Kann die Schweizer Industrie eine Mangellage verhindern?
Versorgungssicherheit
Die Sicherheit der Stromversorgung ist für die Schweizer Industrie wichtig. Auf dem aktuellen (Ausbau-)Pfad hin zu einem sauberen Energiesystem könnte es im Winter jedoch häufiger vorkommen, dass die Verfügbarkeit von Strom eingeschränkt ist und die Preise in die Höhe schnellen. Könnte da die Industrie mit einer flexiblen Nachfrage etwas zur Versorgungssicherheit beitragen?
Historisch gesehen ist die Elektrifizierung der Schweiz eng mit der Entwicklung des Industriesektors verbunden. In den Anfängen wurde das Schweizer Elektrizitätssystem zu einem wesentlichen Teil von produzierenden Unternehmen mitaufgebaut [1]. So nahm beispielsweise das Chemieunternehmen Lonza 1897 seine Tätigkeit im Oberwallis auf, nachdem es Konzessionen für die Nutzung von Wasserkraft erhielt. Eine zuverlässige Stromversorgung half Lonza, sich zu einem internationalen Konzern zu entwickeln. Als Nebeneffekt wurde das Unternehmen auch zum wichtigsten Stromlieferanten im Kanton Wallis. Als dann in den 1980er- und 1990er-Jahren Strom kein knapper und teurer Produktionsfaktor mehr war, wurden die Elektrizitätsanlagen schrittweise an die öffentliche Hand verkauft.
Wie in fast allen Industrieländern geht heute auch in der Schweiz der Anteil der industriellen Wertschöpfung zugunsten des Dienstleistungssektors zurück. Dennoch verfügt die Schweiz nach wie vor über eine robuste industrielle Basis mit vielen Unternehmen, die sich im internationalen Wettbewerb weiterhin erfolgreich behaupten. Der Industriesektor verbraucht rund 20% der gesamten Endenergie und mehr als 25% (16,7 TWh) des Stroms in der Schweiz (Bild 1). Die grössten Energie- und Stromverbraucher sind die Teilsektoren Chemie/Pharma (2,5 TWh), Nahrungsmittel (2,1 TWh) sowie die Maschinen- und Metallindustrie (2,6 TWh) [2].
Die Energiekrise fordert die Schweizer Industrie heraus
Die aktuellen Verwerfungen an den Energiemärkten beschleunigen den wirtschaftlichen Strukturwandel: Steigende Preise für Strom und fossile Brennstoffe machen Europa weniger wettbewerbsfähig und führen zu Verlagerungen in andere Weltregionen. Ein Beispiel hierfür ist der Plan des weltgrössten Chemieunternehmens BASF, die Produktion in Europa wegen der hohen Energiepreise dauerhaft zu reduzieren. In der Schweiz hat Stahl Gerlafingen – eines von zwei verbleibenden Stahlwerken – kürzlich Ähnliches verlauten lassen. Die Situation könnte sich künftig sogar noch verschärfen, wenn keine energiepolitische Kurskorrektur erfolgt. Gemäss Schätzungen des Bundesamts für Bevölkerungsschutz sind Stromengpässe schon länger das grösste sozioökonomische Risiko für die Schweiz [3].
Während die Stromversorgungssicherheit durch unsicheren Niederschlag, die geringe Verfügbarkeit von Kernkraftwerken in Frankreich sowie die Folgen des Krieges in der Ukraine besonders in diesem Winter gefährdet ist, ist die fehlende inländische Stromerzeugung im Winter eher ein strukturelles Problem. Während der Stromhandel der Schweiz mit ihren Nachbarländern über das Jahr meistens ausgeglichen ist, importierte sie in den letzten zehn Jahren durchschnittlich rund 4,5 TWh Strom im Winter, mit einem Spitzenwert von 9,7 TWh im Winter 2016/2017 [4]. Das BFE geht in seinen Energieperspektiven 2050+ davon aus, dass der Schweizer Nettoimport im Winter bis 2035 sogar bis zu 16 TWh betragen könnte. Unklar ist auch, ob die Schweiz überhaupt weiterhin so grosse Mengen aus den Nachbarländern importieren könnte. Politische Probleme mit der EU verhinderten ein bilaterales Stromabkommen, was zu erheblichen Problemen im Stromhandel führen könnte [5]. Hinzu kommt, dass der Ausstieg aus der Kernenergie und den fossilen Brennstoffen sowie der langsame Ausbau der erneuerbaren Energien die Exportkapazitäten in unseren Nachbarländern schmälern. Diese strukturellen Faktoren gefährden die Stromversorgungssicherheit in der Schweiz und verstärken damit auch für Schweizer Industrieunternehmen die mittel- bis langfristigen Risiken.
