Fachartikel ICT , Messtechnik , Mobilität

Künstliche Intelligenz auf Schienen

Deep Learning sorgt für Sicherheit

02.09.2019

Um die Funktionsfähigkeit ihrer Infrastruktur sowie die Sicherheit der Fahrgäste und des Personals sicherzustellen, setzen die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) unter anderem spezielle Diagnosezüge ein. Mehrere Kameras auf diesen Zügen nehmen Bilder der Gleise auf. Um die Bilder optimal auswerten zu können, setzen die SBB auf künstliche Intelligenz und arbeiten eng mit dem CSEM zusammen.

Das Rückgrat der Eisenbahn sind die Schienen. Sie liegen jahrzehntelang im Gleisbett und werden jeden Tag arg strapaziert: nicht nur von Personenzügen in unterschiedlichen Grössen und mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten, sondern auch von tonnenschweren Güterzügen. Die Division Infrastruktur der SBB betreibt in der Schweiz ein Streckennetz von rund 3000 km Länge mit teils mehrspurigen Gleisen.

Der Aufwand, um die Kunden sicher von A nach B zu bringen, ist enorm. Trotz dieser schwierigen Aufgabe erreichen die SBB die beste Kundenpünktlichkeit im europäischen Vergleich von über 90%.

Täglich gehen Mitarbeiter der SBB den Gleisen entlang und überprüfen den Fahrweg visuell auf mögliche Abweichungen (Bild 1). Dadurch wird unter anderem der Zustand der Gleise überprüft und Defekte frühzeitig erkannt. Rund 50 Mitarbeiter sind für das komplette Schienennetz verantwortlich und inspizieren die Fahrweginfrastruktur auf über 250 mögliche Fehlerarten. Zusammen ergibt dies pro Jahr etwa 23'000 bestätigte Auffälligkeiten, von denen die meisten unkritisch sind. Diese werden anhand ihres Schweregrades klassifiziert, und entsprechende Massnahmen werden eingeleitet.

Für eine effiziente Beurteilung nutzen die Streckeninspektoren idealerweise Tageslicht. Da die Züge in einem immer höheren Takt fahren, wird die Inspektion für die Mitarbeiter besonders während der Stosszeiten immer anspruchsvoller. Auf Strecken mit erhöhter Geschwindigkeit, wie der Neubaustrecke sowie dem neuen Gotthardbasistunnel, ist die manuelle Streckeninspektion während dem laufenden Betrieb nicht gestattet. Ausserdem braucht es sehr grosse Erfahrung, um die Auffälligkeiten korrekt beurteilen zu können. Aus diesen Gründen sowie zur Steigerung der Effizienz setzen die SBB seit einigen Jahren neben den menschlichen Streckeninspektoren spezielle Messzüge ein, sogenannte Diagnosefahrzeuge (DFZ), die vollgepackt mit neuster Kamera- und Messtechnologie sind.

Die Qualität der automatischen Auswertung ist hier noch nicht so weit ausgereift wie die Analyse durch einen menschlichen Experten, und bedarf heute noch der manuellen Nachprüfung der Daten. Wie bringt man nun die Erfahrung der Experten in eine robuste Software?

Diagnosefahrzeug-Typen

Die SBB betreiben aktuell zwei unterschiedliche Diagnosefahrzeuge (Bild 2): ein selbstfahrendes (DFZ) und ein gezogenes (gDFZ) mit je bis zu 18 Hochleistungskameras. Mit Geschwindigkeiten von bis zu 200 km/h fahren die Systeme über die Schienen und führen dabei Messungen an Schotterbett, Gleiskonstruktion, Fahrleitungen und Tunnelbauten aus. Alle Daten werden in vollem Tempo gespeichert und können bei Bedarf auch zur Prüfung live im Messzug dargestellt werden (Bild 3). So kommen etwa 10 GB Daten pro Kilometer zusammen. Diese Datenmenge entspricht etwa 5 Millionen Buchseiten Text – für jeden Kilometer. Die Speicherung und Verarbeitung solcher gewaltigen Datenmengen fällt unter «Big Data».

