Virtuelles Kraftwerk aus 50 Elektroautos
Das Projekt «V2X Suisse»
Der Ausbau der erneuerbaren Energien bringt technische und wirtschaftliche Herausforderungen mit sich. Schwankungen bei Energieproduktion und -verbrauch, u. a. durch den künftig stark steigenden Strombedarf der elektrifizierten Mobilität, erfordern innovative Lösungen. Elektroautos können diese Situation durch intelligentes Laden entschärfen.
Ein wichtiger Ansatz zur Lösung der neuen Herausforderungen des Stromsystems ist die Integration mobiler Energiespeicher – also Autobatterien – ins Stromnetz. Intelligente Steuerungssysteme spielen dabei eine wesentliche Rolle, um diese Energiespeicher effizient zu bewirtschaften. Gleichzeitig müssen geeignete wirtschaftliche Rahmenbedingungen und Anreize geschaffen werden, um die notwendigen Technologien wie Fahrzeuge und Ladestationen für das bidirektionale Laden bereitzustellen. Ebenso müssen administrative und organisatorische Strukturen optimiert werden, um eine nahtlose Integration zu gewährleisten. Das Pilot- und Demonstrationsprojekt V2X Suisse hat untersucht, unter welchen Bedingungen solche neuen Geschäftsmodelle wirtschaftlich tragfähig sein können.
V2X, Vehicle-to-everything, steht dabei für eine Kombination der Anwendungen V2H (Vehicle-to-Home), V2B (Vehicle-to-Building) und V2G (Vehicle-to-Grid) und drückt zudem die kombinierte Anwendung mehrerer Betriebsarten aus. So können z. B. bidirektional ladefähige Elektroautos in einer Einstellhalle einer Liegenschaft sowohl zur Eigenverbrauchsoptimierung und für Peak Shaving (V2B) als auch zum Erbringen von Netzdienstleistungen (V2G) verwendet werden. Die autonome Versorgung von Einzelverbrauchern und Inselnetzen (V2L) sowie das Laden anderer Elektroautos (V2V) vervollständigen das Paket.
Projektaufbau und technische Umsetzung
Im Projekt wurden zwischen September 2022 und März 2024 schweizweit 50 Honda-e-Elektrofahrzeuge und 40 bidirektionale Ladestationen (teilweise mit doppeltem Ladepunkt) des Schweizer Spezialisten Evtec in das Carsharing-Netz von Mobility integriert. Die Ladestationen befanden sich an 39 öffentlichen Standorten. Die von Sun2wheel entwickelte cloudbasierte Plattform verband das Buchungssystem von Mobility mit den Ladestationen und den Elektrofahrzeugen. Die Plattform regelte auch die Informationsflüsse zwischen den verschiedenen Akteuren, einschliesslich der Übertragungs- und Verteilnetzbetreiber. Die Fahrzeuge wurden somit als mobile Energiespeicher zur Speicherung und Verteilung von Elektrizität eingesetzt. Im Durchschnitt wurden pro aktivem V2X-Fahrzeug 5,5 kWh/Tag bidirektional umgesetzt. Die Akzeptanz der Technologie bei den Nutzern war mit über 21’000 Buchungen und fast 800’000 gefahrenen Kilometern durch 6600 Mobility-Kunden erstaunlich hoch.
Netzbetreiber und «V2X Suisse»
Während der grösste Anteil der Flotte für Flexibilitätsanwendungen des Übertragungsnetzes eingesetzt wurde (via Swissgrid-Auktionen), wurden im parallel durchgeführten Forschungsprojekt «Produkte und Geschäftsmodelle zur Vermarktung der Flexibilität einer E-Fahrzeugflotte gegenüber Verteilnetzbetreibern» untersucht. Die Leitung des Projekts lag bei der FHNW – mit Unterstützung der OST – und wurde von Innosuisse gefördert. Das Projekt konzentrierte sich auf sieben Niederspannungsnetzgebiete der Verteilnetzbetreiber AEM, Primeo Energie und EWZ.
