Das umkämpfte Restwasser
Im Spannungsfeld dreier Krisen
Der Klimawandel schreitet voran, der Biodiversitätsverlust verschärft sich und die Energieversorgung ist angespannt. Diese drei globalen Herausforderungen betreffen sowohl die Gewässer und Auengebiete als auch die gesamte Wasserwirtschaft, insbesondere die Wasserkraft. Im Schnittpunkt der drei Krisen steht das politisch umkämpfte Restwasser.
Seit Jahrzehnten wird über die Frage nach angemessenen Restwassermengen debattiert. Schlagzeilen wie «Restwasser sorgt für rote Köpfe», «Weniger Strom, dafür mehr Fische» oder «Nationalrat will Restwasserregeln sistieren» geben einen Einblick in die kontroversen Positionen. Als Restwasser bezeichnet das Gewässerschutzgesetz (GSchG) die Abflussmenge, die nach einer Wasserentnahme im Fluss verbleiben soll. Der Flussabschnitt zwischen Wasserentnahme und -rückgabe stellt die Restwasserstrecke dar; in der Schweiz gelten rund 2300 km aufgrund der Wasserkraftnutzung als Restwasserstrecken (Bild 1).
Die Wasserkraft wird in der Schweiz schon lange genutzt: Historische Quellen besagen, dass vor 100 Jahren an rund 7000 Orten Wasserkraft genutzt wurde, vor allem für Sägereien oder Mühlen. Heute sind rund 2400 Wasserkraftanlagen registriert, die etwa 60% der inländischen Elektrizität erzeugen. Dabei kommen die grössten 42 Kraftwerke für 50% der Wasserkraftproduktion auf; die grössten 122 Kraftwerke tragen insgesamt 80% bei. Die intensive Nutzung der Wasserkraft geht nicht spurlos an den Flussökosystemen vorbei. Beispielsweise unterbrechen Stauanlagen den Geschiebetransport und die Wanderkorridore von Fischen [1] und erhöhen damit den Druck auf die auch anderweitig stark genutzten Flussökosysteme. Diese sind aber für den Biodiversitätsschutz besonders wichtig: Über 80% der bekannten Tier- und Pflanzenarten der Schweiz kommen in und an Gewässern vor [2]. Gleichzeitig finden sich heute überdurchschnittlich viele Fliessgewässer-Bewohner auf der Roten Liste für bedrohte Arten, beispielsweise 65% der Fischarten.
Mit der Klimakrise werden die unterschiedlichen Ansprüche an die Ressource Wasser weiter zunehmen und auseinandergehen. Dieser Artikel zeigt auf, wie die Restwasser-Thematik mit der Klima-, Biodiversitäts- und Energiekrise verknüpft ist.
Rechtliche Grundlagen
Seit 1975 verlangt die Bundesverfassung die Sicherung «angemessener Restwassermengen», um so eine «haushälterische Nutzung» des Wassers bei gleichzeitigem Schutz der Gewässerökosysteme zu ermöglichen. Seit 1991 gibt das Gewässerschutzgesetz dazu ein mehrstufiges Verfahren vor. Dabei wird zuerst eine Mindestrestwassermenge definiert. Diese bezeichnete der Bundesrat in seiner Botschaft zur Revision des GSchG als «Existenzminimum für die Wasserwelt», die dem Kriterium der Angemessenheit gemäss Bundesverfassung noch nicht genügt. Entsprechend muss die Mindestrestwassermenge in einem nächsten Schritt aus ökologischen Gründen so weit erhöht werden, bis z. B. eine Wassertiefe erreicht wird, die die Fischwanderung erlaubt. Anschliessend erhöht die Bewilligungsbehörde die Restwassermenge im Zuge einer Interessenabwägung weiter. In Ausnahmefällen kann die Mindestrestwassermenge auch reduziert werden, beispielsweise in hoch gelegenen Nichtfischgewässern. Die Kantone sind frei, auch saisonal dynamische Restwassermengen zu definieren, um ein von Schnee und Gletschern geprägtes Abflussregime nachzubilden.
