Die sinnvolle Alternative
E-Mobilität im Netz
Immer mehr Steckerfahrzeuge bedeuten eine steigende Belastung der Netze. Diese könnte – auch ohne teuren Ausbau – abgefedert werden. Eine Motion im Parlament weist möglicherweise die Richtung.
Wann ist aus dem Wunsch nach einem Boom bei Elektrofahrzeugen Wirklichkeit geworden? War es 2017, als in Norwegen als weltweit erstem Land mehr Fahrzeuge mit Elektro- oder Hybrid-Antrieb als Verbrenner in Verkehr gesetzt wurden? Oder war es 2018, als in China erstmals über eine Million Elektrofahrzeuge abgesetzt wurden? Gute Chancen, dereinst als entscheidender Moment zu gelten, hat auch die Ankündigung von Mary Barra, dass ihr Konzern spätestens ab 2035 keine Verbrennungsmotoren mehr bauen und ab 2040 sogar gänzlich CO2-neutral sein wolle. Mary Barras Konzern heisst General Motors und ist der drittgrösste Autobauer der Welt. Oder war es vielleicht, als in der Schweiz im September 2020 erstmals über 20 % Steckerfahrzeuge verkauft wurden? Schliesslich war damit das Ziel der «Roadmap Elektromobilität Schweiz», welches für 2022 anvisiert war, bereits erreicht. Aber eigentlich ist die Frage nach dem «Wann» ja einerlei, denn viel wichtiger ist schliesslich die Feststellung «Dass».
Dass das E-Auto mittlerweile in einer breiten Masse salonfähig geworden ist, ist unbestritten. Und dass seine Marktanteile künftig weiter zunehmen werden, ist ebenso absehbar. Die Gründe dafür sind mannigfaltig: Nicht nur nimmt die Vielfalt an Modellen stetig zu, auch kündigt ein Autobauer nach dem anderen an, die Entwicklung und Produktion von Verbrennungsmotoren mittelfristig einstellen zu wollen. Ausserdem sind fossile Energiequellen nicht nur endlich, sondern auch in grossem Masse verantwortlich für den Klimawandel. Je stärker diese Erkenntnis die Gesellschaft durchdringt, umso stärker dürfte ihr Wunsch werden, selbst einen Beitrag zu leisten und auf alternative Energiequellen umzusteigen. Ausserdem hat sich die Schweiz, wie 188 weitere Staaten, im Pariser Klimaabkommen dazu verpflichtet, die Erwärmung des Erdklimas durch die Reduktion von Treibhausgasen zu stoppen. Um ihre Klimaziele (netto null Emissionen) zu erreichen, muss die Schweiz ihre beiden grössten Treibhausgasquellen, das Heizen und den Verkehr, zwingend zum Versiegen bringen. Weil die Menschen aber weder im Winter frieren noch ganzjährig zu Fuss gehen wollen, heisst die Lösung in beiden Fällen Elektrifizierung.
Bald mehr Steckerfahrzeuge als Verbrenner?
Während nun eine Heizung eher selten ersetzt werden muss, gibt es keinen Grund anzunehmen, dass die Wechselfrequenzen bei elektrisch betriebenen Fahrzeugen stark von jenen fossil angetriebener Autos abweichen werden. Leasing-Verträge erlauben heute, alle drei, vier Jahre mit einem neuen Auto aufzuwarten – egal, ob es einen Tank oder eine Batterie hat. Und lag der Fokus bei E-Fahrzeugen früher eher auf Funktionalität denn auf Design, haben die Autobauer auch in diesem Punkt einen Sinneswandel vollzogen. Heute machen E-Fahrzeuge auch optisch etwas her, so dass sie auch für Käuferinnen und Käufer interessant geworden sind, die Wert auf die Ästhetik ihres fahrbaren Untersatzes legen. Höhere Absatzzahlen sorgen ausserdem für Skaleneffekte bei der Produktion, was sich im Preis niederschlägt: E-Fahrzeuge gibt es mittlerweile schon für um die 20'000 Franken. Gleichzeitig bedienen mittlerweile auch die «gehobeneren» Marken ihre Klientel mit entsprechenden Modellen, um deren Anspruch an Komfort und Repräsentation gerecht zu werden. Natürlich werden trotzdem noch lange noch viele Verbrenner auf den Strassen unterwegs sein, denn nach wie vor werden Fahrzeuge auch gekauft statt geleast – und annähernd ans Ende ihres Lebenszyklus gefahren. So existiert auch in der Schweiz ein grosser Markt für Gebrauchtwagen. Dennoch werden E-Fahrzeuge mittelfristig wohl Überhand nehmen.
