Fachartikel IT für EVU

Es gibt noch viel Luft nach oben

Digitalisierung von EVUs

23.05.2022

Eine Umfrage zum Status quo im Bereich Digitalisierung bei den Schweizer Energieversorgern zeigt, dass es noch viel Luft nach oben gibt. Die Unternehmen agieren eher konservativ anstatt die Chancen der Digitalisierung für neue Geschäftsmodelle und mehr Kundenorientierung zu nutzen. Ausserdem sollten sie einen stärkeren Fokus auf die ICT-Sicherheit legen.

Digitalisierung meint die umfassende Vernetzung von Systemen, um umfangreiche Informationen sammeln, analysieren und in Handlungen umsetzen zu können und so einen Mehrwert für ein Unternehmen zu schaffen. Das Beratungsunternehmen Carle Energy Consulting hat 2021 mit einer Umfrage den Status quo im Bereich Digitalisierung bei Schweizer Energieversorgungsunternehmen (EVU) erhoben. Der Fragebogen deckte die wichtigsten acht Handlungsfelder im Zusammenhang mit der Digitalisierung ab (Bild unten).

An der Umfrage haben 114 EVUs aus der Romandie, dem Tessin und der deutschsprachigen Schweiz teilgenommen. Zur besseren Differenzierung der Umfrageergebnisse wurden die befragten Energieversorger anhand des Energieabsatzes in kleine, mittlere und grosse Unternehmen unterteilt. Die 114 Unternehmen gehören zu je ungefähr einem Drittel zu den kleinen, mittleren respektive grossen EVUs (Tabelle unten).

Funktionen von Smart Metern bei Weitem nicht ausgenutzt

Digitaler Vertrieb, Smart Metering und digitale Kunden-Interaktion sind jene Geschäftsprozesse, die im Rahmen der Digitalisierung zentral sind (Bild unten).

Smart Meter dienen als Ausgangspunkt für die Digitalisierung des Netzbereiches und sind nicht zuletzt auch vom Gesetz vorgeschrieben. Dieses Gesetz verlangt unter anderem einen Rollout von Smart Metern bei 80% aller Messeinrichtungen bis 2028.[1] Laut Umfrage haben 5% aller Firmen den Smart-Meter-Rollout bis Ende 2021 bereits vollständig umgesetzt. Weitere 33% sind mitten in der Umsetzung, und über 50% haben noch nicht damit begonnen.

Prioritär wird mit den Smart Metern der Stromverbrauch gemessen, teilweise wird zusätzlich der Stromverbrauch für den Kunden auch visualisiert (Bild oben). Am wenigsten werden Smart Meter bisher für dynamische Tarife, zur Identifizierung von Einsparpotenzialen und zum gesteuerten Laden von Elektrofahrzeugen eingesetzt. Bei der Anwendung von Smart Metern besteht also noch enorm viel Luft nach oben, auch wenn zur Umsetzung des Rollouts gemäss Gesetz noch etwas Zeit bleibt.

Digitalen Vertrieb ausbauen und wirtschaftlich optimieren

Im digitalen Vertrieb, einem weiteren für die Digitalisierung zentralen Bereich, stufen sich rund 25% der EVUs in Bezug auf den Reifegrad als tief ein, 55% sehen sich im Mittelfeld und 20% betrachten sich als eher fortgeschritten.

Durch eine grösstmögliche Kundenorientierung in der Produkt- und Dienstleistungsentwicklung lassen sich Kundenbedürfnisse rechtzeitig erkennen sowie besser und effizienter bedienen. Der Endkunde erwartet heutzutage ein reibungsloses, ganzheitliches Einkaufs- und Service-Erlebnis. Diese Anforderung steht im Gegensatz zum traditionellen Kundenkontakt von EVUs, der sich grösstenteils auf die jährliche Stromzählerablesung und den Versand der Rechnungen beschränkt. Digitale Kunden-Tools (Customer Self Service und Online-Vertriebskanäle für Produkte) sind aber bereits bei 45% aller befragten Energieversorger im Einsatz. Allerdings sind diese nur bei einem Viertel der EVUs wirtschaftlich, was auf eine mangelhafte Umsetzung hinweist (Bild  unten). Der Einsatz von Online-Vertriebskanälen für Produkte und Customer Self Service sollte somit bei den Schweizer EVUs nicht nur weiter ausgebaut, sondern auch wirtschaftlich optimiert werden. Dies entlastet interne Ressourcen und ermöglicht die Gewinnung neuer Kunden sowie Cross Selling.

