Fachartikel Energiemarkt , Unternehmensorganisation

Digitali­sierung: Chancen und Heraus­forde­rungen

Digitalisierungsstrategie

06.12.2021

Die digitale Transformation ist Fundament und Treiber der Energiewende. Neue Technologien, wie künstliche Intelligenz, eröffnen neue Anwendungsbereiche, auch für Energieversorger. Eine ergebnisorientierte Digitalisierungsstrategie ist eine wichtige Voraussetzung, um durch den digitalen Dschungel zu navigieren und Projekte zielgerichtet und effizient umzusetzen.

Energieunternehmen sind schon heute Spezialisten, um die notwendige Verknüpfung der Anlagen der «klassischen Welt» mit der «digitalen Welt» herzustellen. Der Einsatz digitaler Technologien hilft, die Kosten zur Umsetzung der Energiewende zu kontrollieren, knappe Ressourcen besser einzusetzen und den Kundenbedürfnissen entsprechende Produkte und Dienstleistungen/ Services mit einer individuellen und direkten Kommunikation anzubieten.

Neue Geschäftsfelder setzen auf eine breite Basis intelligenter, digitaler Technologien, seien es zum Beispiel Dienstleistungen für dezentrale Erzeugung und Einspeisung, intelligente Verbrauchssteuerung oder Services für E-Mobilität. Dieser Fülle an Herausforderungen mit einer adäquaten und ganzheitlichen Strategie zu begegnen, ist mittlerweile von der Kür- zur Pflichtaufgabe geworden. Gerade bei einer bereichsübergreifenden und durchgängigen Digitalisierungsstrategie besteht bei vielen Versorgern Nachholbedarf. Digitalisierungsmassnahmen, die bisher oftmals in Betrachtung einzelner Prozesse gesehen und punktuell umgesetzt wurden, sollten zukünftig in einem unternehmensweiten Kontext entwickelt und einem strategischen Zielbild untergeordnet werden.

Als ein erster Schritt auf dem Weg in das digitale Zeitalter ist eine Standortbestimmung ein probates Mittel, um sein Unternehmen selbstkritisch zu analysieren und dessen Reifegrad der Digitalisierung zu bestimmen sowie Handlungsoptionen aufzuzeigen.

Situationsanalyse

Der digitale Reifegrad der Unternehmen in der Schweiz wurde in einer Studie der HWZ im Jahre 2019 (Bild unten) so dargestellt, dass 85% der Unternehmen (2018: 87%) als digitale Dinosaurier mit geringer Umsetzung der Digitalisierung in internen Prozessen («digitale operationale Exzellenz») in Verbindung mit einer in geringem Masse digitalisierten Kundenschnittstelle («digitales Kundenerlebnis») eingestuft wurden.

Das hat sich in der Zwischenzeit vermutlich verbessert, ist die digitale Transformation in den vergangenen zwei Jahren doch weiter fortgeschritten. Bei einem Durchschnittswert über die ganze Wirtschaft eines Landes hinweg darf jedoch die Frage gestellt werden, wo die Energiebranche und die EVUs im Vergleich dazu stehen würden.

Denn laut der Factlights-Studie 2020 agieren Energieversorger im Vergleich zu anderen Branchen punkto Digitalisierung eher etwas konservativ (Bild unten). Dies wird unter anderem daran deutlich, dass Investitionen im Rahmen von Digitalisierungsinitiativen nicht die höchste Priorität haben und selten strategisch ausgerichtet werden.

Die vor Kurzem erschienene Studie «Digital@EVU 2021» hat aus einer Befragung von kleinen, mittleren und grossen EVUs in zehn Ländern in Europa erhoben, dass über 56% aller befragten EVUs über eine Digitalisierungs-Strategie oder -Roadmap verfügen. In der gleichen Studie ist aber auch zu lesen, dass fast 80% der Unternehmen mit der Verbreitung von digitalisierungsrelevanten Kompetenzen im Unternehmen nicht sehr zufrieden sind. Dies lässt sich gut am Beispiel der Bedeutung von Daten zeigen, welche in Versorgungsunternehmen eher selten als wertvolles Wirtschaftsgut gesehen werden. Obwohl ein Energieversorger mit seiner Nähe zum Endkunden grundsätzlich die Möglichkeit hätte, selbstverständlich unter Wahrung des Datenschutzes, Daten zu erfassen und nutzbar zu machen, wird dies nur rudimentär genutzt, um beispielsweise Produkte entsprechend den Kundenbedürfnissen (weiter) zu entwickeln.

Fasst man diese Erkenntnisse zusammen und berücksichtigt die Tatsache, dass die Schweiz nur einen kleinen Teil des Energiemarktes liberalisiert hat, wird das Vorhandensein einer Digitalisierungs-Strategie oder -Roadmap bei Schweizer EVUs eher bei 20–30% denn bei 56% liegen.

