Fachartikel Infrastruktur , IT für EVU , Messtechnik

Voraus­schauende Wartung des Netzes

Forschungsprojekt

24.05.2024

Infra­struktur­anlagen wie das Stromnetz werden für einen verlässlichen Betrieb regel­mässig gewartet, um Abnut­zungen und Beschä­digungen früh zu erkennen. Ein Team der ETH Zürich hat zusammen mit Swissgrid Möglichkeiten einer voraus­schauenden Instandhaltung des Stromnetzes untersucht, um Fehler mit Modellen des maschinellen Lernens automatisiert zu detektieren.

Das Rückgrat des Schweizer Stromnetzes ist das landesweite Über­tra­gungs­netz. Hochspannungsleitungen transportieren den Strom von den grossen Kraftwerken zu den Verteilnetzen in Städten und Gemeinden und gewährleisten den Stromaustausch mit den Nachbarländern. 6700 km Leitung führen an rund 12’000 Masten quer durch das Land. Zum Über­tra­gungs­netz gehören nebst allen Leitungen auch 147 Schaltanlagen.

Zwei Drittel des hiesigen Über­tra­gungs­netzes stammen aus der Zeit vor 1980. Swissgrid, die Betreiberin des Netzes, unternimmt jedes Jahr 12’000 Inspektionen, um den zuverlässigen Betrieb des Netzes zu gewährleisten. Nicht nur der altersbedingte Verschleiss, auch Blitzschlag, Stürme, Hitze, Lawinen und Murgänge setzen den Anlagen zu. Zum Unterhalt gehören unter anderem das Aufbringen von Korrosionsschutz, der Tausch fehlerhafter Isolatoren oder die Sanierung defekter Masten und Betonsockel, aber auch das Schneiden von Bäumen. «Die anstehenden Instand­setzungs­arbeiten werden nach den jährlich stattfindenden visuellen Kontrollen definiert», schreibt Swissgrid auf ihrer Webseite. Im Jahr 2018 hat die Netzgesellschaft sämtliche Leitungen und Unterwerke auf der Grundlage von Luftaufnahmen in einem digitalen 3D-Modell nachgebildet. Das Modell hilft seither bei der Planung von Wartungsarbeiten.

Fehler automatisiert erkennen

Forschende der ETH Zürich haben nun danach gefragt, wie Swissgrid den Unterhalt des Über­tra­gungs­netzes im Sinne einer voraus­schauenden Instandhaltung weiter verbessern könnte. «Voraus­schauend» meint in diesem Zusammenhang, dass Problemstellen im Netz frühzeitig und automatisiert erkannt werden. Der Fokus lag auf Freileitungen, Isolatoren und Trans­for­matoren. «Die voraus­schauende Wartung hat zum einen den Vorteil, dass sie auch unerwartete Probleme erkennen kann, zudem werden nicht Wartungs­arbeiten auf Vorrat durchgeführt, was Personal und Geld spart», sagt Laya Das. Der promovierte Forscher indischer Herkunft arbeitet am ETH-Labor für «Reliability and Risk Engineering», das von Prof. Giovanni Sansavini geleitet wird. Das vom BFE unterstützte Forschungs­projekt wurde Ende 2023 abgeschlossen.

Ein Ansatz zur Fehleridentifikation im Über­tra­gungs­netz bestand in der Auswertung von Drohnen­auf­nahmen. Mit den Bildern sollten fehlerhafte Isolatoren an den Hoch­span­nungs­masten erkannt werden. Die Neuigkeit: Blitzspuren oder Brüche an den Keramikscheiben der Isolatoren sollten nicht durch Einzelauswertung der Fotos erkannt werden, sondern automatisiert durch Objekt­erken­nungs­programme, die zuvor mit Modellen für maschinelles Lernen trainiert wurden. Die ETH-Forschenden nutzten über 2000 Drohnen­auf­nahmen von Hoch­span­nungs­masten aus der Schweiz, den USA und China. Im ersten Schritt charakterisierten sie die Bilder. Dann trainierten sie ein Modell für maschinelles Lernen mithilfe von YOLOv5 (You Only Look Once, Version 5). Das trainierte Objekt­erkennungs­modell erkennt den Isolator auf einem beliebigen Bild und identifiziert den Fehlertyp (Blitzspur, Bruch).

