Fachartikel Hardware , Infrastruktur , Internet of Things

Stationsleittechnik im Betrieb erweitern

Schaltverriegelung auf Basis der IEC 61850

24.04.2020

Die IEC 61850 erlaubt die Realisierung der für den Betrieb wichtigen Verriegelungs- oder Reserveschutzfunktionen mittels Echtzeitkommunikation statt einer parallelen Verdrahtung der Signale zwischen den Schaltfeldern. Aber wie werden Leittechnikfunktionen speziell bei Erweiterung von Schaltanlagen im Betrieb und bei feldweiser Inbetriebnahme geprüft?

Die internationale Norm IEC 61850 für die Kommunikation in Schaltanlagen wurde in den frühen 2000er-Jahren erstmals publiziert. Sie gilt mittlerweile als anerkannte Norm für Automatisierungssysteme in Schaltanlagen und Unterwerken. Mit der Ausgabe 2 [1] und der jetzt vorliegenden Ausgabe 2.1 ist ihre Akzeptanz gestiegen, und die Implementierungen in allen deutschsprachigen Ländern nehmen weiter zu.

Diese Norm definiert zwei grundlegende Kommunikationsarten mit unterschiedlichen Diensten für die Kommunikation zwischen den einzelnen Geräten der Feldebene (Schutzgeräte, Feldleitgeräte etc.) und der Stationsebene (Fernwirkgerät, Lokalsteuerung etc.):

  • Client/Server («MMS») für die Kommunikation zwischen einem «Server» (zum Beispiel Feldleitgerät/FLG) und einem «Client» (zum Beispiel Fernwirkgerät), typisch verwendet für die Steuerung und Überwachung der Anlage durch die Leitstelle und die Lokalbedienung. Als Dienste kommen Report und Control zum Einsatz.
  • GOOSE und Sampled Values (SV) für den Austausch zeitkritischer Informationen zwischen den Geräten, typisch verwendet für Verriegelungsfunktionen, Schutzsignale und gegebenenfalls auch für digitale Wandlersignale («Prozessbus»).

 

Essentieller Bestandteil der Norm ist die standardisierte Beschreibungssprache SCL (Substation Configuration Language), welche die projektspezifisch implementierten Signale und Kommunikationsdienste in herstellerneutraler Form beschreibt. Damit können neben den herstellerspezifischen Werkzeugen auch Tools von Drittherstellern für Engineering, Prüfung, Inbetriebnahme und laufende Wartung der Anlagen eingesetzt werden.

Schaltverriegelung im Unterwerk

Die Verriegelung ist, neben der Fernsteuerung und -überwachung der Anlage, eine Standardfunktion, die in beinahe jeder Stationsleittechnik zu finden ist. Mit der Befehlsverriegelung wird sichergestellt, dass die Steuerung eines Betriebsmittels zu keiner Beschädigung der elektrischen Betriebsmittel oder Gefährdung von Personen führt. Die Verriegelung verhindert beispielsweise das Öffnen eines Trenners unter Last. Welche Betriebsmittel dabei wie zu verriegeln sind, wird oft vom Betreiber der Schaltanlage in Form eines Verriegelungskonzepts vorgegeben. Dabei spielen nicht nur die spezifischen Eigenschaften der Schalter, sondern auch betriebliche Vorgaben eine Rolle. So darf etwa meist nur in der Betriebsart «Fern» von der Leitstelle geschaltet werden (Schalthierarchie) und es müssen alle weiteren Befehle gesperrt sein, solange eine Schalthandlung nicht eindeutig beendet ist (1-aus-n Verriegelung).