Strategische Einordnung der Entwicklungen

Die Vielfalt und die schier grenzenlosen Möglichkeiten der Digitalisierung stellen für viele Versorger auch grosse Herausforderungen in der Konzeption und Umsetzung dar. Einerseits sind die Kundenerwartungen diesbezüglich sehr gross, andererseits sind die Zusatz­erlöse, die aus den neuen, digitalen Geschäftsmodellen generiert werden können, noch sehr klein (gemäss Factlights-Studie 2020 machen die Umsätze im digitalen Bereich der Befragten weniger als 1% aus).

Der wirkliche Treiber der Digitalisierung, das Erfüllen von Kundenbedürfnissen in einem liberalisierten Markt, fehlt hierzulande leider weitestgehend und limitiert so die Innovationen und auch Investitionen empfindlich.

Als Verwaltungsrat und Geschäftsführung eines zukunftsgerichteten Versorgungsunternehmens sollte man den strategischen Themen, ob das Unternehmen für die digitale Zukunft richtig aufgestellt ist, genügend Aufmerksamkeit zukommen lassen. Dabei geht es darum,

  • zu verstehen, was die digitale Revolution ist,
  • zu wissen, wie weit die Branche ist,
  • über den Tellerrand hinauszuschauen: Warum sind GAFA (Google, Amazon, Facebook, Apple) und Konsorten die neuen Mitbewerber?
  • den Status quo des eigenen Unternehmens richtig einschätzen zu können,
  • seine Handlungsoptionen zu kennen.


Wie eingangs erwähnt, ist ein Digitalisierungsradar (Bild unten) eine vielfach erprobte und zielführende Massnahme, um den digitalen Reifegrad eines Unternehmens individuell zu ermitteln.

Im Rahmen einer methodisch geführten Analyse lassen sich drei wesentliche Elemente ableiten, auf deren Basis ein EVU entsprechendes Rüstzeug für die digitale Transformation erhält:

  • Ermittlung der Ausgangssituation und des digitalen Reifegrades.
  • Definieren der Zielbilder, Integration in die Unternehmensstrategie und Identifikation der konkreten Massnahmen für jeden Funktionsbereich.
  • Planung der Umsetzung und kontinuierliche Überwachung der Digitalisierungsaktivitäten.


Im Grunde ist das ein normaler Projekt­ablauf, wie ihn Versorger in ihrer täglichen Arbeit insbesondere in Planung, Bau und Betrieb der Anlagen verinnerlicht haben. Der einzige Unterschied besteht wohl darin, dass der Treiber ein Kundenbedürfnis ist, und nicht der Versorgungsauftrag allein.

Relevante Entwicklungs­potenziale und ein Beispiel

Obwohl die Prozesseffizienz bei vielen Unternehmen an erster Stelle der Chancen und Potenziale mit der Digitalisierung gesehen wird (149 Nennungen von 671 Teilnehmern respektive 22%), ist die Energiebranche in der Digitalisierung zurückhaltend (Bild unten).

Dies erstaunt deshalb, da ein EVU, je nach Grösse und Anzahl Medien, mehrere Hundert Teilprozesse bedient und ein nicht geringer Teil davon auch direkt mit Endkunden zu tun hat. Das Potenzial zur Effizienzsteigerung mit den Möglichkeiten der Digitalisierung und Automatisierung ist daher gross bis sehr gross.

Die Chancen und Potenziale der Digitalisierung sind also bekannt, trotzdem kommt die Umsetzung nur schleppend voran. Dieses teils zögerliche Verhalten kann mit den wesentlichen Herausforderungen, die durch die Digitalisierung entstehen, erklärt werden (Bild unten).

Vielleicht ist es die Dynamik in der Digitalisierung und damit verbunden die Unsicherheit, ob sich das Investment auch lohnt, oder es ist eine gewisse Ohnmacht gegenüber der Vielfalt an neuen Anforderungen, die ein Unternehmen hemmt, die Digitalisierung ganzheitlich anzugehen.

Die Erfahrung zeigt, dass ein Unternehmen aus einer stringenten Strategie heraus jede Herausforderung meistern kann. Damit ist auch die Voraussetzung gegeben, kleinere Schritte umzusetzen, ohne das grosse Ganze aus den Augen zu verlieren. Gerade in den prozessorientierten Tätigkeiten, wie das folgende Beispiel zeigt, sind grosse Effizienz-Potenziale vorhanden, die, auch einzeln angegangen, schnell zu Ergebnisverbesserungen führen.

Beispiel Netzanschlussprozess

Hier sind von papierbasierten, zu 100% in Handarbeit getätigten über teilautomatisierte mit E-Mail und Melde-Portalen sowie manuellem Finishing bis hin zu volldigitalisierten Abläufen, die nur noch in Ausnahmesituationen manuelles Eingreifen erfordern, alle Formen der Automatisierung respektive Digitalisierung zu finden.