Im Prinzip gleich, aber eben doch verschieden
Viele E-Fahrzeuge bedingen viele Ladestationen. Obwohl das Prinzip beim Tanken und beim Laden das gleiche ist, unterscheiden sich die beiden Vorgänge dennoch grundlegend. Betankt ist ein Auto in wenigen Minuten, geladen erst nach mehreren Stunden. Zwar gibt es öffentliche Schnellladestationen entlang der Autobahn, diese sind aber eher etwas für Ferienreisende und Aussendienstmitarbeiter. Der Grossteil des Ladens wird zu Hause oder am Arbeitsplatz stattfinden. An diesen Orten steht das Fahrzeug während mehrerer Stunden und kann mit verhältnismässig kleiner Leistung netz- und batterieschonend geladen werden. Am Arbeitsplatz obliegt die Entscheidung dem Arbeitgeber, ob und zu welchen Konditionen er Ladestationen für Mitarbeiter einrichten will. Im Eigenheim wählt der Hauseigentümer, welche Lösung für ihn in Frage kommt. Doch wie sieht es für Mieterinnen sowie für Stockwerkeigentümer in Mehrfamilienhäusern aus?
Nicht eben rosig, ist man versucht zu schreiben. Mieter und Stockwerkeigentümerinnen sind in dieser Frage bislang auf das Entgegenkommen von Immobilienbesitzern, Verwaltungen und Miteigentümerinnen angewiesen und können nicht autonom eine Ladestation bei sich installieren. Ändern wollen das nun der Verband Swiss eMobility und dessen Präsident Jürg Grossen. Der Berner GLP-Nationalrat hat im März im Parlament eine Motion eingereicht, die ein «Recht auf Laden» fordert. Mieter und Stockwerkeigentümerinnen sollen künftig Anspruch darauf haben, eine eigene Ladestation installieren zu dürfen, wie dies bereits in anderen europäischen Ländern der Fall ist. Mit dieser Motion sollen gleichzeitig auch Immobilienverwaltungen und -eigentümer angesprochen werden. Diese sollen nämlich entscheiden können, ob sie in ihren Gebäuden eine Ladelösung im Sinne eines Gesamtsystems anbieten und vorfinanzieren wollen, oder ob sich Mieterinnen und Stockwerkeigentümer für individuelle Lösungen entscheiden können. Nehmen National- und Ständerat die Motion an, wird der Bundesrat verbindlich mit entsprechenden Vorschlägen für eine Gesetzesänderung beauftragt. Die Diskussion ist nun lanciert.