Implementierung in der digitalen Stationsleittechnik

Über viele Jahre wurde in Unterwerken die Verriegelungsfunktion mit Relaistechnik in den jeweiligen (Feld)steuerschränken aufgebaut. Diverse Meldungen wie «Sammelschiene geerdet» oder «Schalthandlung läuft» müssen dabei zwischen den einzelnen Feldern real verdrahtet werden – eine aufwendige Lösung, speziell bei Anlagen mit mehreren Sammelschienen. Mit der IEC 61850 steht hierfür eine elegantere und kostengünstige Lösung zur Verfügung: Die erforderlichen Signale, wie für die Schalterstellungen, werden mittels GOOSE ausgetauscht und die Berechnung der Freigabeinformation zum Beispiel mittels Funktionsplan nach IEC 61131-3 implementiert. Im Laufe der Zeit haben sich dazu folgende Konzepte herausgebildet:

  • Zentral: Komplette Verriegelung in einer Zentraleinheit (zum Beispiel im Fernwirkgerät). Alle Freigabeinformationen werden zentral in einem Gerät berechnet und an die entsprechenden Feldgeräte geschickt. Dieses Konzept ist einfach und übersichtlich, bedeutet aber keine Verriegelung bei einem Ausfall der Zentraleinheit.
  • Dezentral: Verriegelung, verteilt in jedem Feldgerät. Jedes Feldleitgerät verarbeitet alle notwendigen Schalterpositionen der anderen Felder und berechnet damit die Freigabeinformation der Schaltbefehle in seinem Feld. Nachteil: komplex, bei Erweiterungen der Anlage müssen alle Feldgeräte aktualisiert werden.
  • Gemischt: Die feldbezogenen Verriegelungen werden im jeweiligen Feldgerät realisiert. Zudem errechnet ein zentrales Gerät (Stationszentrale) die feldübergreifenden Verriegelungen für jedes Feldgerät (Einstiegsbild). Die Feldgeräte senden dazu mittels GOOSE ihre Schalterstellungen an die Stationszentrale, diese berechnet topologische Informationen wie «Sammelschiene 1 geerdet» und schickt diese per GOOSE an die Feldgeräte, wo die eigentlichen Befehlsfreigaben gebildet werden. Vorteile: Bei Ausfall des zentralen Gerätes bleiben die feldbezogenen Verriegelungen weiter verfügbar und bei Anlagenerweiterungen sind die bestehenden Feldgeräte nicht betroffen.

 

Besonders die Frage, ob man bei einer Erweiterung der Anlage alle vorhandenen Feldgeräte umparametrieren und daher die komplette Anlage wieder neu in Betrieb nehmen muss, hat bisher viele Betreiber davon abgehalten, anlagenübergreifende Verriegelungen mittels GOOSE anstelle einer konventionellen Verdrahtung umzusetzen. Die Implementierung «gemischt» erlaubt also prinzipiell die spätere Erweiterung ohne neuerliche Prüfung der bestehenden Felder und – beim Einsatz moderner Prüfwerkzeuge wie Omicron StationScout – auch im laufenden Betrieb. Zusätzlich ist es sinnvoll, eine künftige Anlagenerweiterung bereits in der Erstparametrierung der Anlage vorzusehen

Erweiterung im laufenden Betrieb

Muss nun eine bestehende Schaltanlage erweitert werden, soll das idealerweise ohne Unterbrechung der vom Unterwerk versorgten Kunden geschehen. Damit stellt sich die Frage, wie die neuen Felder eingebunden und geprüft werden können, ohne die bestehenden Feldleitgeräte neu laden und daher nochmals prüfen zu müssen. Eine ähnliche Situation ergibt sich auch bei Erneuerung der Sekundärtechnik in einem bestehenden Unterwerk. Auch hier müssen die neuen Schutz- und Leittechnikgeräte häufig Feld für Feld im laufenden Betrieb und ohne Beeinträchtigung der bereits umgebauten Felder geprüft und in Betrieb genommen werden.