Die Steuerung der Flexibilität gemäss VNB-Wunsch wurde durch vier gemeinsam definierte Zustände ermöglicht:
- Freier Betrieb (innerhalb der maximalen Anschlussleistung bzw. der abgesicherten Leistung: zwischen –100% und +100% frei wählbar)
- Maximaler Bezug aus dem Netz (vom VNB wegen positivem Peak Shaving gewünscht: Max. +100% Ladeleistung)
- Maximale Zurückspeisung an das Netz (vom VNB wegen negativem Peak Shaving gewünscht: Max. –100% Entladeleistung)
- Abschaltung (vom VNB wegen vorweislicher Netz-Sicherheitsgründe vorgegeben = 0% Leistung), entsprechend dem Kap. 12 der VSE-Werksvorschriften.
Die Machbarkeit, VNB-Signale zu empfangen und korrekt umzusetzen, wurde in den Feldtests an elf Ladepunkten getestet. Die Schnittstelle zwischen der V2X-Plattform und dem Verteilnetzbetreiber soll die individuelle Flexibilitätsnutzung durch jeden Netzbetreiber ermöglichen. Sie basierte auf folgendem Konzept: Wenn z. B. von 21.00 bis 21.15 Uhr Flexibilität von bestimmten Mobility-Fahrzeugen verfügbar war, konnte ein Netzbetreiber diese Viertelstunde von allen bidirektionalen Elektrofahrzeugen, die in seinem Gebiet für Flexibilität verfügbar waren, «reservieren»: Sun2wheel zeigte diesen Honda e gleichzeitig anderen Flexibilitätsabnehmern als «reserviert» resp. für die Lastregelung «nicht verfügbar» an und blockierte damit die Signale anderer Flexibilitätsabnehmer für den genannten Zeitraum.
Der Netzbetreiber konnte die bidirektionalen Ladestationen über doppelte Rundsteuersignale und eine spezifische Rundsteuerfrequenz steuern. Die Kapazitätsgrenzen für die Netzdienstleistungen wurden mit den Netzbetreibern verhandelt und festgelegt. Daraus ergaben sich vier exakt definierte Zustände, die genutzt werden können. Diese sind in Tabelle 1 beschrieben.
Für die plattformbasierte Steuerung wurde das bedarfsgerechte Lastmanagementsystem von Sun2wheel eingesetzt, das die Ladevorgänge so gestaltet, dass die Anschlussleistung nie überschritten wird, aber trotzdem individuelle Steuerungswünsche von aussen (z.B. Aktivierungen durch Flexibilitätsabnehmer und individualisierte Ladepläne einzelner Fahrzeuge aufgrund von Buchungen) berücksichtigt werden konnten. Das Lastmanagement griff auch auf lokale Messungen zurück, die Residuallasten oder Bilanzmessungen für Eigenverbrauchsoptimierungen vor Ort aufnahmen und diese an die V2X-Plattform weiterleiteten. Zudem wurden die Rundsteuersignale vor Ort erfasst, in der Cloud-Plattform verarbeitet und an den Verteilnetzbetreiber zurückgespielt, um eine Art Feedbackschleife zu bilden, da der Netzbetreiber in der Regel nicht weiss, ob ein Elektroauto angeschlossen ist und lädt. Der mögliche Nutzen des Peak Shaving für das Verteilnetz wurde von der FHNW und den drei VNB auf etwa CHF 500 pro Elektrofahrzeug und Jahr (bei ±10 kW) geschätzt – ab der ersten Anlage.
V2G-Businessmodelle ausserhalb des lokalen Netzes
Die Einnahmen über Swissgrid für den Anwendungsfall Primärregelleistung (Frequency Containment Reserve, FCR) waren relativ gering (Tabelle 2). Obwohl sich die V2X-Technologie grundsätzlich gut für dieses Produkt eignen würde (hauptsächlich Leistung und wenig Energie), hat sich gezeigt, dass dieser Anwendungsfall noch wenig attraktiv ist. Einerseits ist die notwendige Reaktionszeit (< 2 s) sehr anspruchsvoll und war einer der Gründe für die (relativ hohen) Stand-by-Verluste. Andererseits ist der Markt für dieses Produkt klein und die gelieferte Energie wird von Swissgrid nicht vergütet.

