Kommt das autonome Fahren?
Automatisierte Mobilität
Strassenverkehr ohne menschliche Lenker bietet viele potenzielle Vorteile – doch der Weg ist steiniger als gedacht. Besonders die Übergangsphase mit Mischverkehr ist anspruchsvoll.
Die World Health Organisation (WHO) schätzt, dass jedes Jahr 1,3 Millionen Menschen im Strassenverkehr an der Folge von Verkehrsunfällen ihr Leben verlieren. Studien berichten, dass in rund 95% aller Verkehrsunfälle menschliches Fehlverhalten eine Rolle spielt. Autonome Fahrzeuge könnten diesen Faktor eliminieren – und noch viel mehr: Sie könnten das tägliche Pendeln komfortabler machen, unsere Beziehung zu Autos neu definieren, älteren und behinderten Personen mehr Mobilität ermöglichen, die Ausnutzung von Verkehrsfläche verbessern, Emissionen vermindern und Gütertransporte vereinfachen.
Trotzdem ist es in den letzten Jahren um das Thema ruhiger geworden. Es stellte sich heraus, dass die technischen Herausforderungen doch grösser sind als angenommen. Versprechungen verschiedener Automarken wie Tesla, Toyota, General Motors und Honda, dass sie bis zum Jahr 2020 die ersten selbstfahrenden Fahrzeuge auf den Markt bringen wollen, scheinen auf unbestimmte Zeit in die Zukunft verbannt.
Es gab aber keinen kompletten Stillstand: Fahrzeuge mit Bremsassistenten, Spurhaltesystem und Tempomaten gibt es zahlreiche auf dem Markt. Im Dezember 2021 gab die Mercedes-Benz AG zudem bekannt, dass sie vom deutschen Kraftfahrt-Bundesamt die weltweit erste international gültige Systemzulassung für das bedingt automatisierte Fahren erhalten hat. Das entspricht einem Fahrzeug der Stufe 3. Mit der Zulassung können Kunden bald ein Fahrzeug mit «Drive Pilot»-Systemen kaufen, die das Auto bei Geschwindigkeiten von bis zu 60 km/h bei dichtem Verkehr oder in Stausituationen auf geeigneten Autobahnabschnitten in Deutschland alles machen lassen.
Wirklich selbstfahrende Fahrzeuge sind aber immer noch erst in Pilotprogrammen zu finden. Die Schweiz hat bereits mehrere Versuche zu selbstfahrenden Kleinbussen, etwa in Bern, Zug, Schaffhausen, Genf oder Sion, zugelassen (siehe den Artikel von Markus Riederer in dieser Ausgabe). Sie wirken als Shuttles oder Transportfahrzeuge. Das Fazit aus den Projekten ist gemischt: Zwar können die Fahrzeuge präzise und zuverlässig manövrieren – aber sobald es darum geht, sich in den Fliessverkehr einer Stadt einzureihen, stossen sie an ihre Grenzen.
Amerika ist bereits eine Stufe weiter. Die Alphabet-Tochter Waymo schickt beispielsweise seit August 2021 ihre Robotaxis auf die Strassen von San Francisco. Passagiere können die selbstfahrenden Elektro-SUVs via App rufen – aber auch hier immer noch im Rahmen eines Testprogramms und mit einem Sicherheitsfahrer, der im Notfall eingreifen kann.
Es gibt also Fortschritte – doch von einem echten autonomen Verkehr mit Fahrzeugen der Stufe 5 sind wir noch mehrere Jahre weg.
Die autonome Mobilität fördern
Im Juli 2021 wurde der Schweizer Verband für autonome Mobilität gegründet, der Swiss Association für Autonomous Mobility (SAAM). Dahinter steckt eine breite Trägerschaft aus Wirtschaft, Forschung, öffentlichem Verkehr, Behörden und dem Technologiebereich. Ihr Ziel: Aus der Schweiz soll ein Pionierland für effiziente und autonome Mobilität werden. Dazu wollen sie ein Netzwerk aufbauen, den Austausch von Forschungs- und Entwicklungsergebnissen in der Schweiz sicherstellen und innovative Ideen im Mobilitätsbereich fördern.