Eine mögliche und in der Praxis bereits bewährte Vorgehensweise wird am Beispiel der Erweiterung einer Mittelspannungsanlage um eine neue Sammelschienensektion dargestellt:

  • Die Parameter und Anlagenbilder der bestehenden Lokalsteuerung, des Fernwirk-Gateways und der Stationszentrale werden um die neuen Felder erweitert. Die bestehenden Feldleit- und Schutzgeräte bleiben davon unberührt. Die Kombigeräte für die neuen Felder werden parametriert und eine neue SCD-Datei der gesamten Anlage erstellt.
  • Die neue Schaltanlagensektion wird zusammen mit den Kombigeräten im Unterwerk montiert und (noch ohne Einbindung in die Bestandsanlage) geprüft. Zuerst wird der Datenaustausch mit der bestehenden Sekundärtechnik mittels Simulation der betroffenen Komponenten (Gateway, Stationsverriegelung, ggf. andere Felder) mit einer modernen Prüflösung wie Omicron StationScout komplett vorgetestet (Bild 1). Basis dafür ist die SCD-Datei der erweiterten Stationsleittechnik, welche die angepassten Bestandskomponenten sowie die neuen Feldgeräte mit allen Signalen und Kommunikationsdiensten beschreibt.
    Die Schutz- und Leittechnikfunktionen der neuen Kombigeräte können ohne Einfluss auf die bestehenden Anlagenteile geprüft werden: Mit StationScout wird getestet, ob alle notwendigen Signale korrekt an die Lokalsteuerung, an das Fernwirkgateway und die Stationszentrale gesendet werden. Der Prüftechniker simuliert mit diesem Tool auch die entsprechenden topologischen Informationen der Stationszentrale. In der grafischen Oberfläche werden die in den Feldgeräten berechneten Verriegelungszustände visualisiert und geprüft. Mittels der Befehlsgabefunktion in StationScout lässt sich auch die korrekte Ausführung jedes Schaltbefehls prüfen – all das, ohne die Funktion der bestehenden Leittechnik zu beeinträchtigen.
  • Im nächsten Schritt werden die bestehende Lokalsteuerung, das Fernwirkgateway und die Stationszentrale mit den neuen Parametern für die erweiterte Anlage geladen. Jetzt können mit StationScout die Kombigeräte der neuen Felder simuliert (Bild 2) und damit die erweiterten Anlagenbilder, Ereignislisten, Alarmlisten, Archive etc. sowohl in der Lokalsteuerung als auch in der Leitstelle auf Einzelsignalebene überprüft werden (Bild 3). Gleichzeitig wird mittels Simulation diverser Schaltzustände der neuen Felder die korrekte Berechnung der Stationsverriegelung in der Stationszentrale geprüft, ohne dass in der neuen Mittelspannungsanlage ein Schaltgerät betätigt werden muss.
  • Nachdem sowohl die neuen Kombigeräte als auch die aktualisierte Bestandsanlage erfolgreich getestet wurden, können nun die beiden Anlagenteile verbunden und das Zusammenspiel der bestehenden und der neuen Komponenten geprüft werden. StationScout unterstützt hier bei der Signalverfolgung und bei der Suche nach eventuell noch vorhandenen Fehlerursachen, wie falscher Zeitsynchronisierung oder anderer Parametrierfehler (Einstiegsbild).

Fazit

Die hier beschriebene Prüflösung, zusammen mit einer vorausschauenden Implementierung der Verriegelungsfunktionen, erlaubt eine Erweiterung der Schaltanlage im laufenden Betrieb. Ohne Änderung der Parametrierung und folglich erneuter Prüfung der bestehenden Feldgeräte kann damit im Unterwerk das Potenzial der IEC 61850 vollständig ausgeschöpft werden.

Referenz

[1] IEC 61850-1 Ed. 2: 2013 Communication networks and systems for power utility automation – Part 1: Introduction and overview

Autor
Christian Brauner

ist Mitarbeiter im Team Power Utility Communication von Omicron Electronics GmbH.

  • Omicron Electronics GmbH, AT-6833 Klaus

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