«Ein sinnvoller Vorschlag»
«Aus unserer Sicht ist das ein sinnvoller Vorschlag», sagt Olivier Stössel, Leiter Netze und Sicherheit beim Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen VSE. «Die Motion verlangt, dass Fahrzeuge dort geladen werden, wo sie am längsten stehen. Auf diese Art können sie auch langsam geladen werden, wodurch das Stromnetz weniger stark belastet wird.» Die Installation von mehr Ladestationen in Tiefgaragen von Mehrfamilienhäusern und Bürogebäuden sei daher durchaus im Sinn der Verteilnetzbetreiber, allerdings mit einer Einschränkung: «Wie Jürg Grossen in der Motion schreibt, sind aus Sicht der Netzintegration und für die Stabilität des Stromnetzes intelligente und steuerbare Ladesysteme vorzuziehen.» Ausserdem hält Grossen in seiner Begründung fest, dass koordinierte, skalierbare und für das Gesamtsystem in Mehrparteiengebäuden sinnvolle Ladelösung anzubieten seien. Auch das sei richtig, sagt Olivier Stössel, denn installiere jede Partei eines Mehrfamilienhauses ihre eigene Ladelösung, verhinderte dies eine effiziente Steuerung.
Ein Beispiel verdeutlicht, warum Steuerung so wichtig ist. Wenn an einer typischen Quartierstrasse mit 20 Häusern vier leistungsstarke 22-kW-Ladestationen installiert sind, an die beispielsweise am Sonntagabend vier schwere Elektrofahrzeuge mit grosser Batterie angehängt werden, beziehen diese eine Leistung von insgesamt 88 kW. Dies entspricht dem Bezugswert von 20 Einfamilienhäusern. Wenn an dieser Strasse in fünf Jahren weitere sechs oder sieben E-Fahrzeuge hinzukommen, stösst das Netz an seine Grenzen. Dann müssen Strassen aufgerissen, Kabel verlegt und neue Trafos gebaut werden, um die Netzkapazität für die erhöhte Ladeleistung zu erweitern. Die Netzbetreiber verfügen aber nicht über die für diese Arbeiten nötigen Ressourcen, weil an einem solchen Netz in der Regel bloss alle 40 bis 60 Jahre etwas ersetzt wird. Wenn nun plötzlich viel mehr an den Verteilnetzen in den Quartieren und an den Zubringern gearbeitet werden müsste, bräuchte es entsprechend mehr Manpower. Ironischerweise würden dann noch mehr von genau jenen Fachkräften benötigt, die heute schon knapp sind: Netzelektrikerinnen und Netzelektriker sowie Projektleiter und Projektleiterinnen mit Erfahrung auf dem Netz. Abgesehen davon, dass solche Ausbauten um ein Vielfaches teurer wären als die Installation intelligenter und effizienter Ladelösungen, hätten sie für die Anwohnerinnen und Anwohner auch Baulärm und -dreck sowie Einschränkungen bei der Zufahrt zu ihrer Liegenschaft zur Folge.
Eine Beeinflussung des Ladens hält Olivier Stössel nicht nur für die sinnvollste Variante, sondern auch für am einfachsten umsetzbar: «Das Auto muss nicht immer mit voller Leistung geladen werden, um dann vollgeladen herumzustehen. Es muss stattdessen immer genügend Energie gespeichert haben, um die Mobilitätsbedürfnisse des Fahrers zu decken.» Die meisten Autobesitzer legten pro Tag im Schnitt nur etwas mehr als 30 Kilometer zurück. Das entspreche etwa 8 Kilowattstunden, die man über Nacht bei einer Ladeleistung von vier Kilowatt in zwei Stunden wieder drin habe. Und wenn es, beispielsweise am Sonntagabend, dennoch mal zu einem «Ansturm» auf das Netz komme, weil alle am Montag ihr geladenes Fahrzeug benötigen, könne der Bedarf zum Beispiel über eine mehrstufige Tarifierung gesteuert werden. «So kann jeder exakt die Tarifstufe wählen, die seinem Ladebedürfnis am besten entspricht.» Damit seine Batterie rechtzeitig voll geladen sei, nehme der Aussendienstmitarbeiter, der am Montagmorgen 200 Kilometer zu einem Kunden fahren muss, dann halt einen etwas höheren Tarif in Kauf als der Angestellte, der seine 30 Kilometer ins Büro auch mit einer nur zur Hälfte geladenen Batterie bewältigen könne.