Der Forschungsbedarf ist noch auf allen Ebenen gross: Von der Fahrzeugausstattung über die Vernetzung und die Infrastruktur bis hin zu Verkehrsmodellen und rechtlichen Fragen.
Die Herausforderungen beginnen beim Fahrzeug selbst, und zwar bei den Sensoren. Autonome Autos kombinieren unterschiedliche Sensoren, um Objekte wie Fussgänger, andere Fahrzeuge oder Verkehrssignale zu erkennen. Kameras helfen, die Umgebung wahrzunehmen. Lidar-Sensoren nutzen gepulste Laser, um Distanzen zu erkennen und ein dreidimensionales Abbild der Umgebung zu erzeugen. Radarsensoren wiederum tracken Geschwindigkeit und Richtung von Objekten.
Es ist also zwingend, dass diese Sensoren immer zuverlässig funktionieren: Bei Schneestürmen oder dickem Smog, bei gleissendem Licht und in der Nacht, bei dichtem Verkehr und bei mit Graffiti dekorierten Stoppschildern. Doch was geschieht, wenn die Sensoren altern? Wann müssen sie ausgetauscht werden? Ein Forschungsprojekt der Empa [1] setzt sich genau mit dieser Frage auseinander: «Wir untersuchen, wie diese Sensoren bei unterschiedlichen Umgebungsbedingungen arbeiten, welche Daten sie sammeln und wann sie Fehler machen oder gar ausfallen», erklärt Forscherin Miriam Elser. «Jeder menschliche Fahrer muss einen Sehtest bestehen, bevor er eine Fahrerlaubnis erhält. Wir wollen einen Sehtest für autonome Fahrzeuge entwickeln, damit man ihnen auch dann noch trauen kann, wenn sie schon mehrere Jahre alt sind und Tausende Kilometer auf dem Buckel haben.»
Wie verhält sich ein Mensch?
Der nächste Knackpunkt ist die Verarbeitung der Sensordaten. Denn ein selbstfahrendes Fahrzeug muss sozusagen aus den Daten die Zukunft berechnen. Das wäre schwierig genug, wenn sich alle Verkehrsteilnehmer immer genau an die Regeln halten würden.
Aber sobald der nicht immer rationale Faktor Mensch in die Situation hineinfliesst, wird es sehr komplex. Wie verhält sich der Fussgänger, der zurzeit am Fussgängerstreifen steht? Überholt der Lenker, der sich von hinten nähert, oder fährt er auf? Biegt der Velofahrer ab, obwohl er nicht signalisiert hat? Ein Mensch beurteilt solche Situationen intuitiv aus seinen Erfahrungen und seiner sozialen Intelligenz und handelt entsprechend. Doch wie bringt man einem Computer Intuition bei?
Alexandre Alahi, Assistenzprofessor für visuelle Intelligenz für Transport an der EPFL Lausanne, forscht an sozial bewusster künstlicher Intelligenz – also Systeme, die beispielsweise das Verhalten von Fussgängern voraussagen können. Seine Forschungsgruppe befasst sich mit den drei Phasen eines sozial bewussten KI-Systems: Die erste ist die Wahrnehmung, also das Erkennen und Klassifizieren der Aktivitäten von Verkehrsteilnehmern; die zweite ist die Vorhersage, wie sie sich als Nächstes bewegen; und die dritte ist die Planung einer Reihe von entsprechenden Aktionen. Das System nutzt die Methoden von Deep Learning, um riesige Mengen an Daten zu klassifizieren. Daraus soll es in der Lage sein, anhand von subtilen Signalen das Verhalten eines Passanten zu antizipieren – genau wie ein menschlicher Fahrer.