Daten

Bisher wurden diese Datenmengen mit klassischen Ansätzen ausgewertet. Diese liefern jedoch zu viele falsche Befunde. Eine Herausforderung gegenüber der Qualitätskontrolle in der industriellen Produktion liegt in der enormen Variation. Die Schienen liegen in der freien Natur und sind damit allen Umwelteinflüssen ausgesetzt:

  • Wetter: Regen, Schnee, Matsch, Vereisung
  • Umgebung: Tunnel, Bahnhof, Stadt, Wald, Brücke
  • Artefakte: Dreck, Tierkot, Pflanzen, weggeworfene Kaugummis oder Zigarettenstummel
  • Typen: unterschiedliche Gleisgeometrien, Weichen, Profil.

Die Entwicklung eines klassischen Algorithmus zur Auswertung all dieser Variationen ist praktisch unmöglich. Solche Algorithmen können zwar leicht verstanden werden und sind sehr leistungsfähig im Umgang mit numerischen Daten. Jedoch gibt es im Fall von Defekten auf der Schienenoberfläche keine klaren numerischen Beschreibungen, denn Form, Textur oder Schattierung der Defekte sind jedes Mal unterschiedlich. Ein menschlicher Experte kann damit noch sehr gut umgehen, er braucht kein mathematisches Modell, um einen Defekt zu erkennen. Er hat sich über viele Jahre die notwendige Erfahrung angeeignet, welche ihm hilft, die Klassifizierung sicher vorzunehmen. Genau hier kommt Deep Learning ins Spiel.

Deep Learning

Deep Learning ist eine Domäne der Artificial Intelligence (AI, Künstliche Intelligenz). Es werden grosse (tiefe) neuronale Netzwerke trainiert, die Lernmethoden imitieren dabei die Funktionsweise des menschlichen Gehirns. Deep Learning ermöglicht, das Wissen und die Erfahrung eines Experten in Software zu übertragen. Das erfordert grosse Mengen (100 bis 10'000 Bilder) von gekennzeichneten Daten – das heisst von Experten beurteilte und markierte Bilder. Der grosse Vorteil ist, dass der Algorithmus selbst identifiziert, welches die wichtigen Merkmale sind und so das beste mathematische Modell automatisch festlegt: Der Algorithmus baut sich seine eigene Erfahrung auf.

Hierfür hat das CSEM, ein schweizerisches Forschungs- und Entwicklungs-Zentrum, für die SBB eine neue Software entwickelt, welche bezüglich der hohen Qualitätsanforderungen richtungsweisend ist. Diese besteht aus mehreren Modulen (Bild 4):

  • Vorverarbeitung und Clustering
  • Detektion von Auffälligkeiten
  • Klassifikation
  • Fingerprinting
  • Kontinuierliche Verbesserungen durch Einbinden von Experten (Life-Long Learning)

Eine der grössten Herausforderungen besteht darin, dass nur relativ wenige Trainingsdaten zur Verfügung stehen und es bei bestimmten Fehlerkategorien selbst für Experten sehr schwierig ist, eine eindeutige Klassifizierung vornehmen zu können. Um das Wissen und die Erfahrung der SBB-Experten möglichst einfach abbilden zu können, wurden spezielle Werkzeuge entwickelt. Diese erlaubten es in kurzer Zeit, die Datenbasis zu verzehnfachen und die Einschätzungen der Experten untereinander abzugleichen. Alle Grenzfälle wurden im Team besprochen und erst danach bewertet. Dieser wichtige Schritt zeigt, dass es auch bei der Anwendung neuster Technologien den Menschen als letzte Instanz braucht.