Die Schweizer Reaktion
Um eine Stromknappheit in diesem Winter zu vermeiden, hat die Schweiz eine strategische Reserve für die Stromerzeugung eingerichtet (Art. 9 StromVG), die zum Tragen kommt, wenn der Markt nicht schliesst. Bild 2 skizziert die Kaskade von Massnahmen für Situationen mit einem Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage. Diese reichen von kurzfristigen Optionen für kleine Defizite bis zur Bewirtschaftung in einer gravierenden Strommangellage. Im Herbst hat der Bundesrat zwei dieser Massnahmen in Kraft gesetzt:
Erstens soll eine Wasserkraftreserve von 400 GWh von Anfang Dezember 2022 bis Mitte Mai 2023, wenn die Speicherstände aufgrund natürlicher Wasserzuflüsse wieder ansteigen, von mehreren Wasserspeicherbetreibern vorgehalten werden. Die Kosten für die Wasserkraftreserve sind jedoch immens. Während die Kosten für 775–1525 GWh Wasserkraftreserve zunächst auf 15 bis 30 Mio. EUR geschätzt wurden, belaufen sich die tatsächlichen Kosten nun auf 300 Mio. EUR, und dass für eine deutlich kleinere Reserve [6].
Zweitens kaufte der Bund acht modulare, mobile Gasturbinen vom Typ TM2500 (die auch mit Öl und Wasserstoff betrieben werden können) mit einer Gesamtleistung von ca. 250 MW und Gesamtkosten von 470 Mio. CHF für vier Jahre (ohne Betriebskosten). Angenommen, dass jede Anlage zwei volle Wochen pro Jahr läuft, erzeugen sie 84 GWh zu einem Preis von 1400 CHF/MWh plus Brennstoff und CO2-Emissionszertifikate.
Beide Massnahmen sind umstritten, Letztere, da sie nicht nachhaltig ist und Erstere, weil sie in den nächsten vier Jahren voraussichtlich 2,2 Mrd. CHF kosten wird – ohne dass neue Erzeugungskapazitäten ins System aufgenommen werden. Beide Reserven werden auf die Endverbraucher umgelegt. Der Anstieg der Endkundenstrompreise wird auf 1,4 Rp/kWh geschätzt und belastet damit die Industrie zusätzlich.
Flexible Industrielasten als Entlastungsmassnahme
Nachfrageseitige Optionen zur Sicherung der Versorgung im Winter wurden bisher weitgehend vernachlässigt. Bereits Anfang 2022 forderte eine parlamentarische Motion einen Auktionsmechanismus zur Nutzung von Industrielasten in Strommangellagen [7]. Die Grundidee ist, dass Grosskunden (oder viele kleine, aber gebündelte Kunden) Nachfragereduktionen mit einem bestimmten Preisniveau ausschreiben können. Die aktuelle Winterreserve berücksichtigt dies jedoch nicht, u. a. weil es die gegenwärtige Rechtsgrundlage (Art. 9 StromVG) nicht vorsieht. Im Entwurf für die Revision des Stromversorgungsgesetzes (Art. 8a), der im Frühjahr im Parlament zu Ende behandelt wird, soll genau solch eine Rechtsgrundlage geschaffen werden.
Um das strukturelle Stromdefizit im Winter abzumildern, müssten die Unternehmen ihre Last über längere Zeiträume (Tage, Wochen) reduzieren, ohne die Last später wieder zu erhöhen. Eine Verlagerung der Nachfrage innerhalb der Wintermonate ist wahrscheinlich nicht ausreichend, um einen Beitrag zur Versorgungssicherheit zu leisten. Daher wird im vorliegenden Kontext von «Flexibilität» im Sinne von «echter» Nachfragereduktion oder langfristiger Verlagerung gesprochen.
Modellierung der flexiblen Industrielast
Zur quantitativen Annäherung wurden die Auswirkungen einer Lastreduktion von Unternehmen mit Hilfe der Energiesystemmodellierungsplattform Nexus-e und einem neuen Datensatz, der den Strombedarf von rund 3000 Schweizer Firmen und deren Standort enthält, untersucht. Ausgehend von einem optimierten Basisszenario wurden die Stromimporte eingeschränkt, um «Defizitszenarien» zu erstellen, in denen die Nachfrage die inländische Erzeugung (und die eingeschränkten Importe) übersteigt und somit teilweise nicht gedeckt wird («demand not served», DNS). In Bild 3a ist die jährliche Stromerzeugung für zwei Defizitszenarien dargestellt. Bild 3b zeigt die stündliche Stromerzeugung an einem typischen Wintertag für das Szenario «Defizit gross». Es ist zu erkennen, dass in jeder Stunde dieses Tages inländische Stromerzeugung plus Importe nicht ausreichen, um die Stromnachfrage zu decken.
