Keine Energiewende ohne die Wasserkraft
Energieperspektiven 2050+
Um das Klimaziel von netto null Emissionen bis 2050 zu erreichen, gewinnt die Wasserkraft in den Überlegungen des Bundes weiter an Bedeutung. Die Praxis zeigt momentan aber ein anderes Bild: Sowohl ökonomische Rahmenbedingungen als auch gesellschaftliche Widerstände sprechen gegen die Zielerreichung bei der Wasserkraft.
Ende November 2020 hat das Bundesamt für Energie einen Kurzbericht zu den Energieperspektiven 2050+ publiziert. Darin haben die Beratungsunternehmen Prognos, TEP, Infras und Ecoplan modelltechnisch das im August 2019 durch den Bundesrat für die Schweiz verabschiedete Klimaziel von netto null Emissionen bis zum Jahr 2050 abgebildet. Das Referenzszenario «Zero Basis» geht von einer «hohen und möglichst frühen Steigerung der Energieeffizienz sowie von einer deutlichen Elektrifizierung aus».[1] Verbleibende CO2-Emissionen sind durch negative Emissionstechnologien zu kompensieren. Als Vergleichsbasis wird das Szenario «Weiter wie bisher» betrachtet, das «die heute in Kraft gesetzten Instrumente der Energie- und Klimapolitik sowie die heutigen Marktbedingungen und sonstigen Rahmenbedingungen im Strommarkt» abbildet.[1]
Energie- und Stromverbrauch
Der Endenergieverbrauch im Szenario «Zero Basis» sinkt zwischen 2019 und 2050 um 31 % (Bild unten) bei einer gleichzeitigen Bevölkerungszunahme von 20 % und einem BIP-Wachstum von 38 %. In Pro-Kopf-Angaben ausgedrückt sinkt der Endenergieverbrauch von 88 GJ auf 51 GJ, was einer Abnahme um 42 % entspricht und damit 10 Prozentpunkte mehr sind als beim Szenario «Weiter wie bisher».
Der Anteil des Stroms am Endenergieverbrauch steigt von 27 % im Jahr 2019 auf 43 % im Jahr 2050 (Bild oben). Aufgrund der deutlichen Elektrifizierung wird Strom zukünftig auch zum zentralen Energieträger für Wärme und Mobilität, was zu einer Erhöhung des absoluten Endenergieverbrauchs an Elektrizität führen wird (Bild unten). Nebst dem Endenergieverbrauch an Elektrizität nimmt der Eigenverbrauch im Umwandlungssektor – Prozesse, bei denen Primärenergieträger in zentralisierten Anlagen für die Bedürfnisse Dritter in die jeweils gewünschten Energieformen umgewandelt und verteilt werden – durch den starken Ausbau von Grosswärmepumpen in Fernwärmenetzen und die inländische Produktion von Wasserstoff sowie zur Abscheidung und Speicherung von CO2 erheblich zu. Die als Landesverbrauch definierte Summe aus Endenergieverbrauch an Elektrizität, dem Eigenverbrauch im Umwandlungssektor und den auftretenden Verlusten der Übertragung steigt zwischen 2019 und 2050 um 24 %, was einem Pro-Kopf-Anstieg um 3 % entspricht. In der Botschaft zur Energiestrategie, die der Abstimmung zum Energiegesetz im Jahr 2017 zugrunde lag, ging man noch von einem Rückgang von 15 % pro Person aus.
Stromangebot
Die Sicherstellung des Stromangebots stellt eine erhebliche Herausforderung dar, denn nebst der erwarteten zusätzlichen Nachfrage fallen mit der Ausserbetriebnahme der Kernkraftwerke – im vorliegenden Bericht wird eine Betriebsdauer von 50 Jahren unterstellt – in den nächsten Jahrzehnten über 20 TWh weg, die es zusätzlich zu kompensieren gilt. In den Energieperspektiven 2050+ werden deshalb drei Strategievarianten für den Zubau der erneuerbaren Energien untersucht: «Aktuelle Rahmenbedingungen», die auf den heutigen Gesetzes- und Marktbedingungen beruhen, «Richtwerte/Ausbauziele» gemäss Ausbaurichtwerten im Energiegesetz sowie «Ausgeglichene Jahresbilanz 2050», die einen kontinuierlichen Ausbau anstrebt, sodass im Jahr 2050 die Schweiz in Summe den Strombedarf selber decken kann. Der Photovoltaik kommt erwartungsgemäss die grösste Bedeutung beim Zubau zu (Bild unten).