Wenn das Auto mit der Ampel spricht
Der nächste Schritt: Die Fahrzeuge können sich untereinander und mit der Umgebung vernetzen. Vehicle-to-everything oder V2X. Zum Beispiel muss so das Fahrzeug nicht via Kamera erkennen, ob die Ampel rot ist, sondern die Ampel sendet direkt ein Signal. Die Anforderungen an die Kommunikationstechnologie sind hoch: hohe Bandbreite, geringe Latenz, höchste Zuverlässigkeit. Gleichzeitig öffnet sich eine Büchse der Pandora – die Cybersecurity. Es muss sichergestellt werden, dass die Datenübertragung nicht gestört oder gar manipuliert werden kann. Nicht zuletzt wird ein internationaler V2X-Kommunikations-standard nötig, damit der Verkehr auch grenzüberschreitend weiter funktioniert. Zwei Technologien stehen im Moment hauptsächlich zur Diskussion, die noch dazu untereinander nicht kompatibel sind: Der WLAN-Standard IEEE 802.11p (WLANp), der speziell für Autos entwickelt wurde, sowie die auf LTE und 5G basierende Mobilfunktechnik Cellular Vehicle-to-Everything (C-V2X). International stehen die Zeichen zurzeit günstiger für C-V2X: China und die USA setzen auf die Technologie, während sich die EU noch unentschlossen gibt.
Wenn ein Standard gefunden ist, bedeutet dies auch riesige Investitionen in die Infrastruktur. Das Netz darf keine Lücken aufweisen. Alles muss vernetzt werden: Ampeln, Kreuzungen, Baustellen. Um die schwächeren Verkehrsteilnehmer wie Fussgänger oder Velofahrer zu schützen, könnten auch strassenbasierte Sensoren und Detektoren zum Einsatz kommen, die ein Fahrzeug vor Personen warnen, die beispielsweise für die Fahrzeugsensoren nicht sichtbar sind.
Vom Labor in die echte Welt
Nehmen wir an, die technischen Herausforderungen sind gelöst, und erste autonome Fahrzeuge kommen auf den Markt. Was ändert sich konkret auf den Strassen? Diese Frage interessiert das Bundesamt für Strassen, Astra. Es hat von 2017 bis 2020 in seinem Forschungspaket «Auswirkungen des automatisierten Fahrens» untersucht, welche Chancen und Risiken die autonome Mobilität bietet. Das Fazit des Schlussberichts [2] ist spannend: Dass das automatisierte Fahren die Mobilität der Zukunft radikal verändern wird, ist unbestritten. Doch ob dabei die Chancen oder die Risiken überwiegen, hängt laut den Forschenden vor allem davon ab, ob die Fahrzeuge kollektiv oder individuell genutzt werden.
Denn die automatisierten Fahrzeuge sind für die Nutzer sehr attraktiv: Die Vorteile des öffentlichen Verkehrs, wie etwa auf dem Arbeitsweg in Ruhe Zeitung lesen zu können, kombiniert mit den Vorteilen des Individualverkehrs – flexibel und bequem. Bei voll automatisierten Taxis fallen zudem Kosten des menschlichen Fahrers weg – die Preise für eine Taxifahrt werden also voraussichtlich sinken.
Wie kann man also verhindern, dass der Individualverkehr so massiv zunimmt, bis er die Strassen komplett verstopft? Klar ist, ohne Lenkung geht es wohl nicht.
Das Astra will künftig auf zwei Instrumente setzen: Einerseits muss die kollektive Nutzung autonomer Fahrzeuge gefördert werden. Dazu gehören Sharing-Modelle, aber auch Pooling von Reisenden, um die Fahrzeuge besser auszulasten. Zusätzlich zum individuellen oder klassischen öffentlichen Verkehr könnte also eine Art «kommerzieller kollektiver Verkehr» als dritte Verkehrsart entstehen. Andererseits müssen Instrumente entwickelt werden, die den Verkehr lenken – also beispielsweise Mobility Pricing, das den Verkehr weg von den Stosszeiten und Richtung kollektive Angebote lenkt.
