Fachartikel IT für EVU

Energie, die atmet

Energieversorgung wird Echtzeit

02.06.2021

Die Schweiz will ihre Energieversorgung unabhängig von nuklearen und fossilen Energieträgern machen. Stattdessen soll der benötigte Strom viel stärker aus erneuerbaren Quellen, vor allem Sonnenenergie, gewonnen und dezentral produziert werden. Mit seiner «atmenden Energieversorgung» zeigt Aliunid einen möglichen Weg auf.

Mit dem Ja zur Energiestrategie 2050 (ES2050) hat sich das Schweizer Volk für den Ausstieg aus nuklearen und fossilen Energien und für den massiven Ausbau von dezentralem Solarstrom entschieden. Wird diese Strategie konsequent umgesetzt, kommt das aktuelle, zentral organisierte Versorgungssystem an seine Grenzen.

Bei Ersatz der Kernkraft durch Solarstrom wird die Energieversorgung wetterabhängig: Bei Sonne gibt es zu viel Strom. Scheint sie nicht, gibt es zu wenig. Hinzu kommt, dass bei einem Kernkraftwerk die Energie zentral an einem Punkt ins Höchstspannungsnetz eingespeist wird. Der Ersatz der Kernkraft durch Solarstrom erfolgt demgegenüber durch sehr viele dezentrale Anlagen auf Verteilnetzebene. Die Kombination von hoher Wetterabhängigkeit und dezentralem Produktionsanfall macht die Koordination der Lastflüsse im Verteilnetz zur grossen He­rausforderung. Die Endversorger werden bei Umsetzung der ES2050 die Lastflüsse in ihren Niederspannungsnetzen aktiv koordinieren müssen. Dazu braucht es Echtzeitdaten. Sie sind die Grundlage der künftigen Energie- und Netzwirtschaft.

Obenstehendes Bild zeigt einen Messpunkt mit einer rückliefernden Solarstromanlage im Netzgebiet der IBW in Wohlen (AG). Am 20. März 2020, kurz vor Mittag, hat diese ihre Einspeisung kurzfristig versechsfacht. Solche Schwankungen sind verkraftbar, wenn es sich um wenige Anlagen und geringe Lasten handelt. Für den Ersatz der zentralen Kernkraft durch dezentralen Solarstrom ist das heutige top-down organisierte Stromsystem der Schweiz nicht vorbereitet.

Der Fokus des EVU in der Endkundenbeziehung liegt primär in der Energieverrechnung. Die entsprechenden Informationsgrundlagen und Systeme sind in hoher Perfektion und Verlässlichkeit verfügbar. Sie sind jedoch nicht echtzeitfähig (1- bis 5-Sekundentaktung), sondern liefern pro Messpunkte im besten Fall 15-Minuten-Summenwerte mit einer Verzögerung von 24 Stunden. Im schlechtesten Fall wird der Zähler einmal pro Jahr abgelesen. Analyse, Optimierung und Steuerung von Lastflüssen in Echtzeit sind mit dieser Datenbasis nicht möglich.

Atmende Versorgung in Echtzeit

Seit 2018 arbeitet das Schweizer Start-up Aliunid («all you need») an der Entwicklung und Umsetzung einer «atmenden Versorgung». Ziel ist ein End-to-End-Versorgungssystem von der Steckdose bis zum Kraftwerk. Dieses soll in Echtzeit bottom-up gesteuert werden und die übergeordneten Ebenen als Backup integrieren. Scheint die Sonne, atmet der Endkunde Energie ein, sprich die flexiblen Lasten werden erhöht und die dezentralen Speicher gefüllt (Wärme, Mobilität, Batterie etc.). Sind diese voll, werden die Speicher der nächsthöher gelegenen Ebene gefüllt. Dies setzt sich vom Mehrfamilienhaus übers Quartier bis zum EVU fort. Scheint die Sonne nicht, wird die Last reduziert und der Speicher genutzt («ausatmen»). Wer kann, liefert Energie sogar ins Netz zurück. Wenn das nicht reicht, kommt die flexible Schweizer Wasserkraft als zentraler Backup zum Einsatz. Das EVU wird zur koordinierenden Drehscheibe der atmenden Versorgung in seinem Versorgungsgebiet (Bild unten).

Eigenverbrauchsoptimierung reicht nicht

Damit die ES2050 umgesetzt werden kann, reicht die Optimierung des individuellen Eigenverbrauchs nicht aus. Eine atmende Versorgung muss eine ganzheitliche Optimierung aus Energie- und Netzoptik ermöglichen.

