Intelligenz im Verteilnetz
Flexible Lasten mit dezentralen erneuerbaren Energien koordinieren
Der Betrieb des Niederspannungsnetzes wird anspruchsvoller. Gleichzeitig bieten intelligente Systeme und die Marktliberalisierung neue Möglichkeiten.
Das Verteilnetz auf Niederspannungsebene verändert sich: Photovoltaikanlagen auf Einfamilienhäusern und Bauernhöfen speisen Strom in das Netz ein, das bisher nur aus Verbrauchern bestand. Einige Hauseigentümer optimieren mit Batteriespeichern ihren Eigenverbrauch. Mit den Elektroautos wiederum kommen Verbraucher hinzu, die in kurzer Zeit grosse Leistungen konsumieren. Und anstelle von Ölheizungen werden Wärmepumpen installiert. Auch das regulatorische Umfeld ändert sich: Mit der laufenden Revision des Stromversorgungsgesetzes StromVG soll der Markt für Kleinkunden liberalisiert werden. Was bedeutet das für die unterste Netzebene? Für das Verteilnetz zwischen dem Transformator im Quartier und den einzelnen Häusern?
Nahe den physikalischen Grenzen
Als die Verteilnetzbetreiber das heutige Niederspannungsnetz planten, gingen sie nur von Lasten aus. Es war nicht nötig, Ströme und Spannungen zu messen. Nun kommen mit den PV-Anlagen Erzeuger ins Netz und es kann sein, dass Spannungen über die erlaubten Grenzwerte steigen. Vor allem Anlagen weit entfernt vom Transformator neigen aufgrund des höheren Leitungswiderstands dazu. Auch thermisch können Leitungen überlastet werden, wenn in einem Quartier viele PV-Anlagen installiert sind, die im Sommer kräftige Leistungen einspeisen. Das Niederspannungsnetz wird heute immer näher an dessen physikalischen Grenzen betrieben.
Natürlich ist es möglich, Leitungen mit grösseren Querschnitten zu verlegen und so die Leistungen zu übertragen. Aber Leitungen zu verlegen, ist wegen den Erdarbeiten teuer. Es gibt Alternativen: Viele Wechselrichter, die den Strom der Solarzellen ins Netz einspeisen, können gesteuert werden. Sie können helfen, die Spannungsgrenzen einzuhalten. Gleichzeitig können flexible Lasten wie Wärmepumpen, Batterien und Elektroautos das Netz entlasten. Natürlich muss dazu das Verteilnetz intelligenter werden, um diese Flexibilitäten zu steuern.
Flexibilitäten nutzen statt Kabel legen
Stavros Karagiannopoulos ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Gruppe von Gabriela Hug an der ETH Zürich und hat seine Doktorarbeit der Frage gewidmet, wie die Flexibilitäten im Verteilnetz genutzt werden könnten, um das Netz optimal zu betreiben: «Heute weiss ein Verteilnetzbetreiber nur wenig über die aktuellen Flüsse im Netz. Oft nicht einmal, welche Phase ein Haushalt belastet. In Zukunft wird das wichtig, um das Netz stabil zu halten und um teure Netzausbauten zu umgehen», sagt Karagiannopoulos. Wenn beispielsweise ein Ast im Verteilnetz nur 5 Mal im Jahr ausserhalb der Grenzwerte liege, lohne es sich, die PV-Einspeisung in diesen wenigen Stunden zu limitieren, anstatt für viel Geld neue Kabel einzuziehen. «Die Kontrolle der dezentralen Flexibilitäten wird entscheidend sein, um das Verteilnetz sicher, zuverlässig und günstig zu betreiben.»
Karagiannopoulos simuliert das Netz anhand gemessener Daten und optimiert die Flüsse mit den vorhandenen Flexibilitäten. Überspannungen können beispielsweise reduziert werden, indem die Wechselrichter der PV-Anlagen Blindstrom einspeisen resp. den im Netz vorhandenen Blindstrom kompensieren. «Das ist nur bis zu einem gewissen Grad möglich, aber sicher die erste und einfachste Massnahme, die man treffen sollte», sagt Karagiannopoulos. In Deutschland müssen alle PV-Anlagen ab einer bestimmten Leistung Blindstrom kompensieren – zu fix festgelegten Werten. Karagiannopoulos findet dies nicht optimal, da es zu höheren Verlusten führt als das individuelle Rechnen der Knoten im Netz.