Vorverarbeitung und Clustering

Alle Messdaten werden vom Zug auf eine zentrale Datenbank der SBB übertragen und in ein spezifisches SBB-Dateiformat konvertiert. Die SBB können so verschiedene, von der Quelle unabhängige Daten parallel darstellen. So können neben den Daten von den Diagnosefahrzeugen auch Daten von Drohnen, Fotos von Experten oder Messdaten aus dem Labor miteinander kombiniert und weitere Datenkorellationen ermöglicht werden. Liegen die Bilddaten auf dem Server, werden sie in einem ersten Schritt durch verschiedene Filter vorverarbeitet, normalisiert und in einzelne Klassen aufgeteilt (Clustering).

Detektion von Auffälligkeiten

In einem nächsten Schritt wird nach Auffälligkeiten (Anomalien) gesucht. Anomalien sind alles, was auch einem nicht geschulten Menschen auf einer Schiene beim Betrachten auffallen würde – Dreck, Blätter, Kaugummis, Defekte, Schweissnähte usw. Um sicherzustellen, dass kein Fehler übersehen wird, tendieren diese Algorithmen dazu, zu viele Auffälligkeiten zu detektieren. Sie können dafür mit einer nahezu unendlichen Variation umgehen und auch unbekannte Fehler zuverlässig erkennen. Um die Anzahl der Alarme tief zu halten, wird der folgende Schritt benötigt.

Klassifikation

Um echte Defekte von unkritischen Fahrbahnzuständen zu unterscheiden, ist eine exakte Klassifikation nötig. In dem Projekt werden sechs verschiedene Klassen unterschieden. Von «keine Gefahr» (Kaugummi, Vogeldreck) zu den heikelsten Fehlern, den sogenannten Squats (Bild 5). Diese Defekte sind an der Oberfläche nur sehr schwer zu erkennen: Analog einem Zahn mit Karies entsteht im Inneren ein Hohlraum, der sich immer tiefer in die Schiene hineinfrisst. Der grosse Unterschied zu klassischen Algorithmen liegt in der Klassifizierung von Objekttypen mit hoher intrinsischer Varianz. Für gute Resultate wurde über Monate sehr eng mit den Experten der SBB zusammengearbeitet. Erst dank ihrem Wissen konnte ein neuronales Netzwerk für die Klassifizierung erfolgreich trainiert werden.

Fingerprinting

Der Algorithmus kann bereits sehr zuverlässig Schäden von Artefakten auf den Gleisen unterscheiden und klassifizieren. Das Gleisnetz ist sicherheitsrelevant und unterliegt strikten Vorschriften. Deshalb können sich die SBB nicht ausschliesslich auf einen Algorithmus verlassen. Die finale Entscheidung, ob und wann ein Defekt vor Ort geprüft und repariert werden soll, bleibt bei den Streckeninspektoren.

Je nach Streckenabschnitt kommen die Diagnosefahrzeuge alle 14 Tage zum Einsatz. Hierbei werden immer wieder die gleichen Auffälligkeiten gefunden – die dann erneut durch einen Experten bewertet werden müssten und Zusatzaufwand generieren. Viele Auffälligkeiten entwickeln sich nur sehr langsam über die Zeit zu Defekten, so dass von der Entdeckung bis hin zur Reparatur, bei Defekten mit geringer Kritikalität, bis zu sechs Monate vergehen können. Während dieser Zeit ist der Defekt bereits im Instandhaltesystem registriert und sollte, bis zur gebündelten Behebung «optimierte Instandhaltung» mit anderen Defekten, nicht immer wieder als neuer Fehler bei der Auswertung auftauchen. Dazu wurde das Fingerprinting entwickelt. Das Ziel ist die Verfolgung von Defekten über die Zeit. Erkennt die AI einen Defekt, wird ein Fingerabdruck berechnet, der den Defekt eindeutig kennzeichnet. Fahren die Diagnosefahrzeuge später wieder über diesen Fehler, kann anhand des Fingerabdrucks der Defekt einem bereits bekannten Defekt eindeutig zugeordnet werden. Dadurch ergibt sich für jeden Defekt ein zeitlicher Verlauf – die Historie des Defektes (Bild 6). Die Zuordnung funktioniert zudem ohne hochgenaue Lokalisierung des Fahrzeugs auf der Schiene (GPS funktioniert nicht im Tunnel) sowie bei lokal ändernden Umgebungsmerkmalen. Besonders durch temperaturbedingte Ausdehnungen können sich das Gleisbett und die relative Position eines Fehlers zu dem umliegenden Gestein oder den Gleisklammern verändern (Bild 7). Dies wird durch Deep-Learning-Techniken ermöglicht.