Dass eine solche ganzheitliche Optimierung in Echtzeit durch den Energieversorger einen Mehrwert bringt, ist in der folgenden Simulation dargestellt. Es stehen 4 Elektroboiler, 4 Wärmepumpen und 2 Batterien zur Verfügung und es sind insgesamt 13 kW Solaranlagen installiert (Bild unten).

Die erste Zeile (a) zeigt den Lastgang, ohne dass eine Flexibilität optimiert wird. Die Boiler heizen in der Nacht auf, ohne den lokal produzierten Solarstrom zu nutzen. Die zweite Zeile (b) zeigt, was passiert, wenn jedes Gebäude seinen Eigenverbrauch (unter Berücksichtigung der Leistung der PV-Anlage) für sich selbst optimiert. Da die Boiler zum Teil gleichzeitig aufheizen, kann nicht der ganze Verbrauch durch den Solarstrom gedeckt werden. Die dritte Zeile (c) zeigt das resultierende Lastprofil, wenn alle Häuser gemeinsam optimiert werden. Die Rückspeisung des Solarstroms kann deutlich minimiert werden.

Diese praktische Simulation zeigt, dass durch die kollektive Optimierung aller Ressourcen die Zielfunktionen – ob Verbrauch, Stromkosten oder Emissionen – effizienter optimiert werden können.

Atmende Produkte im Rollout

Ende 2020 konnte der schweizweite Feldtest «When energy breathes» erfolgreich mit einem Proof of Concept durch das BFE abgeschlossen werden: Durch in Echtzeit gesteuertes «Atmen» liess sich der individuelle CO2-Fussabdruck von einzelnen und mehreren aggregierten Messpunkten deutlich senken.

Darauf aufbauend hat Aliunid erste industrielle Anwendungen entwickelt, beispielsweise eine Gateway-Lösung zur Beschaffung von Echtzeit-Energiedaten beim normalen Endkunden. Um bestmögliche Datensätze aus bereits ausgerollten Stromzählern verfügbar zu machen, arbeitet das Start-up an der Schnittstellenintegration der in der Schweiz verwendeten Smart-Meter-Systeme. In einem weiteren Schritt soll der Aliu­nid-Gateway Metas-konform zertifiziert werden. Bereits ausgerollte Messsysteme werden dadurch echtzeitfähig und sollen die gesetzlichen Vorgaben an das Messwesen möglichst günstig erfüllen können.

Die so erhobenen Daten werden in einer App dargestellt. So entsteht der Kontext zwischen Verbrauch, Ökologie und Kosten und Kunden sehen nicht nur ihren Stromverbrauch in Echtzeit, sondern auch eine Darstellung des aktuellen Strommix sowie des CO2-Fussabdrucks ihres Strombezugs. Endkunden erhalten Hintergrundinformation und Interpretationshilfen in den Bereichen Klimaziele und Energieeffizienz und können so direkt Einfluss nehmen auf ihren individuellen CO2-Fussabdruck.

Gemeinsam mit den rund 20 Energie­unternehmen der Aliunid-Community will das Unternehmen im Laufe dieses Sommers den Endkunden eine Echtzeitalternative zu den herkömmlichen Zertifikatsprodukten anbieten: Echtzeitinformationen des lokalen Solarkraftwerks erlauben, den Solarstrom dann zu beziehen, wenn dieser produziert wird. Wird kein Solarstrom produziert, wird Wasserkraft aus definierten Kraftwerken aus dem Wallis und dem Tessin in Echtzeit geliefert.

Diese Transparenz spiegelt nicht nur die physikalische Realität. Sie liefert den Endkunden auch die richtigen ökonomischen Knappheitssignale. Darüber hinaus wird eine Emotionalisierung der für die sichere Versorgung «arbeitenden» zentralen und dezentralen Kraftwerke gefördert. Das Echtzeitstromprodukt erhalten Endkunden unter der Marke des lokalen EVUs und im Echtzeitstrommix der lokal verfügbaren Solarstromanlagen geliefert.