Zur Herleitung der Mindestrestwassermenge dient in der Schweiz der Niedrigwasserindikator Q347. Dieser bezeichnet den Abfluss, den ein Gewässer an 347 Tagen, also 95% des Jahres, erreicht oder überschreitet. Das GSchG definiert den Zusammenhang zwischen dem Q347 und der korrespondierenden Restwassermenge.
Dieser Ansatz basiert auf dem empirisch ermittelten Ansatz von François Matthey, der anhand unterschiedlicher Flüsse im Kanton Waadt entwickelt und für die gesamte Schweiz übernommen wurde. Er orientiert sich daran, dass kleinere Gewässer verhältnismässig mehr Restwasser benötigen für adäquate Lebensbedingungen. Das GSchG spiegelt dies wider, indem der Zusammenhang zwischen Q347 und der Restwassermenge bei kleinen Gewässern verhältnismässig mehr Wasser vorsieht (Bild 2). Entsprechend sind Kraftwerke an kleinen Gewässern stärker von den Restwasserbestimmungen betroffen.
Es sind aber nur Wasserkraftwerke von den Restwasserbestimmungen betroffen, die Wasser aus einem natürlichen Gewässer ausleiten, Wasser in Fliessgewässern mit ständiger Wasserführung nutzen, d. h. in denen an mindestens 17 Tagen im Jahr Wasser fliesst, und nach 1991 konzessioniert wurden; bei den übrigen müssen die vollständigen Restwasserbestimmungen nach Art. 31 bis 33 GschG erst bei einer Neukonzessionierung angewendet werden. Bei Kraftwerken mit laufenden Konzessionen müssen die Restwassermengen so weit angehoben werden (Art. 80 GschG), wie es ohne entschädigungsbegründende Eingriffe in das jeweilige Wasserrecht möglich ist. Eine Ausnahme bilden Fliessgewässer in Landschaften oder Lebensräumen, die in nationalen oder kantonalen Inventaren aufgeführt sind. Hier müssen Restwasserstrecken auch weitergehend saniert werden. Die maximale, gesetzlich zulässige Konzessionsdauer in der Schweiz beträgt 80 Jahre. Unter Berücksichtigung klimatisch bedingter hydrologischer Veränderungen drängt sich die Frage auf, wie passend die gesetzlichen Rahmenbedingungen für sich verändernde Umstände und mögliche Wassernutzungskonflikte sind.
Klimakrise
Aufgrund der reduzierten Wasserführung erwärmen sich die Restwasserstrecken im Sommer stärker, was besonders den kälteliebenden Arten, wie z. B. der Äsche, zu schaffen macht. In einer 21 km langen Restwasserstrecke des Brennos ist die Temperatur an warmen Sommertagen durchschnittlich um 3,7 °C erhöht und im Winter um 1,8 °C reduziert [3]. Zukünftig dürfte sich die Frage nach angemessenen Restwassermengen auch auf das Kriterium der Wassertemperaturen beziehen.
Durch die Klimakrise verändern sich auch die Abflussregimes. In der Tendenz nehmen die Abflüsse im Winter zu und im Sommer ab. Dies führt u.a. zu einer Veränderung des Niedrigwasserindikators Q347: In höhergelegenen Gebieten (über 2000 m ü. M.) wird eine Zunahme des Q347 erwartet, in tiefergelegenen Gebieten eine Abnahme [4]. Im Hinblick auf (Neu-)Konzessionierungen würde dies gemäss GSchG erhöhte Restwassermengen in höheren Gebieten und niedrigere in tiefergelegenen Gebieten bedeuten. Da es sich beim Zusammenhang zwischen Q347 und Mindestrestwassermenge jedoch nicht um eine direkte 1:1-Beziehung handelt, können diese Veränderungen nicht als lineare Auswirkungen auf das für die Wasserkraft nutzbare Abflussvolumen interpretiert werden, und somit auch nicht auf die zukünftige Wasserkraftproduktion.