Nur gerade 24% der Energieversorger verbreiten über digitale Kanäle regelmässig und mindestens jede Woche Inhalte wie News, Berichte und Projekt­erfolge, und nur 12% interagieren digital mit den Kunden. Etwa 25% sind in der digitalen Kommunikation gar nicht aktiv. Auch in diesem Bereich steht die Branche somit im Durchschnitt eher schlecht da. Sie hat einen enormen Nachholbedarf, um aktiv mit den Kunden zu interagieren, die Kundenbedürfnisse besser kennenzulernen und eine bessere Kundenbindung zu erzielen.

Wert von Kundendaten häufig nicht erkannt

Die Analyse von Kundendaten ermöglicht die Vorhersage von Kundenbedürfnissen. Dies wiederum erlaubt, Kunden zur richtigen Zeit mit passenden Angeboten anzusprechen. Bereits heute verfügen EVUs als Energielieferanten sowie Netz- und Messstellenbetreiber über enorme Datenmengen. Der Einsatz von neuen Verfahren der Datensammlung und -analyse sowie von künstlicher Intelligenz wird nur von 15% der Energieversorger angewendet, und bloss die Hälfte davon setzt diese Mittel wirtschaftlich ein. Viel zu wenig EVUs haben also den Wert ihrer Daten als Rohstoff des digitalen Zeitalters bislang erkannt.

Nur jedes zehnte EVU setzt ausserdem virtuelle Beratung ein, sei das über Avatare, Text- oder Video-Chat (Bild oben). Virtuelle Beratung hat aber bei mittelgrossen und grossen EVUs ein enormes Potenzial. So könnten Kunden beispielsweise gezielter bei der Steuerung des Energieverbrauchs unterstützt werden oder eine effizientere und zielgerichtetere Beratung erhalten.

Grosses ungenutztes Potenzial bei digitalen Geschäftsmodellen

In einer Digitalisierungsstrategie geht es auch um den Aufbau eines Angebots an neuen Produkten und Dienstleistungen. Die Hälfte der befragten EVUs setzt sich mit neuen digitalen Geschäftsmodellen theoretisch auseinander. Weniger als 30% haben diese schon erfolgreich eingeführt. Und nur bei 25% der befragten EVUs haben Investitionen in diesen Bereich im nächsten Jahr eine hohe Priorität.

Werden neue Geschäftsmodelle umgesetzt, sind dies die Direktvermarktung und Contracting-Lösungen, also jene, die nahe am klassischen Geschäftsmodell liegen und nur sehr bedingt digital sind. Geschäftmodelle mit einer digitalen Basis sind noch sehr wenig verbreitet. Smart-City-Ge­schäfts­modelle beschränken sich bei den befragten Unternehmen auf Smart Meter und Smart Lighting (Bild unten). Beinahe 90% der EVUs gehen aber nicht davon aus, dass digitale Geschäftsmodelle im Bereich Smart City in den nächsten zwölf Monaten einen wesentlichen Anteil ihres Geschäftes ausmachen werden.

Bei Geschäftsmodellen im Bereich der Elektromobilität besteht ebenfalls noch ein sehr grosses Potenzial, da sich Elektrofahrzeuge bald im Markt durchsetzen werden, die Energieversorger die Chancen von neuen Dienstleistungen in diesem Bereich aber noch kaum ergriffen haben. Bisher beschränken EVUs ihre Aktivitäten auf den Betrieb öffentlicher Ladestationen (80% der befragten EVUs), die Abrechnung für Ladestationen (50%) sowie auf den Verkauf und die Installation von Ladeinfrastrukturen (Bild oben).