Life-Long Learning

Der Mensch lernt durch seine Sinne jeden Tag etwas Neues hinzu und erweitert damit kontinuierlich seinen Wissensschatz. Das gleiche Verhalten wünschen wir uns von künstlicher Intelligenz. Der Experte wird daher auch in Zukunft gebraucht: Er fungiert als Lehrer in dem kontinuierlichen Prozess, um die Sicherheit und Zuverlässigkeit auf der Schiene zu gewährleisten. Nur dank seiner Erfahrung kann die Software stetig dazulernen und auf neu auftretende Defekte reagieren. Es entsteht eine regelrechte Symbiose zwischen Mensch und Maschine. Die AI kann nicht nur Wissen aufbauen, sondern auch transferieren. So werden die entwickelten neuronalen Netzwerke bereits heute bei den SBB für die Ausbildung der jungen Streckeninspektoren verwendet, indem der Computer den Lernenden zeigt, was Defekte sind, und die Grenzfälle aufzeigt, wo sich selbst die Experten nicht ganz einig sind.

Resultate

Das Projekt läuft seit zwei Jahren und ist nun in der entscheidenden Evaluationsphase. Die Verifizierung und statistische Auswertung der Algorithmen ist herausfordernd. Es wurde eine Teststrecke bestimmt, auf welcher durch mehrere Testfahrten mit den Diagnosefahrzeugen umfangreiche Daten aufgenommen wurden. Dieselbe Strecke wurde von mehreren Streckeninspektoren unabhängig beurteilt. Die neue Deep-Learning-Software musste gegen klassische Algorithmen antreten, die seit über zehn Jahren verfeinert werden und weltweit im Einsatz stehen. Die CSEM-Lösung verbessert die Erkennungsrate um den Faktor 10 und reduziert dabei die Fehlalarme (False-Positives) um 50% im freien Gelände und um 95% in Tunnels. Diese ausgezeichneten Resultate wurden ohne Optimierung des neuronalen Netzwerks erreicht. Dies wird nun in der nächsten Phase mit vielen Daten direkt vom Feld nahezu automatisch verfeinert.

Ausblick

Dank den Diagnosefahrzeugen werden die vermessenen Streckenkilometer um ein Mehrfaches innert wenigen Jahren erhöht. Um diese Datenflut meistern zu können, braucht es Software wie die von CSEM. Heute ist die Gleiskontrolle traditionell reaktiv. Erst wenn ein Fehler erkannt wird, kann er auch repariert werden. Je nach Schwere des Defekts muss dazu eine Strecke kurzfristig gesperrt werden.

Die Hoffnung ist, dass die Wartung von schadhaften Stellen in Zukunft dank dem automatischen Erkennen und dem Fingerprinting bereits im Voraus geplant und damit das Systemverständnis hinsichtlich den Zusammenhängen der Infrastruktur und der Schadensentwicklung weiter gesteigert werden kann. Das ultimative Ziel wäre es, diese Software in einem Echtzeit-Bordüberwachungssystem in jedem Zug (On-Board Monitoring) zu betreiben.

Autor
Philipp Schmid

ist Head Research and Business Develop­ment Industry 4.0 & Machine Learning.

  • CSEM
    6055 Alpnach
Autor
Joël Casutt

ist Leiter Technologie und Entwicklung im Bereich Mess- und Diagnosetechnik bei den SBB.

Autor
Marcel Zurkirchen

ist Leiter Mess- und Diagnosetechnik bei den SBB.

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