Mit der in den vorliegenden Modellrechnungen unterstellten Ausserbetriebnahme der Kernkraftwerke nach 50 Jahren zeichnet sich auf Jahresbasis in sämtlichen Strategievarianten eine erhebliche Stromlücke ab – definiert als Bruttoverbrauch, das heisst Landesverbrauch inklusive Verbrauch der Speicherpumpen, abzüglich Produktion aus Wasserkraft und anderen erneuerbaren Energien in der Schweiz –, die im Jahr 2035 in der Strategievariante «ausgeglichene Jahresbilanz» bei 13 TWh liegen wird. Der Importsaldo für das Winterhalbjahr wird im Jahr 2035 bei dieser Variante sogar 15 TWh betragen.
Wasserkraft
Im Szenario «Zero Basis» werden für die Wasserkraft optimierte Nutzungsbedingungen unterstellt. Darunter «versteht das BFE Änderungen der bestehenden Rahmenbedingungen, welche einen zusätzlichen, moderaten Ausbau der Wasserkraft ermöglichen, ohne die Vorgaben der Bundesverfassung bezüglich Nachhaltigkeit und Schutz der Umwelt zu verletzen».[2] Damit sollte ein Ausbau von 37,4 TWh im Jahr 2035 und 38,6 TWh im Jahr 2050, wie er in der Botschaft zum ersten Massnahmenpaket der Energiestrategie 2050 [3] festgehalten wird, gemäss den Modellarbeiten der Energieperspektiven 2050+ knapp erreichbar sein. Im Vergleich dazu werden im Szenario «Weiter wie bisher» die heutigen Nutzungsbedingungen fortgeführt, sodass sich aufgrund von Energieeinbussen durch Restwasserbestimmungen insgesamt ein Rückgang der Energieproduktion aus Wasserkraft abzeichnet und auch keine neuen Pumpspeicherkraftwerkprojekte realisiert werden.
Die Grundlagenarbeiten zeigen, dass im Szenario «Zero Basis» künftig zusätzliche Flexibilität notwendig sein wird. Deshalb werden die Pumpspeicherprojekte Grimsel 1E, Grimsel 3 und Lago Bianco in die Modellrechnungen integriert, sodass im Jahr 2050 die Turbinenleistung der Pumpspeicherkraftwerke bei rund 6 GW liegen wird. Als interessante Konsequenz dieses Ausbaus ergibt sich, dass im Jahr 2050 im Sommer die Pumpspeicherkraftwerke tagsüber Wasser in die Oberbecken hochpumpen werden, um nachts Strom vorwiegend in die Nachbarländer Deutschland und Italien zu exportieren.
Ist die Versorgungssicherheit gewährleistet?
Versorgungssicherheit ist ein zentrales Bedürfnis der Schweizer Gesellschaft. Ein aktueller Bericht [4] des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz (Babs) hat wieder bestätigt, dass die Strommangellage – also die fehlende ununterbrochene Versorgung mit elektrischer Energie für einen Grossteil der Endverbraucher während mehrerer Tage, Wochen oder sogar Monate – das für die Schweiz grösste Risiko (als Produkt aus Eintretenswahrscheinlichkeit und Schadenshöhe) überhaupt darstellt. Einen vergleichbar hohen Schaden bei aber bedeutend geringerer Eintretenswahrscheinlichkeit schätzt das Babs einzig noch für ein starkes Erdbeben.