Damit das EVU die neue Rolle der lokalen Stromdrehscheibe wahrnehmen kann, muss seine Energiewirtschaft in Echtzeit transparent verfügbar sein. Dazu werden die relevanten Messpunkte des EVU (Einspeisung ab Unterwerk, fremde Bilanzgruppen, lokale Produktionsanlagen) in der privaten Cloud (Pric) in der energiewirtschaftlichen Logik des jeweiligen EVU zusammengefasst. Die Datenerfassung erfolgt im Sekundentakt und wird anschliessend in beliebiger Minutengranularität bereitgestellt. Das EVU kann damit nicht nur Echtzeitprodukte darstellen; es erhält die Kompetenz für präzise Prognosen von Verbrauchs- und Produktionsprofilen und zur Optimierung der benötigten Restenergiemengen (Restenergie = Verbrauch minus Eigenproduktion). Das EVU kriegt damit schrittweise die Instrumente in die Hand, welche es zur erfolgreichen Umsetzung der Energiestrategie 2050 benötigt.

100 % Schweizer Lösung mit vier Werten pro Messpunkt

Echtzeitdaten ermöglichen die Umsetzung der ES2050. Sie bergen jedoch auch Gefahren: Datenschutz und Cyber-Resilienz erhalten besondere Bedeutung. Aliunid verzichtet aus diesem Grund auf Lösungen ausländischer IoT-Anbieter (vgl. US Cloud Act) und nutzt Siot (Swiss Internet of Things) als Betriebssystem. Siot wurde von Andreas Danuser, Professor für Computer Science an der BFH in Biel und Mitgründer von Aliunid, entwickelt. Siot basiert auf einer dezentralen Datenstruktur, bei welcher jeder Messpunkt (Kunde, MFH, Quartier, EVU) seine Daten und die dazugehörige Intelligenz (zum Beispiel Sicherheit, Steueralgorithmen etc.) in seiner eigenen, privaten Cloud hält. Dritte haben nur Zugang zu Daten, solange sie explizit dazu berechtigt sind. Bei Berechtigungen arbeiten die einzelnen Prics zusammen und bilden einen mächtigen Schwarm. Dieser wird zielgerichtet in Echtzeit getaktet und kann damit eine atmende Versorgung für eine grosse Menge von Endkunden ermöglichen (Bild unten).

Damit das System End to End atmen kann, setzt das Unternehmen auf das Vier-Werte-Modell. Dieses reduziert die Komplexität pro Messpunkt auf vier Werte: Verbrauch unbeeinflusst, Eigenproduktion, Einatmen (Last erhöhen), Ausatmen (Last reduzieren). Diese Werte bilden einen durchgängigen Flexibilitätsstandard von der Wohnung über die Verteilkabine bis zum Pumpspeicherkraftwerk. Indem nur vier Daten pro Messpunkt alle 1 bis 5 Sekunden generiert und an die nächsthöhere Ebne verteilt werden, bleibt die Datenmenge im Gesamtsystem bewältigbar. Das Vier-Werte-Modell wurde 2018 zum Patent angemeldet.

Die Dezentralisierung von Daten und Intelligenz erlaubt Aliunid die Erfüllung höchster Anforderungen an Datenschutz und Sicherheit.

Innovation in der Praxis

Ziel von Aliunid ist, Energieunternehmen für die Anforderungen einer digitalen, dezentralen und dekarbonisierten Energiewelt bereit zu machen. Konkret heisst das, dass das Energieunternehmen (unabhängig von seiner Grösse) befähigt wird, die notwendigen Echtzeitdaten zu beschaffen, um neuartige Produkte zu entwickeln und den Anforderungen der ES2050 gerecht zu werden.

Dazu kann das Energieunternehmen die Aliunid-Lösung vor Ort testen. Das Testen ist auf eine bestimmte Anzahl Messpunkte begrenzt und ermöglicht ein Kennenlernen und erstes Abschätzen des Mehrwerts für das Energieunternehmen: Energie wird lebendig. Erkennt das EVU den Mehrwert für sich, kann es der Aliu­nid-Community beitreten. Die Aliunid AG gehört einer stetig wachsenden Zahl von Energie­unternehmen, welche die Energie­versorgung in Echtzeit gemeinsam aufbauen wollen.

Die Umsetzung der ES2050 erfordert Innovation und Umdenken. Innovation entsteht gemeinsam.

Autor
Dr. David Thiel

ist CEO der Aliunid AG.

  • Aliunid AG, 5001 Aarau

Intensivkurs

Aliunid bietet 100 Energieversorgern ein Bootcamp an. In einem auf drei Tage aufgeteilten Intensivseminar erhalten deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Einblicke in die Welt der atmenden Versorgung, des Internet of Things, der Datenanalytik und der digitalen Produkte. Zehn Gateways erlauben erste Erfahrungen mit dem technischen System vor Ort. Interessierte können sich unter bootcamp@aliunid.com anmelden.

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