Bereit für den Einsatz im Netz

Die Treffsicherheit eines Algorithmus wird in der Welt der automatisierten Objekterkennung ausgedrückt mit der «mean Average Precision» (mAP). Das ist eine Zahl, die einen Wert zwischen 0 (nicht erkannt) und 1 (zuverlässig erkannt) annehmen kann. Das von der ETH «angelernte» Programm erkennt gebrochene Isolatorscheiben mit einem mAP von 0,77, Blitzspuren mit einem mAP von 0,18. Die vergleichsweise schlechte Erkennung von Blitzspuren führen die Forscher auf den Umstand zurück, dass man in der Realität nur wenige solcher Scheiben antrifft und deshalb zu wenig Bilder verfügbar sind, um den Erkennungsalgorithmus hinreichend gut zu trainieren.

Um die Prognosegenauigkeit zu verbessern, wurde die Objekterkennung um einen zweiten Analyseschritt ergänzt, der dabei hilft, fehlerhafte Isolator­scheiben zu identifizieren. Dies geschieht mit einem Prozess zur Anomalie­erkennung, ebenfalls gestützt auf maschinelles Lernen. «Unser Objekt­erken­nungs­werkzeug zum Auffinden fehlerhafter Isolatoren funktioniert gut und ist bereit für den Einsatz durch Betreiber von Hochspannungsnetzen», sagt der gebürtige Mazedonier Blazhe Gjorgiev, der als promovierter Senior­wissen­schaftler am ETH-Projekt beteiligt war.

Versuch mit Tessiner Freileitung

Eine gute Datenbasis – damit steht und fällt auch ein zweiter Ansatz, den die ETH-Forschenden untersucht haben, um Fehler bei Über­tragungs­leitungen zu erkennen. Ausgangspunkt sind in diesem Fall nicht Drohnen­auf­nahmen, sondern hochaufgelöste Messwerte. Im Zentrum dieser Studie stand eine gut 26 km lange, in 26 Segmente unterteilte 220-kV-Freileitung von Avegno (bei Locarno) nach Gorduno (bei Bellinzona). Am Beginn und am Ende ist die Leitung mit modernen Messgeräten (Phasor Measurement Units/PMU) ausgerüstet, die in der Lage sind, Spannung und Strom 8000 Mal pro Sekunde zu messen.

Die Wissen­schaftlerinnen und Wissen­schaftler wollten nun herausfinden, ob es gelingen könnte, allein aus dem Vergleich der Strom-Messwerte an beiden Leitungs­enden heraus­zufinden, ob bzw. in welchem der 26 Segmente auf der 26 km langen Strecke Verlustströme auftreten. Dies wäre ein Indiz für fehlerhafte Isolatoren.

Mangel an Daten über fehlerhaftes Netz

Als Mittel zum Zweck bildeten die Forschenden die Tessiner Über­tra­gungs­leitung mit einem physikalischen Modell (vereinfachter digitaler Zwilling) unter Verwendung der Software Matlab Simulink nach, das als Parameter unter anderem Widerstand, Kapazität und Induktivität nutzt. Hierbei wurden synthetische Daten (sie repräsentieren intakte und fehlerhafte Leitungs­abschnitte) verwendet. Auf dem Weg gelang es, in Simulationen und unter Einbezug von Modellen des maschinellen Lernens schadhafte Isolatoren über Verlustströme zu erkennen und zu lokalisieren. Dies gelang mit drei Machine-Learning-Modellen (Feed forward neural network/FNN, Recursive neural network/RNN, Convolutional neural network/CNN) mit einer Vorhersagegüte von über 98%. Es werden also mindestens 98 von 100 schadhaften Stellen mit Verlustströmen automatisch erkannt.