Die Modellergebnisse der Energieperspektiven 2050+ zeigen, dass im Szenario «Zero Basis» in der Strategievariante «ausgeglichene Jahresbilanz 2050» auf dem Weg zu diesem Ziel im Winterhalbjahr 2035 ein Importsaldo von 15 TWh resultiert. Bei einem Bruttoverbrauch von 39 TWh entspricht der Importbedarf im Winterhalbjahr somit fast 40 %. Dieser Importanteil kann zwar bis ins Jahr[ 2050 auf 20 % reduziert werden, allerdings sind es absolut dann immer noch 9 TWh. Im Vergleich dazu: Der bisherige Spitzenwert wurde im Winterhalbjahr 2016/2017 mit 9,8 TWh registriert. Was also in der Vergangenheit ein Extremereignis war, soll gemäss Referenzszenario des BFE beziehungsweise des Bundes langfristig zum Normalfall werden. Damit geht die Schweiz trotz der guten technischen Anbindung an Europa erhebliche wirtschaftliche und versorgungstechnische Risiken ein, insbesondere dann, wenn die umliegenden Länder gerade für die Wintermonate keine genügenden Reserven aufzubauen vermögen. Deshalb «erachtet es die ElCom als notwendig», geeignete gesetzliche Massnahmen zu implementieren, um bis 2035 ein Zubauziel von mindestens 5 TWh im Winterhalbjahr zu erreichen.[5] Der Bundesrat seinerseits schlägt als Ergebnis aus der letztjährigen Vernehmlassung zum Energiegesetz den Aufbau einer Speicherreserve von 2 TWh bis im Jahr 2040 vor, um so die Selbstversorgungsfähigkeit während rund 22 Tagen zu gewährleisten.[6] Mit diesem Vorschlag versucht er, die zu führende Diskussion über das Bereitstellen von genügend Reservekapazitäten für den Winter, allenfalls auch durch Gaskombikraftwerke – eine Diskussion, die in der Botschaft zur Energiestrategie 2050 noch geführt und quantitativ unterlegt wurde, dann allerdings mit Einsetzen des Abstimmungskampfes tabuisiert und erst Ende 2019 durch den abgetretenen ElCom-Präsidenten wieder aufgegriffen worden ist [7] – zu vermeiden, weil sie wenig opportun erscheint.
Wasserkraft als Retterin?
Wasserkraft spielt in den Energieperspektiven 2050+ eine noch dominantere Rolle als bisher. Sie soll im Jahr 2050 brutto 45 TWh bereitstellen, bereinigt um den Verbrauch der Speicherpumpen sind es rund 39 TWh, also gleich viel wie die anderen erneuerbaren Energien zusammen. Die Leistung soll von 15 GW auf 20 GW erhöht werden. Gute Gründe, weshalb es die Wasserkraft sowohl energie-, leistungs- und flexibilitätsseitig braucht, gibt es viele. Aus aktueller Warte ist die Erreichbarkeit der Ziele allerdings anzuzweifeln und zwar nicht nur aus wirtschaftlichen, sondern auch aus gesellschaftlichen Gründen.
Die Modellrechnungen erfolgten unter Annahme optimierter Nutzungsbedingungen, die zeitgerechte Bereitstellung von Leistung und Flexibilität durch die Pumpspeicherprojekte Grimsel 1E, Grimsel 3 und Lago Bianco wird exogen durch den Auftraggeber vorgegeben. Die Energieperspektiven 2050+ liefern aber keine Antwort dazu, ob diese Pumpspeicherkraftwerke eine positive Wirtschaftlichkeit erreichen können. Das Geschäftsmodell im Sommer – tagsüber mit überschüssigem inländischem Strom Wasser hochpumpen und in der Nacht produzieren und ins Ausland exportieren – lässt jedenfalls Zweifel aufkommen, ob die Preisdifferenzen genügend gross sein werden, um substanziell mehr als den Wirkungsgradverlust zu kompensieren. Die Politik zeigt grundsätzlich ihren Willen, die Wasserkraft mit finanziellen Instrumenten zu unterstützen, doch Pumpspeicherkraftwerke wurden bisher von sämtlichen Förderinstrumenten explizit ausgeschlossen, was in Widerspruch zu den Erkenntnissen aus den Energieperspektiven 2050+ beziehungsweise den Vorgaben des BFE sowie den ökonomischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen steht.