Anschliessend wurde dem Modell ermöglicht, die kostengünstigste Lösung zur Behebung des Defizits zu finden, indem es entweder Lastreduzierungen der Industrie nutzt oder in Gasanlagen investiert. Dabei wird von drei Hauptannahmen bezüglich der Lastreduzierungen der Industrie ausgegangen. Erstens können alle Unternehmen einen bestimmten Anteil ihrer Last reduzieren. Zweitens erhalten sie eine finanzielle Kompensation für die Lastreduzierung. Drittens bieten die Unternehmen ihren vollen Anteil an flexibler Last zur Lastreduzierung an, unabhängig von der Höhe der Entschädigung. Um die Auswirkungen der Entschädigung zu testen, wurde ihre Höhe variiert und der Anteil der flexiblen Last in der Industrie auf 25% festgelegt. Bild 4a zeigt die gesamte Lastreduzierung der Industrie bei unterschiedlichen Entschädigungsniveaus (der verbleibende Anteil wird durch Investitionen in Gasanlagen gedeckt). Wir sehen, dass das Modell die angebotene Lastreduktion der Industrie nur abruft, wenn die Kompensation nicht allzu hoch ausfällt und im Kostenbereich der bestehenden Reserve auf der Basis von Wasserkraft und Gasanlagen liegt (500 – 2500 CHF/MWh). Wenn sie preisgünstig (500 CHF/MWh) und in grossen Mengen (25% der Gesamtlast der Industrie) verfügbar ist, deckt die Industrieflexibilität sogar 60 – 100% des gesamten Defizits.
Anschliessend wurde die Vergütung auf 500 CHF/MWh festgelegt und der Anteil der Last variiert, den die Firmen tatsächlich reduzieren können. Bild 4b zeigt die Ergebnisse. Es zeigt sich, dass sobald der Anteil der flexiblen Industrielast auf ein realistischeres Niveau (5–10%) abgesenkt wird, die Nutzung der Industrieflexibilität – trotz niedriger Kosten – deutlich abnimmt. Es scheint, dass der Zeitpunkt und der Ort, an dem flexible Last verfügbar ist, eine wichtige Rolle für ihre Nutzung spielt.
Der flexible Anteil der Industrie könnte sehr gering sein
In der Realität dürfte somit entscheidend sein, wie viel Industrielast wo und wann tatsächlich reduziert oder verlagert werden kann. Auf diese Frage gibt es noch keine eindeutige Antwort, aber der Anteil könnte noch geringer sein als in den hier aufgeführten Szenarien angenommen.
Befragte Expertinnen, Industrie- und Behördenvertreter waren äusserst skeptisch, was das tatsächliche Flexibilitätspotenzial vieler Unternehmen und Produktionsanlagen angeht. Ihre Bedenken lassen sich in technische, betriebswirtschaftliche und finanzielle Kategorien einteilen: Erstens müssen viele Fertigungsprozesse mit maximaler Kapazität (oder überhaupt nicht) laufen, um die Produktqualität zu gewährleisten und Schäden an den Produktionsanlagen zu vermeiden. Die Verlangsamung von Prozessen oder das Anhalten der Produktion für eine bestimmte Dauer ist eine betriebliche Herausforderung.
Zweitens wirkt sich eine längerfristige Nachfragereduktion tiefgreifend auf die Unternehmen aus und beeinflusst ihre gesamte Geschäftstätigkeit, Prozessabläufe sowie Produktions- und Kapazitätsplanung.
Drittens sind die Opportunitätskosten für einen Produktionsunterbruch in der Regel sehr hoch – und in den meisten Fällen höher als eine mögliche Entschädigung für eine flexible Energienachfrage. Die entgangenen Umsätze und Einnahmen sowie die beeinträchtigten Kundenbeziehungen wiegen die Einsparungen bei den Energierechnungen wahrscheinlich nicht auf. Im Allgemeinen bestimmen Kunden- und Marktanforderungen, globale Wertschöpfungsketten oder technische Merkmale von Produktionsprozessen den Energieverbrauch – und selten umgekehrt.
Mitnahmeeffekte oder Preissignale?