Zentral trainiert, lokal gesteuert
Am besten lässt sich ein Verteilnetz natürlich zentral steuern mit aktuellen Daten aus den Smart Metern. Das bedingt aber eine teure Kommunikationsinfrastruktur. Stavros Karagiannopoulos schlägt deshalb lokale Kontrollsysteme vor, die offline mit historischen Daten trainiert werden und darauf lokal im Haushalt die zentralisierte Steuerung nachahmen. Er simuliert also das Netz mit vorhandenen Daten, berechnet für jeden Knoten sein optimales Verhalten und programmiert diese Algorithmen in relativ einfache Smart Meter vor Ort, die von nun an dezentral entscheiden. «Wir können das Netz fast so gut regeln, wie wenn es zentral gesteuert wäre – deutlich besser, als wenn sich jeder Knoten starr gleich verhält.»
Die Netzbetreiber testen nun den Einfluss intelligenter Kontroller im Netz. Die Netzstabilität muss auch dann gewährleistet sein, wenn viele solcher Agenten im Netz arbeiten. Und alle Haushalte müssen gleichbehandelt werden: Die PV-Anlage, die nahe am Transformator liegt und 30 kW einspeisen könnte, darf nicht bessergestellt werden als die Anlage weit weg, die nur 5 kW einspeisen kann.
Mit künstlicher Intelligenz und Machine Learning können die Algorithmen optimiert werden. Karagiannopoulos weist aber darauf hin, dass diese Algorithmen wie bei selbstfahrenden Autos überwacht werden müssen. «Ein Verteilnetzbetreiber wird nie eine Black Box das Netz steuern lassen. Das Stromnetz gehört zur kritischen Infrastruktur, deshalb müssen dessen Verhalten und die Regelmechanismen genau bekannt sein.» Karagiannopoulos wäre deshalb vorsichtig mit selbstlernenden Systemen. Es bräuchte auch wesentlich mehr Messdaten aus dem Betrieb, um die Systeme zu trainieren – auch Daten von Ausnahmesituationen.
Swiss Hub for Energy Data
Die Daten dürften in Zukunft zur Verfügung stehen, wenn der vom Bundesamt für Energie angestossene Datenhub realisiert wird: Mit dem Swiss Hub for Energy Data (SHED) soll eine nationale Datenbank für Energiedaten aufgebaut werden. Ähnlich wie die Banken SIX für ihre Geldtransaktionen nutzen, sollen alle Teilnehmer im Energiemarkt über SHED auf die Energiedaten zugreifen können.
Im angedachten Datenhub werden die Messwerte der Smart Meter voraussichtlich in 5- bis 15-Minuten-Zeitintervallen abgespeichert. Laut Karagiannopoulos reicht das, um die Algorithmen zu berechnen: «Das Netz ist träge und die Grenzwerte basieren hauptsächlich auf den maximalen Kabeltemperaturen. Wenn der Strom nur kurz zu gross ist, kommt es zu keinem Defekt. Er muss zu 95% der Zeit innerhalb der Grenzen sein. Um dies einzuhalten, reichen Messintervalle von 15 Minuten.» Denn je kürzer die Zeitintervalle, desto grösser wird die Datenmenge, die gespeichert und verarbeitet werden muss.
Peer-to-Peer-Netzwerke
Lieber kürzere Zeitabstände hätten die Peer-to-Peer-Netzwerke, über die Strom aus erneuerbaren Energien ausgetauscht wird. Je kürzer hier die Zeitintervalle sind, desto genauer können die flexiblen Lasten eingesetzt werden. So wurden im Forschungsprojekt Quartierstrom in Walenstadt die Daten im 30-Sekunden-Takt erfasst. Obwohl die tatsächlichen Transaktionen zwischen den teilnehmenden Haushalten im 15-Minuten-Takt verarbeitet wurden, konnte der Quartierspeicher in kleineren Zeitintervallen gesteuert werden. Die Haushalte konnten jeweils festlegen, zu welchem Preis sie Solarstrom kaufen oder verkaufen wollten. Quartierstrom war eine vom Bundesamt für Energie geförderte Initiative der ETH Zürich und der Universität St. Gallen in Zusammenarbeit mit dem EW Walenstadt, Sprachwerk, Super Computing Systems, ZHAW, Cleantech 21 Hochschule Luzern, Esolva (frühere Swibi), BKW und SBB. Das Forschungsprojekt ist mittlerweile abgeschlossen; die ehemaligen Doktoranden gründeten anschliessend die Firma Exnaton, welche die Technologie weiterentwickelt und nach wie vor die Plattform für die 37 teilnehmenden Haushalte in Walenstadt betreibt. Arne Meeuw war für die Technik verantwortlich und ist heute CTO von Exnaton. Zu den Messintervallen antwortet er pragmatisch: «Die Infrastruktur der installierten Smart Meter ist in der Schweiz sehr heterogen. In Walenstadt konnten wir das werkseigene Kabelnetz nutzen und sehr schnell sehr viele Daten versenden.» Andere Energieversorger würden aber nur das Nötigste installieren. Da könne es schon sein, dass man nur einmal am Tag die Daten aus dem Smart Meter erhält. «Wir müssen unser System so programmieren, dass wir mit allen Situationen umgehen können», sagt Meeuw.