Eine lange Phase des Mischverkehrs
Eine weitere überraschende Erkenntnis: Die Flottendurchdringung dauert länger als erwartet. Die Studie kommt zum Schluss, dass wohl auch im Jahr 2050 noch 40 bis 70% der Fahrzeuge auf den Schweizer Strassen von Hand gelenkt werden.
Diese Phase des Mischverkehrs aus konventionellen und unterschiedlich stark automatisierten Fahrzeugen könnte besonders herausfordernd sein. Die Vorteile einer voll automatisierten Flotte können noch nicht voll ausgenützt werden – etwa verringerte Fahrzeugabstände auf Autobahnen. Die Kapazität vorhandener Strassen könnte sich sogar vorübergehend verringern, da die automatisierten Fahrzeuge sich im Mischverkehr regelkonformer verhalten als menschliche Lenker.
Das Astra erwartet auch einen negativen Einfluss auf die Verkehrssicherheit durch die neu entstehenden Unsicherheiten in der Kommunikation. Ein Ziel muss also auch sein, dass diese anspruchsvolle Übergangsphase des Mischverkehrs so kurz wie möglich gehalten wird. Ein möglicher Weg dahin könnte sein, einen möglichst hohen Anteil der neu zugelassenen Fahrzeuge aus intensiv genutzten automatisierten Sharing-Fahrzeugen zu erreichen. Diese müssten dann aber auch möglichst viele konventionelle und individuell genutzte Fahrzeuge ersetzen. Kein einfach zu erreichender Vorsatz.
Die Akzeptanz steigern
Ein nicht zu unterschätzender Faktor beim Thema Marktdurchdringung ist die Akzeptanz bei den Nutzern, speziell, wenn es um die Sicherheit geht. Wann auch immer ein Unfall mit einem autonomen Fahrzeug geschieht, sorgt dies für Aufruhr – verständlicherweise.
Die Erfahrungswerte sind bereits beim heutigen Stand der Technik deutlich: In Kalifornien muss jede Firma, die autonome Fahrzeuge auf den Strassen testet, jede Kollision melden. Und es sieht auch hier nicht gut aus für den Faktor Mensch: Von den 187 gemeldeten Unfällen waren bei nur 83 zum Zeitpunkt des Unfalls das autonome System in Kontrolle, bei 104 hingegen ein Mensch. Und von den 83 Unfällen waren bei 81 Fremdverschulden der Grund – etwa Lenker eines anderen Fahrzeugs oder Fussgänger. Bei nur gerade zwei der Kollisionen war die Ursache Fehlverhalten des autonomen Systems.
Trotzdem: Die Kontrolle eines potenziell tödlichen Gefährts der Technologie zu überlassen, weckt Unbehagen. Beunruhigt zeigt sich etwa der Schweizerische Blinden- und Sehbehindertenverband SBV: Während autonome Fahrzeuge einerseits die Selbstständigkeit von Blinden und Sehbehinderten erhöhen könnte, sind die meist elektrisch betriebenen autonomen Fahrzeuge geräuschlos und damit für die betroffenen Personen unsichtbar. Da bleibt die bange Frage: Können die autonomen Fahrzeuge das Verhalten von sehbehinderten Passanten korrekt voraussagen? Damit der sichere, zuverlässige und bequeme Verkehr der Zukunft für alle Verkehrsteilnehmer Realität wird, braucht es immer noch einiges an Forschung und Entwicklung.
Referenzen
[1] Forschungsbericht «Automated Driving Sensor Testing Vehicle», Forschungsprojekt Astra 2019/004 auf Antrag des Bundesamtes für Strassen (Astra), Juli 2021.
[2] Forschungspaket «Auswirkungen des automatisierten Fahrens: Erkenntnisse und Massnahmen aus Sicht des Astra», Astra, 2020, Dokumenten-Nummer: FB 1691.
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