Bei den Erlösen aus dem Übertragungsnetz war der Anwendungsfall Sekundärregelleistung (automatic Frequency Restoration Reserve, aFRR) am interessantesten, da hier das Marktvolumen mit 400 MW einiges höher ist als jener des «dünnen» Primärregelmarkts (70 MW). Die kalkulierten Werte weisen eine grosse Spreizung auf, was die hohen Energiepreise rund um die Energiekrise des Ukraine-Konflikts widerspiegelt. Das aFRR-Risiko besteht darin, dass das Volumen von 400 MW allein durch die flexiblen Wasserkraftwerke abgedeckt werden könnte. Zudem sind neue zentrale Speicherbatterien in Planung, die in den aFRR-Markt einsteigen werden. Es ist daher zu erwarten, dass die Preise im aFRR-Markt unter Druck geraten werden. Swissgrid hat die Menge an aFRR seit der Marktöffnung 2009 nicht erhöht und es gibt keine Anzeichen dafür, dass dies in naher Zukunft geschehen wird.
Das Day-Ahead-Trading ist eine interessante Ergänzung mit grossem Potenzial für die Zukunft. Aktuell ist das Day-Ahead-Trading an den meisten Mobility-Standorten leider noch nicht möglich und nur im liberalisierten Markt (> 100 MWh/Jahr) anwendbar. Dies würde jedoch künftig ein grosses Volumen für den Ausgleich durch Flexibilität ergeben, wenn auch mit momentan tieferen Preisen. Mit der Zunahme intermittierender erneuerbarer Energien ist zu erwarten, dass das Handelsvolumen des Energiemarktes sowie die erzielbaren Erlöse im Day-Ahead- und Intra-Day-Handel in den nächsten Jahren steigen werden.
Der Zusammenschluss zum Eigenverbrauch (V2B resp. V2H) war im V2X-Suisse-Projekt die beste Anwendung, die heute schon Einnahmen generieren kann – mit deutlich tieferen Marktrisiken als bei den Regelleistungsanwendungen. Dieser Anwendungsfall ist sehr interessant, speziell mit der laufenden Verbreitung von Solaranlagen, virtuellen ZEVs und LEGs. Zudem kann die Carsharing-Flexibilitätsabnahme Standorteigentümer dazu motivieren, einen Carsharing-Standort einzuführen.
Das grösste Potenzial liegt in der Kombination verschiedener saisonaler und tageszeitlicher Anwendungsfälle, denn dadurch können die Einnahmen kombiniert werden: Man spricht von «stacking», um die Flexibilität zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Märkten anzubieten. Beispielsweise kann der ZEV-Anwendungsfall als Basis verwendet werden. Im Winter oder wenn die Sonne nicht scheint, werden noch aFRR und Day-Ahead-Anwendungsfälle ausgeführt (falls die Preise attraktiv sind oder gewisse Swissgrid-Auktionen nicht gewonnen werden können).
Es sind noch weitere zusätzliche Einnahmequellen denkbar, beispielsweise aus dem VNB-Anwendungsfall, Peak Shaving oder LEG (Lokale Energie-Gemeinschaften), Inselbetrieb-Versicherung etc. Bei einer optimalen Kombination der verschiedenen Anwendungsfälle wären somit in der Schweiz Einnahmen von CHF 1500 pro Jahr und Fahrzeug (und 10 kW Regelleistung) durchaus realistisch. Dies würde bedeuten, dass die Kosten gedeckt wären und pro Fahrzeug und Jahr eine Rendite von knapp CHF 300 (oder rund 20%) erzielt werden könnte. Bei einer Flotte von 3000 Fahrzeugen wie bei Mobility wären dies CHF 900 000 pro Jahr, also eine Verdoppelung des Jahresgewinns. Damit könnte ein nachhaltiges betriebswirtschaftliches V2G-Geschäftsmodell aufgebaut werden, wobei die Aufteilung des Gewinns mit den verschiedenen Parteien (ZEV-Abnehmer, Flexibilitätsverkäufer, Betreiber etc.) noch definiert werden müsste.