Eine Studie zu dieser Thematik zeigt, dass sich die erwartete Produktion steigern kann, trotz zunehmender Mindestrestwassermenge in den Alpen; im Mittelland wird hingegen ein Produktionsrückgang erwartet, trotz abnehmender Restwassermenge [4]. Dies liegt daran, dass insgesamt das nutzbare Abflussvolumen abnehmen wird. Die Studie zeigt auch, dass der Anteil des Abflusses, der für die Restwassermenge vorgesehen ist, verglichen mit dem nutzbaren Abflussvolumen und dem Überlauf (jener Teil des Abflusses, der aufgrund der Dimensionierung des Kraftwerks nicht für die Produktion genutzt wird), den kleinsten Anteil ausmacht und für die zukünftige Wasserkraftproduktion eine untergeordnete Rolle spielt.
Biodiversitätskrise
Fliessgewässer sind Biodiversitäts-Hotspots. Sie sind aber stark durch anthropogene Eingriffe beeinflusst: Über Jahrhunderte wurden Fliessgewässer begradigt und verbaut, Abwasser wurde eingeleitet, Wasser ausgeleitet oder in Stauseen zurückgehalten [5]. Gleichzeitig fand eine Umgestaltung des umliegenden Gebiets und des gesamten Einzugsgebiets statt – viele Böden sind heute versiegelt und es wird kaum mehr Totholz oder Kies in die Flüsse eingetragen. Das Resultat dieser Eingriffe ist, dass eine Vielzahl der Schweizer Fliessgewässer heute zu wenig Platz hat, die Lebensräume monoton und zerstückelt sind und die natürliche Dynamik fehlt. Entsprechend haben zahlreiche Fliessgewässer-Bewohner ihre Lebensräume verloren, können sich nicht mehr ausbreiten oder finden nicht ausreichend Nahrung.
In Restwasserstrecken werden die genannten Beeinträchtigungen und damit der Druck auf die gefährdete Biodiversität verstärkt. Unter Restwasser bilden sich in einstmals schnell durchflossenen Flussabschnitten tümpelartige Lebensräume, in denen das Wasser kaum mehr fliesst. Weil unterhalb von Stauhaltungen Hochwasser fehlen, pflästert sich die Flusssohle ab und die Vernetzung mit dem Grundwasser wird reduziert. Andererseits verschwinden typische Lebensräume und Gemeinschaften wie Weichholzauenwälder oder offene Kiesflächen in noch verbliebenen Auengebieten. In so veränderten Lebensräumen wird eine komplett andere Artengemeinschaft heimisch: Die Kiessohle wird dicht von Algen bewachsen, unter den Kleinlebewesen dominieren neu grossgewachsene Arten, wie sie für wenig variable Strömungsbedingungen typisch sind, und die kieslaichenden Fischarten haben Mühe, ihre Laichgruben anzulegen. Diese Veränderungen sind mitverantwortlich für den überdurchschnittlich hohen Anteil an Fliessgewässer-Arten auf der Roten Liste – in der Schweiz, aber auch weltweit.
Energiekrise
Die Energieversorgung erhält im Zusammenhang mit der angestrebten Dekarbonisierung und dem Krieg in der Ukraine besondere Aufmerksamkeit. Als vorsorgliche Massnahme für eine befürchtete Energiemangellage im Winter 2022/2023 verabschiedete der Bundesrat eine Verordnung zur befristeten Erhöhung der Stromproduktion mittels reduzierter Restwassermengen. Umgesetzt wurde die Verordnung bei 44 Kraftwerken, die alle nach 1991 konzessioniert wurden und aus ökologischen Gründen höhere Restwassermengen abgeben als in der ersten Stufe gemäss Art. 31 Abs. 1 GschG festgelegt; die Verordnung setzte also dort an, wo die Restwassermengen am stärksten reduziert werden konnten. Bild 3 liefert erstmals einen Überblick, welche Bestimmungen für eine Erhöhung der Mindestrestwassermengen seit der Revision des GSchG 1991 zur Anwendung kamen.
Von den im Parlament erhofften zusätzlichen 600 GWh, schätzte der Bundesrat, könnten mit der Verordnung 150 GWh zusätzlicher Winterstrom produziert werden. Eine Umfrage bei den Kantonen nach Aufhebung der befristeten Reduktionen ergab, dass durch die Verordnung eine Mehrproduktion von lediglich 26 GWh erzeugt wurde – deutlich weniger als erwartet und im Vergleich zur jährlichen Gesamtproduktion ein Zusatz im Promillebereich [6].
