Günstiger Wind für die Industrie
Windkraft in Industriegebieten
Die Schweizer Industrie ist gefordert, ihre CO2-Emissionen zu reduzieren. Aktuelle Krisen haben viele Industriebetriebe zudem dazu motiviert, ihre Abhängigkeit vom Strommarkt zu reduzieren. Zugleich suchen Energieversorger nach Möglichkeiten, ihren Anteil an grünem Strom im Inland auszubauen. Eine Win-win-Situation bieten Windanlagen in Industriezonen.
Am 18. Juni 2023 hat die Gemeinde Muttenz im Kanton Baselland Ja gesagt zum ersten grossen Windrad in der Region Basel. Das Pionierprojekt von Primeo Energie soll in gut fünf Jahren grünen Strom für rund 800 Haushalte produzieren [1, 2]. «Speziell am Projekt ist der gewählte Standort: Das Windrad wird nicht auf der grünen Wiese errichtet werden, sondern in der Muttenzer Hard, einem Industriegebiet zwischen der Autobahn und dem Bahnhof», so Peter Schwer, Senior Experte Erneuerbare Energien beim Ingenieur-, Planungs- und Beratungsunternehmen Basler & Hofmann. Er und sein Team haben für das Projekt Visualisierungen erstellt, das Lärmgutachten erarbeitet und die mögliche Auswirkung der Anlage auf zwei Objekte des Bundesinventars der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz von nationaler Bedeutung (ISOS) untersucht.
Szenenwechsel nach Deutschland: Während Windkraftanlagen in Industriezonen in der Schweiz noch ein Novum sind, gibt es im europäischen Ausland bereits mehrere erfolgreich realisierte Projekte. Im Hamburger Hafen etwa hat der städtische Energieversorger Hamburg Energie 2017 sechs neue Anlagen fertiggestellt. Drei produzieren Strom auf dem Gelände der Aluminiumhütte von Trimet, die anderen drei auf dem Stahlwerk von Arcelor Mittal. Anfang dieses Jahres haben die Hamburger Energiewerke bekannt gegeben, dass sie in einem Joint Venture mit der Hamburg Port Authority mit weiteren Windkraft- und PV-Anlagen die Dekarbonisierung des Hafens vorantreiben wollen. Das Gesamtpotenzial des Vorhabens beläuft sich auf zirka 70 MW [3, 4].
Wind und Industrie passen bestens zusammen
Wieso werden Industriezonen aktuell als neue Standorte für die Produktion von Strom aus Wind entdeckt? Industriegebiete bieten im Vergleich zur «grünen Wiese» durchaus gewisse Vorteile für den Bau und Betrieb von Windanlagen, erklärt Peter Schwer: «Da es für die Industrie und das Gewerbe entscheidend ist, gut erreichbar zu sein, liegen die Gebiete in aller Regel in der Nähe bestehender Verkehrsinfrastrukturen wie der Bahn oder Autobahn. Zudem sind Industriezonen gut an die elektrische Infrastruktur angebunden. Diese Rahmenbedingungen vereinfachen die Anlieferung einer neuen Anlage und den Netzanschluss.» Raumplanerisch werden für Industriezonen meist landschaftlich weniger wertvolle Gebiete gewählt. Dies kann die Akzeptanz eines Projekts durch Schutzverbände begünstigen.