Obwohl dies ein erstaunliches Resultat ist, wird der ETH-Forscher Gjorgiev trotzdem nicht glücklich damit: «Auf Anhieb sieht dieses Ergebnis toll aus. Für die praktische Anwendung taugt unser Modell jedoch noch nicht, denn unser physikalisches Modell basiert auf den Daten eines funktio­nierenden Stromnetzes.» Bedauerlicher­weise habe das Projektteam keine Messdaten, die aus Fehlern im Netz stammen, in seine Untersuchung einbeziehen können, sagt Blazhe Gjorgiev. Daher habe das Team keine Möglichkeit gehabt zu validieren, ob das Fehler­lokali­sierungs­modell in der Praxis tatsächlich korrekt ist. Das Vorgehen liefere aber den «Proof of concept», dass ein solcher Ansatz bei ausreichenden Daten für die Modell­entwicklung verwendet werden könnte.

Fehlersuche bei Transformatoren

Das Projektteam der ETH hat die Idee der voraus­schauenden Instand­haltung auch bei Trans­formatoren untersucht. Letztere sind technisch komplexer als Freileitungen und Isolatoren. Um die Funktions­tüchtigkeit von Transformatoren zu beurteilen, wird seit vielen Jahren die DGA-Methode (Dissolved Gas Analysis bzw. Analyse gelöster Gase) angewendet. Hierbei wird das Öl, das im Transformator als Isolator und Kühlmittel wirkt, chemisch untersucht. Die ermittelten Gasrückstände lassen Rückschlüsse auf thermische und elektrische Fehler im Transformator zu.

Die ETH-Forschenden zielten auch hier darauf ab, die Fehlererkennung durch Einsatz von Modellen des maschinellen Lernens zu automatisieren. Swissgrid und die Fachkommission für Hochspan­nungs­fragen (FKH) stellten Daten von mehreren Tausend DGA-Proben zur Verfügung. Den Wissen­schaftlerinnen und Wissen­schaftlern gelang es, durch automatisierte Auswertung der Proben auf der Basis von statistischen (konventionellen) Modellen und Machine-Learning-Modellen auffällige DGA-Proben, die auf einen Fehler im Transformator deuten, mit einer geschätzten Genauigkeit von 70 bis 90% zu bestimmen. Ob der Einbezug von maschinellem Lernen hier tatsächlich einen Vorteil bringt, müssen die Forschenden aus methodischen Gründen offenlassen.

Planungstool für Instand­haltungs­arbeiten

Die ETH-Forschenden haben dem Projektpartner Swissgrid als Ergebnis ihres Projekts drei Tools zur Verfügung gestellt: ein Deep-Learning-Modell zur Erkennung schadhafter Isolatoren auf der Grundlage von Drohnen­auf­nahmen; einen Algorithmus, der bei der Auswertung von DGA-Daten bei Trans­formatoren hilft; und schliesslich ein trainiertes Machine-Learning-Modell zur Diagnose von Transformatorfehlern aus DGA-Daten.

Nach Auskunft von ETH-Forscher Blaze Gjorgiev könnten die jüngsten Erkenntnisse auch von Bedeutung für jene Schweizer Verteilnetzbetreiber sein, die eigene Hochspannungsnetze betreiben. Überdies könnten auch Mittel- und Nieder­spannungs­netze von fortschrittlichen maschinellen Lernmethoden zur Fehler­erkennung profitieren, sagt Gjorgiev. Die Anwendbarkeit der in diesem Projekt gewonnenen Erkenntnisse auf Anlagen aus anderen Spannungsebenen müsse noch weiter untersucht werden.

Literatur

Schlussbericht zum Forschungsprojekt «IMAGE – Intelligent Maintainance of Transmission Grid Assets».

Weitere Fachbeiträge über Forschungs-, Pilot-, Demonstrations- und Leuchtturmprojekte im Bereich Elektrizität finden Sie unter www.bfe.admin.ch/ec-strom.

Auskünfte zum Forschungsprojekt erteilt Michael Moser (michael.moser@bfe.admin.ch), Leiter des BFE-Forschungsprogramms «Netze».

Autor
Dr. Benedikt Vogel

ist Wissen­schafts­journalist.

  • Dr. Vogel Kommunikation
    DE-10437 Berlin

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