Nutzung der Flexibilität beim monodirektionalen Laden
Flexibilitätserlöse können auch durch Elektroautos erwirtschaftet werden, die noch nicht entladen werden können: Durch das Vorziehen oder Verzögern des Ladevorgangs (V1G) können ähnliche Dienstleistungen auf allen Netzebenen und Anwendungsfällen erbracht werden. Bidirektionales Laden wird sich zwar sprunghaft ausbreiten, aber aufgrund der hohen Kosten wird sich die Technologie zunächst bei Eigenverbrauchsanlagen verbreiten. Bevor V2G auch an Standorten ohne PV «state-of-the-art» wird, kann die Flexibilität auch ohne Entladen genutzt werden. Monodirektionale Fahrzeuge sind bereits heute interessant, da die Ladeleistung direkt über die Cloud des Herstellers manipuliert werden kann. Insbesondere Netzbetreiber könnten diese Funktionalität nutzen, um Überlastungen in einzelnen Trafokreisen vorzubeugen und Ladungen in Zeitperioden mit tiefer Last zu verschieben oder diese zu forcieren, falls viel überschüssiger Solarstrom im Netz vorhanden ist. Sun2wheel plant hierzu ein neues Projekt «Ebfilex» mit Verteilnetzbetreibern, um ebenfalls monodirektionales Laden netzdienlich einzusetzen, und zwar auf Stufe Trafokreis.
Wie weiter mit dem bidirektionalen Laden?
Die meisten Schweizer Elektrizitätswerke und Verteilnetzbetreiber verfügen über eigene Fahrzeugflotten, darunter bereits zahlreiche elektrische Volkswagen-Modelle der ID-Serie, welche 77-kWh-Batterien und Softwareversion 3.5 oder höher aufweisen. Diese Fahrzeugmodelle sind vom Hersteller auch in der Schweiz serienmässig für das bidirektionale Laden freigegeben. Dies gilt sowohl für bereits immatrikulierte als auch für neue ID-Fahrzeuge. Die bidirektionale Nutzung dieser Fahrzeuge ist seitens der Fahrzeughersteller auf 4000 Betriebsstunden oder 10’000 kWh beschränkt. Diese Beschränkung beruht nicht auf einer eingeschränkten Batterielebensdauer, wie die Erfahrungen mit den ebenfalls serienmässig bidirektional ladbaren japanischen Modellen Nissan Leaf, Mitsubishi Outlander PHEV und Honda e in den letzten zehn Jahren klar gezeigt haben.
Der Schweizer Pionier im Bereich des bidirektionalen Ladens Sun2wheel, der auch die Plattform für das Pilotprojekt V2X Suisse erstellt und betrieben hat, hat Anfang November 2024 auf der «AutoZürich» eine bidirektionale Ladestation für VW mit einer Leistung von ±22 kW und CCS-Stecker vorgestellt. Diese neue bidirektionale Ladelösung wird in einigen Kantonen speziell gefördert. Der Kanton Zürich beispielsweise unterstützt die bidirektionale Ladestation mit CHF 2000 pro Ladestation, was den Listenpreis von aktuell CHF 13'500 spürbar reduziert. Diese neue bidirektionale DC-Wallbox nutzt das Kommunikationsprotokoll, welches von VW-Wolfsburg an ausgewählte Firmen für den kommerziellen Einsatz freigegeben wurde. Somit können ab sofort alle 630 Schweizer Energieversorger eigene Erfahrungen mit bidirektionalem Laden sammeln, noch bevor diese Technologie flächendeckend in ihren Netzen bei ihren Kunden implementiert wird. Die Netzbetreiber, die geeignete VW ID-Modelle einsetzen, müssen dafür keine neuen Elektrofahrzeuge beschaffen.
Links
«V2X Suisse» wurde durch sieben Unternehmen umgesetzt, wobei der Projektlead bei Mobility lag. Ebenfalls dabei: Automobilhersteller (Honda), Software-Entwickler (Sun2wheel), Ladestationen-Entwickler (Evtec), Aggregatoren (Tiko) und wissenschaftliche Begleitung (Novatlantis, in Zusammenarbeit mit der ETH Zürich). Das Projekt wurde durch das Bundesamt für Energie BFE und durch Innosuisse unterstützt.
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