Die Energie des Maggiatals
Pumpspeicherkraftwerk Robiei
Mit einem Gefälle von knapp 2200 m erstreckt sich ein hydraulisches System vom Oberwalliser Griessee bis in den Lago Maggiore. Das Kraftwerk Robiei stellt darin eine Schlüsselkomponente dar.
Im hinteren Teil des Maggiatals zweigt das Bavonatal ab, ein wildes Tal mit im Sommer bewohnten Rustici, die nicht ans Stromnetz angeschlossen sind. Über die Gründe für diesen Verzicht kursieren einige Geschichten, wobei das plausibelste Argument der Wunsch ist, das Tal in seinem ursprünglichen Zustand zu erhalten. Lediglich San Carlo, das letzte Dorf im Tal, wird mit Strom versorgt. Eigentlich ist die fehlende Elektrifizierung des Tals paradox, denn am Ende des Bavonatals befinden sich zwei der leistungsstärksten Wasserkraftwerke des Kantons Tessin: das Kraftwerk Bavona direkt beim Dorf San Carlo und das Kraftwerk Robiei, 800 m weiter oben, das nur mit der Seilbahn ab San Carlo erreicht werden kann.
Robiei ist ein Pumpspeicherkraftwerk, das von den Maggia Kraftwerken AG, Ofima, betrieben wird, und zum Maggia-Kraftwerkssystem gehört. Ofima wurde 1949 gegründet, als die Konzession für die Nutzung der Maggia und ihrer Zuflüsse erteilt wurde. Das damals erstellte Konzept sah einen Ausbau des Systems vom Oberwalliser Griessee bis zum Lago Maggiore in zwei Ausbaustufen vor. Eigentlich hätten die Walliser ihr Wasser im eigenen Kanton nutzen können, aber sie erkannten, dass es sich lohnt, das Wasser wegen dem höheren Gefälle von knapp 2200 m im Tessin zu turbinieren.
Die erste Maggia-Kraftwerksstufe wurde von 1950 bis 1955 gebaut. Ein Jahrzehnt später folgte die zweite Ausbaustufe der insgesamt 140 km Stollen, die ohne Tunnelbohrmaschinen erstellt wurden. Zu den Maggia-Kraftwerken zählen heute 9 Speicherbecken, 7 Kavernenkraftwerke und 35 Wasserfassungen. Während der zweiten Ausbaustufe wurde auch das Kraftwerk Robiei gebaut, das nebst dem Wasser aus dem Oberwallis auch das des Bedrettotals nutzt.
Ein Projekt dieser Dimension ist auf grosse Investoren angewiesen. Im Tessin hatte man damals das Potenzial der Wasserkraft zwar erkannt, verfügte aber weder über die nötigen finanziellen Mittel noch über den entsprechenden Strombedarf. Bei den deutschschweizer Kantonen präsentierte sich die Situation anders, denn mit der Industrialisierung waren sowohl die Nachfrage nach Elektrizität als auch das erforderliche Geld vorhanden. Solche Anlagen waren für sie attraktiv. Zudem haben Kantone und Städte einen Partnerwerkvertrag im Kanton Tessin ins Leben gerufen, damit sich die Städte finanziell beteiligen und den Strom beziehen konnten.
Der Kraftwerksbau in Robiei
In Robiei war die Logistik des Baus anspruchsvoll, denn sämtliche Komponenten mussten mit einer Seilbahn hinaufgebracht werden. Bei der Planung musste berücksichtigt werden, dass kein Kraftwerksteil die Tragfähigkeit der Bahn von 20 t überschreitet. Deshalb wurden kompakte Maschinen mit schnell drehenden Francis-Laufrädern mit einer Drehzahl von 1000 U/min gewählt.
Obwohl die Seilbahn heute hauptsächlich dem Tourismus dient, konnte sie schon früher für Personentransporte genutzt werden. Bis zu 100 Personen können pro Fahrt befördert werden. Diese schweizweit leistungsstärkste Seilbahn wurde erst 50 Jahre später durch die 40-t-Schwerlastseilbahn übertroffen, die für den Bau des Kraftwerks Linth-Limmern errichtet wurde – die aber mittlerweile wieder zurückgebaut wurde.
Ofima besitzt somit nicht nur bei der Wasserkraft Erfahrung, sondern auch mit Luftseilbahnen. Mit sieben Seilbahnen für die Maggia-Kraftwerke und zwei für die Blenio-Kraftwerke ist sie die grösste Seilbahnbetreiberin des Kantons Tessin. Ein eigenes Team ist für die Instandhaltung zuständig. Diese Kompetenzen sind auch bei anderen Seilbahnbetreibern beliebt, die entsprechende Dienstleistungen von Ofima beziehen.
