Fachartikel Energienetze

Ist das Netz der Zukunft dezentral optimiert?

Power Alliance

22.07.2019

Die herkömmlichen Netzstrukturen stossen als Folge der Energiewende an ihre physikalischen Grenzen, und der konventionelle Netzausbau stellt volkswirtschaftlich dauerhaft kein Optimum dar. So lauten die beiden Prämissen zum Projekt Power Alliance, das sich mit der Frage auseinandersetzt, ob das Netz der Zukunft durch dezentrale Optimierung unterstützt werden kann.

Zur Begrenzung des Klimawandels soll bis Mitte des Jahrhunderts die weitgehende Dekarbonisierung der Energieversorgung vollzogen worden sein. Schreitet der Ausbau der erneuerbaren Stromerzeugung in gebotenem Masse voran, werden immer häufiger grosse Stromüberschüsse anfallen, solange keine wettbewerbsfähigen Speicher im industriellen Massstab verfügbar sind. In der Folge müssen daher immer öfter erneuerbare Stromerzeuger abgeschaltet werden. Zum einen, wenn die Erzeugung die Nachfrage übersteigt, aber auch dann, wenn Engpässe bei den Netzen auftreten.

Die gebotene flexible Verlagerung der Stromnachfrage auf Zeiten mit umfangreicher Wind- und Solarproduktion erfolgt bislang kaum. Der Stromverbrauch ist heute in weiten Teilen unelastisch, kann also aus technischen und wirtschaftlichen Gründen praktisch nicht verlagert werden. Dies wird sich aber mit dem Voranschreiten der Sektorenkopplung, also der Elek­trifizierung des Verkehrs und der Wärmebereitstellung signifikant ändern. Aber auch hierdurch werden absehbar Netzengpässe zunehmen, welche wiederum teuren Netzausbau nach sich ziehen.

Gebühren und Abgaben bei Sektorkopplung reduzieren

Auf dem Weg zur Sektorenkopplung ist von fundamentaler Bedeutung, dass Strom insbesondere für die Lasten der Sektorenkopplung im Vergleich mit fossilen Energieträgern nicht so stark wie gegenwärtig mit Netzgebühren, Steuern und Umlagen etc. belastet wird. Damit soll der Umstieg auf erneuerbaren Strom ökonomisch attraktiv und quasi zum Selbstläufer werden. Zudem soll netzfreundliches Verhalten spürbar belohnt werden.

Dem Projekt Power  Alliance liegt die Idee zugrunde, die zur Gewährleistung der geforderten hohen Versorgungssicherheit (n-1-Sicherheit) vorgehaltenen und damit operativ brachliegenden Netzreserven intelligent für die neuen Lasten der Sektorenkopplung und der Speicherung sowie für die regenerative Einspeisung nutzbar zu machen. Neben den reinen Energiepreisen, die weiterhin vom Markt bestimmt werden, soll daher für alle weiteren Kostenarten, also für Netz sowie Abgaben und Steuern, ein günstiger Tarif zum Tragen kommen.

Die mit dem niedrigeren Tarif einhergehende und von den Netznutzern akzeptierte niedrigere Versorgungssicherheit (n-sicher) ist für primär preisgesteuerte Technologien wie Batterien sowie Technologien zur Sektorenkopplung im Gegensatz zu den herkömmlichen Verbrauchern jedoch akzeptabel. Auf diese Weise lässt sich ein Regime zur Absorption von günstigem Überschussstrom durch neue flexible Lasten etablieren. Die bisher bestehende Versorgungssicherheit der herkömmlichen Lasten wird vom Power-Alliance-Ansatz nicht tangiert.

Netzkapazität auf zwei Bänder aufteilen

Im obenstehenden Bild ist die physische Netzkapazität an einem gegebenen Netzengpass auf der Mittelspannungsebene dargestellt. Hierbei ist ersichtlich, dass die 100% physische Netzkapazität in zwei Bereiche aufgesplittet werden kann: Ein Band zur Versorgung der kritischen Lasten mit geforderter hoher Versorgungssicherheit (unbedingte Lasten oder «unconditional loads») sowie ein Band, welches für die Versorgung der bedingten Lasten («conditional loads») herangezogen werden kann.

Um die Machbarkeit des Power-Alliance-Prinzips zu demonstrieren, wurde für das Jahr 2035 eine Simulation von täglichen Lastenverläufen im 15-Minuten-Raster über einen Zeitraum von einem Jahr simuliert.

Das untenstehende Bild illustriert beispielhaft zwei resultierende Fahrpläne, welche vom Netzkunden an den Verteilnetzbetreiber täglich automatisiert gesendet werden. Die bedingten Lasten müssen durch den Verteilnetzbetreiber freigegeben werden beziehungsweise können mit der Aufforderung zur Lastreduktion abgelehnt werden. Die Fahrpläne sind das Ergebnis folgender Operationen durch den Kunden:

  • Geplanter Fahrplan der bedingten Lasten (hier Batterieladung und Elektrolyse), welche auf einer Optimierung der täglichen Spotpreise beruhen.
  • Prognose der unbedingten Lasten, welche zum Beispiel auf der geplanten Tagesproduktion im Unternehmen beruhen.

Im nächsten Bild werden die beiden Netzlastprofile aus dem letzten Bild mit den Quellen der Lastdeckung, also Netzbezug gemäss Tarif, Eigenproduktion sowie Batterieentladung dargestellt.