Aufholbedarf bei interner Kommunikation zum Thema

Ob eine Digitalisierungsinitiative erfolgreich verläuft oder nicht, hängt auch von den Rahmenbedingungen ab, vor allem bei der Organisation im Unternehmen und bei der Infrastruktur. In erster Linie ist wichtig, dass das Management die digitale Transformation mitträgt und vorausgeht, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Ziele der Digitalisierungsstragie kennen, sich auf ihre Arbeit fokussieren können und alle Mittel für die Zusammenarbeit zur Verfügung haben.

Bei 95% der befragten Unternehmen wird die Digitalisierung durch den CEO, die Geschäftsleitung oder das Management vorangetrieben, wobei nur 10% diese digitale Transformation intern klar kommunizieren. Im Bereich Strategie-Kommunikation besteht somit noch ein enormer Aufholbedarf.

Digitalisierung erfordert auch eine Veränderung der Unternehmenskultur in Richtung höherer Flexibilität und Geschwindigkeit. Eine digitale Unternehmenskultur zu fördern – etwa durch die Rekrutierung von Digitalisierungsspezialisten –, hält das Gros der befragten EVUs jedoch für nicht besonders dringlich. Nur 20% geben einem kulturellen Wandel und der Einstellung von digital affinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine höhere Priorität. Dies überrascht, hängen doch die Erfolgsaussichten von Digitalisierungsanstrengungen auch davon ab, welche Kompetenzen ein Unternehmen dafür aufbauen will und kann. 20% geben ausserdem an, nicht über geeignete finanzielle Ressourcen zu verfügen, um die digitale Transformation zu bewältigen.

ICT-Sicherheit muss ausgebaut werden

Parallel zur Digitalisierung müssen auch die ICT-Sicherheit aufgebaut respektive gestärkt und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geschult werden, um das Risiko zu vermindern, erfolgreiches Ziel von Cyber-Attacken zu werden. Allerdings haben nur rund 20% der Umfrageteilnehmer ihr Unternehmen in Bezug auf ICT-Sicherheit (ISO 27002) und auf Geschäftskontinuität (ISO 22301/BSI 200-4) zertifizieren lassen. Bloss ein Drittel der Unternehmen hat sein Personal hinsichtlich Cyber Security sensibilisiert und geschult. Erstaunlicherweise sichern ausserdem nur 60% der Unternehmen regelmässig ihre Daten. Diese Resultate zeigen deutlich, dass im Bereich ICT noch grosser Optimierungsbedarf besteht.

Mit mehr Mut mehr machen

Im Grossen und Ganzen reagieren die Energieversorger im Hinblick auf die Digitalisierung eher konservativ und risikoscheu. Viele Firmen haben das Potenzial und die neuen Möglichkeiten der Digitalisierung noch nicht erkannt, geschweige denn, dass sie diese nutzen. Das typische EVU macht in Richtung Digitalisierung vorsichtige Schritte, ohne die möglichen Chancen auszuschöpfen. Da besteht noch ein grosser Nachholbedarf.

Immerhin konnten sowohl Effizienz als auch Geschwindigkeit sämtlicher Ge­schäfts­prozesse bei rund 50% der Unternehmen durch Digitalisierung gesteigert werden. Innovative Ansätze zur Erschliessung neuer Märkte und die Schaffung einer entsprechenden Unternehmenskultur müssen erst noch entwickelt werden. Zudem zeigen die Resultate der Befragung, dass es den Schweizer EVUs oft an einer gesamtheitlichen Strategie zur Umsetzung fehlt. Als Fazit muss konstatiert werden, dass die Schweizer EVUs im Durchschnitt eine mangelhafte Digitalisierungsstrategie verfolgen und die Zukunft mutiger angehen sollten.

Referenz

[1]   Artikel 17a des Stromversorgungsgesetzes (StromVG; SR 734.7) sowie Artikel 31e der Stromversorgungsverordnung (StromVV; SR 734.71).

Autor
Dr. Gian Carle

ist Inhaber der Carle Energy Consulting.

  • Carle Energy Consulting, 8700 Küsnacht

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