In der gesellschaftlichen Debatte sind kaum Fortschritte ersichtlich. Zwar ist die Nutzung erneuerbarer Energien und ihr Ausbau von nationalem Interesse, was zu den «optimierten Rahmenbedingungen» beitragen sollte. Allerdings bekommt man nicht den Eindruck, dass dieser Gesetzesartikel in der Realität angekommen ist. Jüngstes Beispiel ist der Bundesgerichtsentscheid 1C_356/2019, in dem das Bundesgericht die Beschwerde von zwei Naturschutzorganisationen im Zusammenhang mit der geplanten Erhöhung der Staumauer des Grimselsees gutheisst. Es bedürfe einer Festsetzung im kantonalen Richtplan, damit die verschiedenen Nutz- und Schutzinteressen abgestimmt werden können. In diesem Rahmen sei auch eine Koordination mit dem geplanten Kraftwerk Trift erforderlich.[8] Damit soll nicht der Entscheid des Bundesgerichtes in Zweifel gezogen werden, denn dieses wendet geltendes Recht an. Es soll aber veranschaulichen, dass das geltende Recht kaum vereinbar ist mit «optimierten Nutzungsbedingungen» und damit den getroffenen Annahmen im Referenzszenario «Zero Basis». Es stellt sich deshalb die Frage, wie sinnvoll Abschätzungen zu technischen, ökonomischen und ökologischen, letztlich also wünschbaren, Potenzialen sind, wenn am Schluss die gesellschaftliche Akzeptanz fehlt.
Ausblick
Die Ziele der Schweiz sind ehrgeizig. Die Energieperspektiven 2050+ zeigen einen Weg auf, wie diese Ziele erreicht werden können. Das Ja zum neuen Energiegesetz im Jahr 2017 reicht allerdings bei Weitem nicht aus, um diesen Weg erfolgreich beschreiten zu können. Es wird weitere wirtschaftliche Instrumente brauchen, damit einerseits die bestehende inländische Wasserkraft gesichert und anderseits der Zubau in der Schweiz vorangetrieben werden kann, denn auch dann wird die Auslandabhängigkeit der Schweiz noch erheblich bleiben. Und es braucht vor allem auch eine konkrete Debatte zu Versorgungssicherheit, Wirtschaftlichkeit und Umweltschutz im Zusammenhang mit der Realisierung der Energiewende, um der Gesellschaft aufzeigen zu können, welche grundlegenden Annahmen hinter diesem Weg stecken und welche Konsequenzen damit verbunden sind. Denn auch hier gilt: «There is no such thing as a free lunch.»
Referenzen
[1] «Energieperspektiven 2050+», Kurzbericht, Prognos, Infras, TEP Energy, Ecoplan, im Auftrag des BFE, 2020.
[2] «Wasserkraftpotenzial der Schweiz – Abschätzung des Ausbaupotenzials der Wasserkraftnutzung im Rahmen der Energiestrategie 2050», BFE, 2019.
[3] Botschaft des Bundesrates zum ersten Massnahmenpaket der Energiestrategie 2050 vom 4. September 2013.
[4] «Welche Risiken gefährden die Schweiz? – Katastrophen und Notlagen Schweiz 2020», Babs, 2020.
[5] «Rahmenbedingungen für die Sicherstellung einer angemessenen Winterproduktion – Einschätzung der ElCom», ElCom, 2020.
[6] «Der Bundesrat will eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien», Medienmitteilung vom 11. November 2020.
[7] «Gaskraftwerke müssen enttabuisiert werden», Gespräch mit Carlo Schmid-Sutter in der NZZ vom 21. Dezember 2019.
[8] «Ausbau Grimselstausee: Beschwerde von Naturschutzorganisationen gutgeheissen», Medienmitteilung des Bundesgerichtes vom 4. November 2020.
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