Der dazugehörende Spotpreis für den aktuellen Tag ist auf der rechten Achse dargestellt. Es ist offensichtlich, dass während der Niedrig- und Negativpreisperioden die bedingten Lasten in Betrieb sind. Netzstrom hierfür wird unter dem Po­wer-Alliance-Tarif für bedingte Lasten bezogen, wohingegen der Residualstrom für die unbedingten Lasten nach Abzug von Solareigenproduktion und Batterieentladung unter dem Standardtarif vom Netz bezogen wird.

Ampelfarbe gibt Aufschluss über die verfügbare Kapazität

Schliesslich sammelt und summiert der Verteilnetzbetreiber alle Fahrpläne in seinem Netzengpass und prüft, ob das resultierende Kapazitätslimit eingehalten wird (Netzampelmechanismus).

Im untenstehenden Bild sind exemplarisch die Summenlasten aller am Engpass angeschlossenen Kunden dargestellt. Auf der linken Seite der Darstellung zeigt sich, dass die geplanten Lasten für den nächsten Tag die verfügbare Kapazität in den Stunden 13–17 im bedingten Kapazitätsband überschreiten (gelbe Umrandung). Dies liegt daran, dass alle bedingten Lasten der drei angeschlossenen Kunden das Niedrigpreisfester nutzen. Die Netzampel wird vom Netzbetreiber daher auf «gelb» gestellt.

Wenn das Limit im bedingten Kapazitätsband überschritten wird, sendet der Verteilnetzbetreiber automatisch eine Benachrichtigung an seine lokal betroffenen Kunden mit der Forderung, die Last im besagten Zeitraum um einen bestimmten Prozentsatz zu reduzieren. Die Kunden werden daraufhin ihren Bedarf neu kalkulieren und einen neuen Fahrplan senden, so dass die individuellen Limits, wie sie vom Verteilnetzbetreiber vorgegeben wurden, eingehalten werden. Daraufhin schaltet sich die Netzampel wieder auf «grün» (rechte Seite im obenstehenden Bild).

Der jeweilige Reduktionsfaktor wird vom Verteilnetzbetreiber auf Basis der individuellen Zahlungsbereitschaft der Netzkunden bestimmt. Diese wird etwa auf monatlicher oder jährlicher Basis fixiert, wenn der Kunde die Höhe seiner gewünschten Kapazitätsbänder für bedingte und unbedingte Lasten kostenpflichtig bucht.

Rote Ampel: Kunden müssen reagieren

Neben den normalen Prozessschritten für ungestörten Betrieb gibt es auch den Fall der ungeplanten Netzstörung. Tritt dieser Fall ein, fordert der Netzbetreiber seine Kunden auf, ihre jeweiligen bedingten Lasten innerhalb der folgenden 15 Minuten kontrolliert vom ungestörten Netzast zu nehmen (Netzampel «rot»). Dadurch wird Kapazität für die Versorgung der unbedingten Lasten des gestörten Netzastes geschaffen.

Nach der Herstellung der Notversorgung des gestörten, notabgeschalteten Astes werden die dortigen bedingten Lasten nicht unmittelbar weiterversorgt. Ebenso bleiben die bedingten Lasten des versorgenden Astes zunächst unversorgt. Erst wenn die Störung vollständig behoben ist, gehen die bedingten Lasten wieder vollständig ans Netz. Zumeist ist dies nach einigen Stunden der Fall.

Unnötige und teure Netzausbauten vermeiden

Der Power-Alliance-Ansatz ist ein effizientes Verfahren, um neue und flexible spotpreisgetriebene Lasten und Erzeuger in das existierende Verteilnetz einzubinden. Power  Alliance ermöglicht, dass eine volkswirtschaftliche Balance erreicht werden kann zwischen hoher Zeitgleichheit von Erzeugung und Verbrauch auf der einen und Lastverlagerung in Zeiten von Netzüberlastung auf der anderen Seite. Durch dieses Verfahren werden unnötige, teure Netz­ausbauten vermieden. Zudem reduzieren sich verlängerte Perioden negativer Preise sowie die Zwangsabschaltung von erneuerbarer Überschus­serzeugung.

Power Alliance ist ein durch das BFE, PTJ und FFG gefördertes ERA-Net-Smart-Energy-Systems-Projekt unter der Leitung der Alpiq AG. Mitgewirkt über die Periode von 2016 bis 2019 haben die Hochschulpartner FHNW, ZHAW und HSLU, der Technologiepartner Aski Industrie Elektronik GmbH sowie die Verteilnetzbetreiber Primeo Energie AG und die Stadtwerke Crailsheim mit ihren Pilotkunden.

Autor
Joachim Bagemihl

ist ERA-Net-Power-Alliance-Teilprojektleiter bei Alpiq Digital AG.

  • Alpiq Digital AG, 4601 Olten

 

Autor
Yves Wymann

ist ERA-Net-Power-Alliance-Gesamtprojektleiter bei Alpiq Digital AG.

  • Alpiq Digital AG, 4601 Olten

Kommentare

Philippe Huber,

Es liegt auf der Hand, dass die Netztarife viel dynamischer werden müssen, als sie heute sind. Die alte Welt mit HT- und NT-Tarifen ist nicht mehr zeitgemäss. Aber das überfordert die vielen kleinen EVU's in der Schweiz und auch die Grösseren tun sich schwer damit. Der Durchbruch der Sektorkopplung hängt aber wesentlich davon, ob es gelingt solche dynamische Netztarife mittelfristig einzuführen.

Was ist die Summe aus 6 und 6?