Ob in Zusammenarbeit mit einem EW oder aus eigener Kraft: Industrieunternehmen profitieren mehrfach von Wind auf ihrem Areal, so Alexander Kupfahl, Leitender Experte Erneuerbare Energien bei Basler & Hofmann: «Mit Windenergie können Unternehmen ihre betrieblichen CO2-Emissionen und Stromkosten reduzieren. Indem sie einen Teil ihres Strombedarfs selbst decken, sind sie ausserdem weniger abhängig von Stromlieferungen vom Markt respektive aus dem Ausland.» Wer aktuell in der Schweiz eine Windanlage baut, wird mit einem Investitionskostenbeitrag von bis zu 60% unterstützt. Nach den anfänglichen Investitionskosten fallen für eine Windanlage nur geringe laufende Kosten für den Betrieb und die Wartung an. Kann die erzeugte Windenergie direkt vor Ort genutzt werden, entfallen die Gebühren für die Nutzung der Netz- und Systemdienstleistungen, die mittlerweile einen erheblichen Anteil an den Stromkosten ausmachen. Ein weiterer Pluspunkt für Unternehmen ist, dass die Kosten für den eigenen Strom aus Windenergie auf rund 25 Jahre hinaus (so die erwartbare Lebensdauer einer heutigen Windanlage) stabil sind. Dies im Kontrast zu den Strompreisschwankungen am Markt. Die grössere Unabhängigkeit vom Strommarkt stärkt zudem die Versorgungssicherheit. Windanlagen produzieren zwei Drittel des Stroms im Winter, also dann, wenn es an den Märkten vermehrt zu Stromknappheit kommt. Damit ist die Windenergie eine optimale Ergänzung zur Photovoltaik, die gerade einmal 25% ihrer Leistung im Winterhalbjahr erbringt [5]. Nicht zuletzt profitieren Industrie und Gewerbe vom Image-Gewinn: Eine Investition in Windenergie zeigt, dass ein Industrieunternehmen sich aktiv für den Klimaschutz einsetzt.
Verschiedene Betriebsmodelle
Das Beispiel in Hamburg zeigt, wie ein Joint Venture von EWs und ansässiger Industrie funktionieren kann. Verschiedene Formen der Kollaboration sind möglich: So kann ein Industrieunternehmen dem Energieversorger etwa nur den Standort zur Verfügung stellen. Oder aber man einigt sich auf eine Form von Contracting, über welches das Industrieunternehmen den Standort zur Verfügung stellt und jährlich eine definierte Menge an Strom zu festgelegten Konditionen bezieht. Von diesem Modell profitieren vor allem kleinere und mittlere Industriebetriebe, die selbst nicht über das Know-how und die Kapazität zur Betriebsführung verfügen. Grössere Industriefirmen nehmen vermehrt auch eigenständig Projekte in Angriff, wie folgende Beispiele zeigen.
Grosse Industriefirmen realisieren Pilotprojekte
Seit 2013 versorgen die vier Windanlagen auf dem Gelände des BMW-Group-Werks Leipzig die Produktion des BMW i3 mit nachhaltigem Strom. Die Anlagen produzieren jährlich rund 26 GWh und decken zusammen rund einen Fünftel des gesamten Strombedarfs des Werks ab.
Wenn die Produktion der Elektrofahrzeuge ruht, wird die produzierte Energie auch in anderen Bereichen und zur Absicherung der Grundlast eingesetzt. Zusätzlich fliesst der Strom in die «Speicherfarm» auf dem Werksgelände. Diese ist seit 2017 in Betrieb. Darin befinden sich bis zu 700 miteinander vernetzte BMW-i3-Hochvoltspeicher. Zusammen mit den Windanlagen verknüpft die Speicherfarm die dezentrale Eigenerzeugung aus erneuerbaren Energien mit einem lokalen Energiespeicher sowie einem industriellen Grossverbraucher. Durch die zusätzliche Integration ins öffentliche Stromnetz trägt die Speicherfarm dazu bei, dieses zu entlasten sowie Strom beizusteuern [6].
Produziert ein Industrieunternehmen mit einer Windkraftanlage mehr Strom, als es selbst nutzen kann, gibt es verschiedene Möglichkeiten, diesen zu verwerten, so Alexander Kupfahl: «Wie das Beispiel BMW zeigt, ist eine Lösung, den Strom lokal zu speichern. Interessant kann für Industriebetriebe auch die Nutzung des Stroms für die Produktion von grünem Wasserstoff sein. Wird die Windkrafterzeugung über das eine Unternehmen hinaus in die Versorgung des gesamten Industriegebiets eingebunden, können weitere Synergien entstehen. Seit dem Mantelerlass gibt es unter anderem die Möglichkeit, sich zu einer lokalen Energiegemeinschaft (LEG) zusammenzuschliessen. Über eine solche können mehrere Parteien in einem Gewerbegebiet oder den angrenzenden Quartieren vom lokal erzeugten Strom profitieren.»