Dass die Unterschiede so gross sind, hat vor allem damit zu tun, dass der Nutzen einer voll digitalisierten Lösung nicht per se für alle Unternehmen gegeben ist. Für ein kleines EVU mit ein paar 100 Anschlusspunkten hat dies offensichtlich nicht den gleichen Stellenwert wie für ein EVU mit mehreren 100'000 Anschlüssen.

Die Frage nach dem «Weshalb sollte der Prozess digitalisiert werden?» ist nicht nur wichtig, sondern vor allem notwendig. Sie kann durch die Analyse dreier wesentlicher Treiber ganz einfach abgeleitet und beantwortet werden:

Kosten Eine Digitalisierungs-Initiative sollte kein reiner Selbstzweck sein. Wesentlicher Treiber für die Mehrwerte bestehen in der Realisierung von Effizienzgewinnen durch eine verstärkte Automatisierung. Als Kenngrössen können dazu eine ganze Reihe von KPIs herangezogen werden wie:

  • Anzahl Hausanschlüsse,
  • Anzahl Neuanschlüsse/Jahr respektive Monat,
  • Anzahl Kunden-Interaktionen zu Anschlussänderungen und Neuanschlüssen,
  • Anzahl Mitarbeiter/Hausanschluss,
  • Struktur- respektive Bereichskosten/Hausanschluss/Neuanschluss.


Daraus lassen sich relativ einfach die Potenziale ermitteln, die durch die Digitalisierung und Automatisierung gehoben werden können. Damit wird auch schnell erkannt, ob die nötigen Einsparungsmöglichkeiten wie Aufwandsreduktion oder dergleichen zielführend sind.

Prozesse Gut dokumentierte und aktuelle Prozesse sind das A und O der internen Digitalisierung. Es ist essenziell, dass die Prozesse aus Sicht «Effizienz» und «Kundennutzen» analysiert sind, bevor ein Digitalisierungs-Projekt gestartet wird.

Ist diese Voraussetzung gegeben, kann ein solch grosses Vorhaben auch in kleine, für die Organisation verdaubare, Teilprojekte (zum Beispiel im Rahmen der Digitalisierung von einzelnen Prozessen beziehungsweise Prozessbereichen) aufgeteilt werden. Dies hat den Vorteil, dass viel schneller Ergebnisse erzielt werden können und die Erfolgsmessung zeitnah erfolgt. Die Bestätigung der Zielerreichung ist ein wichtiger Bestandteil, soll er doch die Thesen und Prognosen bestätigen oder Erkenntnisgewinne bringen, um die weiteren Schritte entsprechend zu steuern.

Kunden Eine erfolgreiche und kosteneffiziente Digitalisierung kann nur dann erreicht werden, wenn man die Kundenbedürfnisse verstanden hat und man willens ist, diese in den Fokus zu rücken. Die reine Innensicht, die der Haltung «das kann der Kunde doch auch selbst machen» folgt, greift fast immer zu kurz. Sie führt dann in vielen Fällen zu Frustration und Ablehnung gegenüber der Digitalisierung, da die angestrebten Ziele (zum Beispiel die Anzahl Interaktionen im Portal) oft bei Weitem nicht erreicht werden.

Die Frage nach dem «Was ist der Benefit des Kunden, wenn er dies oder das digital machen kann?» ist im Umfeld der Versorgungsbranche noch zentraler, da der Kunde in einem monopolistischen Selbstverständnis steckt, in dem er von seinem EVU erwartet, dass es für ihn alles erledigt. Entsteht beim Kunden das Gefühl, den Job für das EVU übernehmen zu müssen, hält sich die Begeisterung, solche Services zu nutzen, in engen Grenzen. Erwächst dem Nutzer durch digitale Prozesse und Kundenschnittstellen jedoch ein Vorteil, wird er alles daransetzen, dass dieser Prozess zu seinem Vorteil abläuft und vor allem schnell vonstatten geht.

Das gilt selbsterklärend für alle Prozesse, nicht nur für den beispielhaften Netzanschlussprozess.

Werden all die Möglichkeiten, welche die digitale Transformation mit sich bringt, gesamthaft betrachtet, wird schnell klar, dass eine strategische Herangehensweise der einzige Weg ist, um die Situation langfristig zu beherrschen. Im Rahmen einer Digitalisierungsstrategie können auch weiterführende Fragen der Datensicherheit und -haltung, die Frage nach dem Sinn, ein eigenes Rechenzentrum zu bauen und zu betreiben, oder die Frage nach der Tiefe der IT-Wertschöpfung, auf das eigene Unternehmen angepasst, beantwortet werden.

Autor
Hans-Jörg Aebli

ist Geschäftsführer von Fichtner Management Consulting AG Schweiz.

  • Fichtner Management Consulting AG Schweiz, 8001 Zürich

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