Dass alpine Baustellen nicht nur eine logistische Herausforderung sind, sondern auch ihre Risiken haben, musste die Gesellschaft ebenfalls erfahren, denn der Bau eines Freispiegelstollens zwischen dem Maschinenhaus Altstafel und dem Lago di Robiei wurde durch ein tragisches Unglück getrübt. Am 15. Februar 1966 starben in diesem praktisch fertigen Stollen in Robiei insgesamt 17 Bauarbeiter an Sauerstoffmangel, darunter 15 Italiener. Dies geschah ein halbes Jahr nach dem grossen Unglück auf der Baustelle des Staudamms von Mattmark, wo die Baracken durch einen Gletscherabbruch zerstört wurden und 88 Bauarbeiter, ebenfalls mehrheitlich Italiener, starben. Diese Unfälle führten zu Verstimmungen zwischen Italien und der Schweiz, weil Italien die hiesigen Sicherheitsvorkehrungen als ungenügend betrachtete.
Technische Pionierleistungen
Mit seinen fünf Maschinen mit über 150 MW installierter Pumpleistung stellte Robiei in den 1960er-Jahren eine Pionierleistung dar. Auch der Maschinentyp war damals neu: Die reversiblen Francis-Pumpturbinen, die in eine Drehrichtung pumpen und in die andere turbinieren, gehörten zu den ersten Anlagen in der Schweiz. Später wurde dieser Typ weiterentwickelt und weltweit exportiert.
Im Pumpbetrieb wurden die Maschinen ungeregelt betrieben, wobei die Fallhöhe die Pumpleistung bestimmte. Bei diesem neuen Konzept hatte man anfänglich Schwingungs- und Vibrationsprobleme, und dies sogar beim Turbinieren, obwohl ein Regelbetrieb mit Leistungsvariation vorgesehen war – wie er bei Francisturbinen üblich ist. Auch das spätere Eingiessen der Druckrohre in Beton hat die Situation nicht entschärft. Der variable Betrieb musste eingestellt werden, die Pump- und Turbinierleistung war ab dann fix. Spätere Untersuchungen zeigten, dass Auslegungsfehler der Grund für diese Vibrationen waren.
Nebst den vier reversiblen Maschinen wurde eine fünfte, kleinere Maschine installiert, der Prototyp einer Isogyre-Pumpturbine. Das Besondere an diesem Maschinentyp war, dass er sich sowohl fürs Turbinieren als auch fürs Pumpen in die gleiche Richtung drehte. Je nachdem auf welches Laufrad das Wasser geleitet wurde, erfüllte sie eine andere Funktion. Alles war mechanisch geregelt. Gemäss dem Ofima-Direktor Marco Regolatti war die Isogyre von Robiei 1968 die erste industrielle Anwendung einer solchen Pumpturbine. Erst mehrere Jahre später wurde eine zweite, leistungsstärkere Isogyre bei den Grimselkraftwerken installiert. Aber nach wenigen weiteren Installationen wurde das komplexe und störungsanfällige Konzept aufgegeben. Weil die Maschine in Robiei heikel war, wurde sie insbesondere als Pumpe selten genutzt.
Die Gesamterneuerung
Als zwischen 2010 und 2016 das Kraftwerk Robiei komplett erneuert wurde, beschloss man, auf die Isogyre zu verzichten und sie durch eine klassische Francisturbine zu ersetzen. Die neue Turbine kann statt der früheren 10 MW eine Leistung von 25 MW erzeugen – auch wirkungsgradmässig ein gewaltiger Sprung. Reversible Pumpturbinen stellen bezüglich Effizienz immer einen Kompromiss dar. Die klassische Turbine ist hingegen auf einen exzellenten Wirkungsgrad für die Erzeugung optimiert.
Im Erneuerungsprojekt, das insgesamt 110 Mio. CHF kostete, wurden auch die vier 40-MW-Maschinen ersetzt. Bei ihnen war leistungsmässig keine Erhöhung möglich, weil ihr Gewicht durch die Seilbahn begrenzt war. Zudem ist der Platz in der Kaverne beschränkt. Die neuen Maschinen können nun im Turbinierbetrieb durch Verstellen der Leitschaufeln variabel betrieben werden, denn die Vibrationsproblematik konnte mit der neuen hydraulischen Auslegung gelöst werden.
Neu sind aber nicht nur alle Maschinen, sondern auch die Anfahrmethode. Die ursprünglichen Maschinen wurden brachial mit einem Anlasstrafo in drei Leistungsschritten auf 50 Hz gebracht, was ihre Lebensdauer verkürzte. Die Maschinen mussten deshalb schon nach 40 Jahren ersetzt werden, was für solche Anlagen eine relativ kurze Zeit ist.