Laden, ohne die Netze zu überlasten
Wird der Verkehr zunehmend elektrifiziert, hängen des Nachts mehr Steckerfahrzeuge am Netz. Eine oft gestellte Frage ist darum, ob das Netz dafür überhaupt gerüstet sei. «Werden Ladestationen auf geeignete Weise in die Netze integriert, halten sie das aus», sagt Olivier Stössel. «Mit Tarifanreizen könnte man den Endverbrauchern Optionen eröffnen, um das Netz optimal zu nutzen. So können die Lasten gesteuert werden, damit es praktisch immer aufgeht. Tritt aber der – sehr seltene – Fall ein, dass eine Überlastung droht, muss der Netzbetreiber ausnahmsweise direkt eingreifen können und beispielsweise sämtliche Ladestationen in einem Netzgebiet temporär um fünfzig Prozent drosseln.»
Um harte Abschaltungen (wie sie beispielsweise bei Boilern üblich sind) von angeschlossenen E-Fahrzeugen zu verhindern, hat eine Arbeitsgruppe, welcher der VSE sowie seine Pendants aus Deutschland (BDEW), Österreich (ÖE) und der Tschechischen Republik (ČSZE) angehören, eine Schnittstelle definiert, über die Ladestationen künftig verfügen müssen, um eine Zulassung zu erhalten. Über diese Schnittstelle kann der Netzbetreiber der Ladestation mitteilen, dass sie den Ladestrom innert einer bestimmten Zeit reduzieren muss. Das angeschlossene Fahrzeug kann den Ladevorgang dann kontrolliert herunterfahren und später neu starten. Die Definition dieser Schnittstelle soll bald publiziert und ab 1. Januar 2022 verpflichtend werden. Die meisten Hersteller bauen solche Schnittstellen schon seit geraumer Zeit ein, damit die Ladegeräte beispielsweise mit dem Wechselrichter von PV-Anlagen kommunizieren können.
Das Netz scheint also gewappnet für den steigenden Durst des Verkehrs nach Strom. Alles gar kein Problem also? «Das Netz kann die zunehmende E-Mobilität bewältigen, wenn die Netzbetreiber den Ladevorgang beeinflussen können, sei es über finanzielle Anreize oder per Direktsteuerung», erklärt Olivier Stössel. Die einzige andere Möglichkeit wäre, das Netz massiv auszubauen, was aber, wie dargelegt, weder aus Ressourcen- noch aus Kostengründen eine realistische Alternative ist. Für den Experten ist klar, dass die Verteilnetzbetreiber die Endverbraucher auf dem Weg zu einer genügend ausgebauten Ladeinfrastruktur ohne flächendeckenden Netzausbau begleiten müssen: «Diese Entwicklungen können die beteiligten Akteure am besten gemeinsam, also Hand in Hand meistern. Durch ihre Investitionsentscheidungen und ihr Nutzerverhalten haben Endverbraucher grossen Einfluss auf die Dimensionierung des Netzes. Die Verteilnetzbetreiber verfügen über das Know-how und die Erfahrung, um ihren Kunden mittels Anreizen zu helfen, gute Lösungen zu beschaffen.» Die Motion von Jürg Grossen rückt dieses Thema nun in den Fokus und bietet die Gelegenheit, nötige Rahmenbedingungen zu setzen, um überzeugende Lösungen zu finden – und zwar für alle Seiten.
Kommentare
Philippe F. Huber,
Gutes Artikel, aber man hätte zusätzlich konkrete Zahlen angeben sollen, um es noch deutlicher klarer zu machen. Eine Million E-Autos, die gleichzeitig mit 10 kW laden bedeutet eine zusätzliche Stromlast von 10'000 MW! Das geht sicher nicht in einer Winternacht, wenn die Sonne nicht scheint und Boiler sowie Wärmepumpen gleichzeitig Strom beziehen möchten.