Auf heterogene Plattformen vorbereiten
Er empfiehlt den Energieversorgern, beim Rollout der Smart Meter darauf zu achten, dass Daten in kurzen Zeitintervallen geschickt werden können. Auf eine bestimmte Technologie will er sich nicht festlegen. Natürlich sei der Datendurchsatz bei Kabel- oder Glasfaserverbindungen viel grösser, aber je nach Anzahl Haushalte eigne sich auch PLC oder Lora. Ein wichtiges Element seien die Gateways, die im Haus als Schnittstelle zu den Smart Metern, zu flexiblen Lasten und auch zu den Wechselrichtern der PV-Anlagen installiert würden. «Im Quartierstromprojekt hatten wir pro Haushalt bis zu 3 Zähler installiert. Die meisten Wechselrichter haben aber eine Schnittstelle, worüber der Gateway die PV-Leistung auslesen kann. So würde ein einzelner, bidirektionaler Smart Meter reichen», sagt Meeuw. Er sieht also weniger die Smart Meter als intelligente Kontroller im Haus, sondern leistungsstarke Gateways, die nicht nur den Stromzähler, sondern auch Gas- und Wasserzähler auslesen, mit der PV-Anlage kommunizieren und flexible Lasten steuern. Auch hier möchte er sich nicht auf ein Produkt oder eine Schnittstelle festlegen: «Als Anbieter einer Peer-to-Peer-Plattform müssen wir mit allen Herstellern arbeiten können. Oft entscheiden der Systemintegrator oder der Hauseigentümer, welche Produkte installiert werden.»
Plattform für Mehrwertdienste
Während beim ersten Quartierstromprojekt das Geschäftsmodell nach den Worten von Meeuw noch etwas «blumig» war und auf den Idealismus der Teilnehmer setzte, möchte Exnaton in Zukunft die Energieversorger direkt ansprechen. Diese sollen ihre Kunden im liberalisierten Markt über Quartierstrom-Plattformen an sich binden. So würden sich die 37 Haushalte des Projekts in Walenstadt sehr stark mit dem lokalen Energieversorger identifizieren. Zudem sei es möglich, aus den Daten der Plattform die Energierechnungen zu generieren – heute für viele Werke ein aufwendiger Prozess. Meeuw sieht die Werke in Zukunft als Service Provider, mit den installierten Smart Metern und deren Kommunikationsinfrastruktur als Grundlage. Auf die Frage, ob die Peer-to-Peer-Plattformen übers Quartier bis in andere Versorgungsgebiete hinauswachsen könnten, meint er: «Wir bleiben vorerst auf derselben Netzebene. Wir bleiben im Quartier. Hier macht es Sinn, die Flexibilitäten zu koordinieren.» Nichtsdestotrotz gibt es in Deutschland beispielsweise die Firma Sonnen, die eine grenzüberschreitende Peer-to-Peer-Plattform im virtuellen Stil betreibt.
In zehn Jahren ist das Netz intelligent
Ob sich Peer-to-Peer-Plattformen in der Schweiz durchsetzen werden, liegt nicht zuletzt an der Ausgestaltung der Netztarife. Wird berücksichtigt, wenn der Strom nur in der untersten Netzebene im Niederspannungsnetz gehandelt wird? Im neuen StromVG werden Modelle mit einem Leistungsanteil diskutiert. Für Meeuw spielen die finanziellen Anreize die kleinere Rolle: «Die Kundenbindung solcher Angebote wird das wichtigere Argument sein.» Die Smart Meter, die Kommunikation, die Datenspeicher und die darauf aufgebauten Plattformen wie Quartierstrom seien das Eintrittsfenster für Mehrwertdienste, welche die Energieversorger anbieten könnten. Auch Karagiannopoulos sieht die Möglichkeiten. Schon heute könne man Systemdienstleistungen aus aktiv geregelten Verteilnetzen anbieten. «Ein lokal geregeltes System könnte zudem jederzeit auf Inselbetrieb umstellen, wenn ein Blackout droht, und so wichtige Infrastrukturen aufrechterhalten», ergänzt Karagiannopoulos. Er geht davon aus, dass die meisten Verteilnetze in zehn Jahren aktiv geregelt sein werden. Energieversorgern empfiehlt er, Leitungen und Transformatoren nur dort auszubauen, wo es wirklich nötig ist. Die Zukunft sieht er darin, die Flexibilitäten zu steuern, um das Netz stabil zu betreiben.
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