Gemäss Marco Regolatti werden die Maschinen nun mit einem neuen Anfahrkonzept angefahren, der Back-to-Back-Methode. Dabei wird eine Pumpe elektrisch mit einer Turbine kurzgeschlossen und die Turbine wird angefahren. Da sie elektrisch mit der Pumpe verbunden ist, fährt auch die Pumpe hoch. Sobald die Pumpe die Nenndrehzahl erreicht, wird sie mit dem Netz synchronisiert und bezieht den Strom vom Netz statt von der Turbine. Der Pumpbetrieb startet und die Turbine kann heruntergefahren werden. Auf diese Weise lassen sich mit den fünf Maschinen in Robiei alle Gruppen anfahren, denn die fünfte Maschine, die nur turbinieren kann, fährt die letzte Pumpe an und wird dann abgestellt.
Aber nicht nur das rabiate Anfahren setzte den ursprünglichen Maschinen zu, sondern auch die grossen Höhenvariationen, die zu starken Kavitationen führten. Deshalb entschied sich die Gesellschaft, für die neuen Maschinen zwei unterschiedliche Laufräder einzusetzen: Zwei waren für die höhere Fallhöhe optimiert, zwei für die niedrigere. Nach der Inbetriebnahme stellte man aber fest, dass diese Aufteilung ziemlich einschränkend war, weil es Betriebsbereiche gab, in denen nur zwei Maschinen genutzt werden konnten. Diese Situation wurde anschliessend optimiert, indem den höheren Fallhöhen drei Maschinen zugewiesen wurden. Eine Maschine reicht für die niedrigeren Höhen aus, denn sie treten seltener auf. Marco Regolatti präzisiert: «Heute würde man sich vermutlich für einen einzigen Typ entscheiden, um die Komplikation im Betrieb zu umgehen. Denn jetzt muss man kontrollieren, wie viele Maschinen zur Verfügung stehen und wie viel Pumpleistung man verkaufen kann.» Aus kavitationstechnischer Sicht ist aber die 3:1-Lösung der beste Kompromiss.
Erfahrungen und Entwicklungen
Durch die technischen Pionierleistungen konnten bei den Maggia-Kraftwerken viele Erfahrungen gesammelt werden. Dabei brauchte es manchmal einige Anläufe, bis eine gute Lösung gefunden werden konnte. Die Arbeit hat sich gelohnt, denn die Maggia- und die Blenio-Kraftwerke sind gemeinsam bezüglich Speicherwasserkraft grössenmässig beispielsweise vergleichbar mit den Kraftwerken Oberhasli, die das Grimselgebiet nutzen. Trotz dieser Grösse werden sie oft nicht wahrgenommen. Bei der Verfügbarkeit haben die Maggia- und Blenio-Kraftwerke einen strategischen Vorteil, denn die 1230 MW installierte Leistung sind dezentral auf 29 Maschinen verteilt. Somit steht auch beim Abstellen einzelner Produktionseinheiten fast die gesamte Leistung zur Verfügung.
Während sich in den kommenden Jahrzehnten in Robiei dank der Erneuerung technisch wenig verändern wird, sieht es bei den Besitzverhältnissen anders aus: Bei der Erteilung der Konzession Ende der 1940er-Jahre war der Kanton Tessin auf deutschschweizer Investitionen angewiesen. Der Enthusiasmus wurde aber gedämpft, als man sah, welche Gewinne die Investoren mit dem Wasser machten. Nun möchte der Kanton Tessin die Kraftwerke übernehmen. Wann dies geschehen wird, ist wegen dem Heimfall absehbar, denn der Kanton hat bereits angekündigt, dass es keine Konzessionsverlängerung geben wird: Bei der Ausbaustufe Maggia 1 ist dies bereits 2035 der Fall. Natürlich ist diese Übernahme auch ein Risiko, weil der Ertrag wetterabhängig ist. In einem trockenen Jahr können die finanziellen Einbussen beträchtlich sein. Es ist noch nicht klar, wie sich hier der Kanton Tessin aufstellen wird. Aber der Niederschlag des Jahres 2024 stimmt doch optimistisch.
Kommentare
Alfred Seiterle,
Dieser informative Artikel bringt uns eine technisch anspruchsvolle, faszinierende Anlage näher. Da lohnt es sich noch einmal genauer in die dahinter steckende Technik reinzuschauen. Wäre bestimmt ein lohnendes Exkursionsziel.