Die Krisen gemeinsam denken
Besonders bei ausbleibenden Klimaschutzmassnahmen werden sich die Abflussverhältnisse in Schweizer Fliessgewässern verändern. Diese Veränderungen haben auch Auswirkungen auf die Biodiversität und die Energieproduktion. Wie hier anhand des Restwassers gezeigt wurde, können die drei Krisen, aufgrund der gegenseitigen Beeinflussungen, nicht isoliert voneinander betrachtet werden. Damit die Wasserkraft in Zukunft nicht nur erneuerbar und klimafreundlich, sondern auch umweltverträglich ist, müssen die negativen Auswirkungen auf die Flussökosysteme und ihre Bewohner reduziert werden. In diesem Zusammenhang wurde die Sanierung der Wasserkraft eingeleitet, die neben der fast abgeschlossenen Restwassersanierung seit 2011 auch die Sanierung der bestehenden Kraftwerksanlagen hinsichtlich Fischgängigkeit, Geschiebetransport und Schwall-Sunk vorsieht. Um hingegen die Ausbauziele für die Wasserkraft der Energiestrategie 2050 zu erreichen, eruierte eine breite Allianz am runden Tisch Wasserkraft 16 Projekte, um mit Speicherwasserkraft 2 TWh zusätzlichen Winterstrom zu produzieren.
In der Vergangenheit zeigte sich wiederholt, dass der Einfluss der Restwasserbestimmungen auf die Wasserkraftproduktion überschätzt wird. In der Debatte fehlen bisher öffentlich zugängliche Datengrundlagen und unabhängige Abschätzungen zu Produktionsminderungen aufgrund der rechtlichen Bestimmungen. Solche Grundlagen sind gerade für künftige Entscheidungsprozesse, wie etwa hinsichtlich der Dauer oder Anpassungsfähigkeit zukünftiger Wasserkraftkonzessionen, wichtig, um der Komplexität gegenwärtiger Krisen gerecht zu werden und darauf aufbauend nachhaltige Lösungen zu erarbeiten.
Referenzen
[1] C. Weber, K. Lange, N. Bätz, M. Schmid, B. Wehrli, «Kleine Anlage – kleiner Eingriff? Auswirkungen von Kleinwasserkraftwerken auf Fliessgewässer», Wasser Energie Luft, 112/1, S. 35–40, 2020.
[2] F. Altermatt, O. Seehausen, B. Wehrli, «Restwasser. Gewässer brauchen klimaresistente Restwassermengen», Aqua & Gas, 2022.
[3] W. Meier, C. Bonjour, A. Wüest, P. Reichert, «Modeling the effect of water diversion on the temperature of mountain streams», Journal of Environmental Engineering 129, S. 755–764, 2003.
[4] T. Wechsler, F. Lustenberger, B. Schaefli, R. Muelchi, M. Zappa, «Verringert ein höherer Q347-Wert die Wasserkraftproduktion? Die schweizerischen Restwasserbestimmungen anhand von vier Laufkraftwerken», Wasser Energie Luft, 115(1), S. 13–18, 2023.
[5] C. Weber, M. Schmid, «Wasserkraftnutzung im Wasserschloss Schweiz: Herausforderungen aus ökologischer Sicht», WSL-Berichte 21, S. 7–15, 2014.
[6] «Auswirkungen der Verordnung über die befristete Erhöhung der Stromproduktion bei Wasserkraftwerken», Bundesamt für Umwelt BAFU, 28 S., 2023.
[7] M. Balmer, Nachhaltigkeitsbezogene Typologisierung der schweizerischen Wasserkraftanlagen, VDF, 2012.
[8] H. Baumann, Die befristete Erhöhung der Stromproduktion durch reduzierte Restwassermengen. Eine Analyse der Verordnung über die befristete Erhöhung der Stromproduktion bei Wasserkraftwerken im Winter 2022/2023, Bachelorarbeit, Geographisches Institut der Universität Bern, 2023.
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