Eine weitere offene Frage ist, ob der Einbezug der Nachfrageseite in Flexibilitätsauktionen zu Mitnahmeeffekten für Unternehmen führt. In unseren Interviews wurde mehrfach die Meinung geäussert, dass hohe Strompreise bereits genug Druck auf die Firmen ausüben würden, ihre Nachfrage so weit wie möglich zu reduzieren, und dass daher jede Entschädigung für sie als Mitnahmeeffekt verpufft: Die Unternehmen würden für etwas entschädigt, was sie ohnehin tun, und diejenigen mit einer höheren Elastizität der Stromnachfrage profitierten besonders.
Vorstellbar sind aber auch andere Fälle: Viele grössere Unternehmen haben ihre Energiebeschaffung am Markt abgesichert und werden nicht so stark von Preissteigerungen betroffen sein. In diesem Fall scheinen Auktionen ein guter zusätzlicher Anreiz für Nachfragereduktionen zu sein. Wie stark diese Auswirkungen sind, ist unklar und hängt wahrscheinlich vom individuellen Kontext der einzelnen Firmen ab (d. h. von den Opportunitätskosten für das Herunterfahren der Produktion bei extrem hohen Preisen).
Was bedeutet dies für den/die kommenden Winter?
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine flexiblere Industrienachfrage leider kein Allheilmittel für ein strukturelles Stromdefizit im Winter ist. Die Nutzung von Industrielasten sollte jedoch Teil eines Massnahmenmixes sein, der die saisonale Widerstandsfähigkeit des Schweizer Stromsystems erhöht.
Es scheint, dass eine Top-down-Berechnung des Flexibilitätspotenzials der Industrie sehr schwierig ist, da sich jeder Subsektor und sogar jedes Unternehmen in Bezug auf Produkte und Prozesse unterscheidet. Die Möglichkeit für Unternehmen, sich an der Auktion für die Winterreserve zu beteiligen, ermöglicht dagegen einen Bottom-up-Mechanismus, in dem jede Akteurin selbst entscheiden kann, ob sie teilnimmt (entsprechend ihrer Opportunitätskosten).
Eine wichtige Erkenntnis aus den Erfahrungen mit der diesjährigen Wasserkraftreserve ist, dass in einer Knappheitssituation die Strommarktpreise leicht um den Faktor 10 bis 20 steigen können [8] und die entgangenen Gewinne der Kraftwerksbetreiber, die ihre flexiblen Erzeugungseinheiten in diesen Stunden nicht einschalten, immens sind und damit auch die Kosten für die strategische Reserve. Eine Reduktion der Nachfrage von Unternehmen mit geringen Opportunitätskosten in diesen Hochpreisstunden wäre allenfalls die kostengünstigere Alternative.
In jedem Fall wird es jedoch ohne zusätzliche Produktions- und Speicherkapazitäten sowie Importe nicht gehen: Die wichtigste und kostengünstigste Massnahme, um allfällige Mangellagen im Winter zu bekämpfen, ist der beschleunigte Ausbau der inländischen Stromproduktion. Das Parlament hat Schritte in die richtige Richtung unternommen, indem es z. B. grosse PV-Anlagen im Alpenraum mit einem hohen Anteil an Winterstromerzeugung zugelassen hat. Mit dem Budget der strategischen Reserve könnten etwa 250 MW PV in den Alpen zugebaut werden – und das jedes Jahr. Nach drei Jahren würden diese PV-Anlagen im Winter mehr Strom liefern als die Wasserkraftreserve; nach fünf Jahren würden sie den Engpass in unserem Szenario «Defizit klein» ausgleichen.
Auf nationaler Ebene wurden in den letzten Wochen viele Korrekturen vorgenommen, nun ist es auch für Kantone, Gemeinden und Einzelpersonen an der Zeit, das aktuelle «Window of Opportunity» zu nutzen, um ein zuverlässiges, widerstandsfähiges, erneuerbares Energiesystem aufzubauen.
Referenzen
[1] Historisches Lexikon der Schweiz, Elektrizitätswirtschaft, 2016.
[2] Bundesamt für Energie BFE, 2021.
[3] Bundesamt für Bevölkerungsschutz BABS, 2020.
[4] Bundesamt für Energie BFE, 2022.
[5] Bundesamt für Energie BFE, 2021.
[6] Schweizerische Elekrizitätskommission ElCom, 2022.
[7] www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20223260
Die Autoren möchten sich insbesondere bei Jared Garrison, Arijit Upadhyay und dem gesamten Nexus-e-Team für ihre Unterstützung bei der Entwicklung der Szenarien bedanken.
Kommentare