In der Schweiz projektiert die SFS Group, ein Hersteller von Präzisionskomponenten und Baugruppen, mechanischen Befestigungssystemen und Werkzeugen, an ihrem Hauptsitz in Heerbrugg unter dem Namen «RhintlWind» auf dem eigenen Firmengelände eine Windanlage. Die geplante Anlage soll 5 GWh Strom pro Jahr produzieren, was dem Verbrauch von rund 1300 Haushalten entspricht und rund 10% des Energiebedarfs des Unternehmens in der Schweiz decken soll. Mit der Anlage will SFS jährlich 2000 t CO2 einsparen [7].
Potenzial ist vorhanden
Natürlich eignet sich nicht jeder Industriestandort für eine Windanlage. Eine Überlagerung der Schweizer Industrie- und Gewerbezonen mit der Schweizer Windkarte zeigt jedoch, dass durchaus technisches Potenzial vorhanden ist: unter anderem in den Föhntälern, dem Rheintal östlich von Basel, auf den Hochebenen des westlichen Juras sowie am Jurasüdfuss zwischen Aarau und Lausanne.
Tendenziell eher ungünstig sind enge Täler, in denen der Wind stärker verwirbelt, sowie Gebiete, die durch umliegende Hügel vom Wind abgeschattet werden. Fassen ein Industrieunternehmen oder ein EW ein Projekt ins Auge, werden mit einer Machbarkeitsstudie das Windpotenzial und die Auswirkungen einer Anlage auf Umwelt und Mensch für den konkreten Industriestandort eruiert.
Ergänzend zu den üblichen Abklärungen wie beispielsweise dem Lärm- und Schattenwurf sowie dem Vorkommen und den Flugrouten von Vögeln und Fledermäusen, gilt es bei Industriestandorten spezifisch auch die Themen Fundation, Altlasten und Vereisung zu untersuchen, so Peter Schwer: «Da Industriegebiete meist in Flusstälern gelegen sind, besteht der Untergrund häufig aus Kies oder tonhaltigen Mineralien. Im Gegensatz zum Gebirge kann dies anstelle einer Flachfundation eine Pfahlfundation notwendig machen.» Ob ein Standort Altlasten aufweisen könnte, lässt sich vielfach mit einem Blick auf den Verdachtsflächenkataster und die Historie des Industriegebiets rasch ausfindig machen. Besonders zu analysieren gilt es die Gefahr von herunterfallendem Eis, das sich an den Rotorblättern bildet. «Da die Industriestandorte in der Schweiz sich fast ausschliesslich in Tallagen befinden, ist die Wahrscheinlichkeit einer Eisbildung im Vergleich zu erhöhten Lagen deutlich reduziert. Besteht ein gewisses Gefahrenpotenzial, gibt es heute nebst organisatorischen Massnahmen zur Risikominimierung wie die gezielte Lenkung von Fussgängern und Fahrzeugen auf dem Areal auch fortschrittliche technische Systeme zur Eisdetektion, Rotorblattheizungen oder Abschaltautomatiken», so der Senior Experte.
Chance für eine nachhaltige industrielle Energieversorgung
In der Schweiz wird mit ersten Projekten wie «RhintlWind» der SFS Group im Rheintal und der geplanten Windanlage zwischen der Autobahn und dem Bahnhof in Muttenz derzeit Pionierarbeit in Bezug auf die Produktion von Windenergie in Industriegebieten geleistet. Idealerweise über ein ganzes Gewerbegebiet und als integraler Bestandteil des lokalen Energieversorgungskonzepts gedacht, stellt Windkraft in Industriezonen eine vielversprechende Möglichkeit dar, um die industrielle Energieversorgung nachhaltiger, effizienter und unabhängiger zu gestalten.
Referenzen
[1] «Muttenz sagt Ja zum ersten grossen Windrad der Region Basel», SRF News, 18. Juni 2023.
[2] Viktor Sammain, «Ein Windrad für Muttenz und die Region», Megawatt, das Kundenmagazin von Primeo Energie, 2/2023.
[3] «Windstrom – auch bei Flaute», hamburg.de.
[4] «Windstrom aus dem Hafen für den Hafen», Hamburger Energiewerke, 10. Januar 2024.
[5] «Schweizer Windenergie ist systemrelevant», Suisse Éole, 2022.
[6] Kai Lichte, «Die Windräder im BMW Group Werk Leipzig werden in der Adventszeit zu Windkerzen», BMW Group Pressemeldung, 18. Dezember 2020.
[7] www.rhintlwind.ch, Projektwebsite, SFS Group AG.
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