Kraftwerke AG, 7530 Zernez

 

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