Fachartikel Energienetze , Infrastruktur

Leistung ohne Wirkung

Vor- und Nachteile der Leistungstarife

31.10.2019

Für die Netzbetreiber stellen die lokalen und globalen Lasten in Stromnetzen mehr denn je eine Herausforderung dar, und jeder einzelne Verbraucher trägt einen Teil der Verantwortung. Die Anwendung des Verantwortungsprinzips auf die Stromtarife, etwa in Form von dynamischen Tarifen, könnte eine bessere Lastverteilung in den Verteilnetzen ermöglichen.

Vom Stein der Weisen gibt es gewiss zahlreiche Imitationen, doch existieren nur wenige Originalmuster davon. Das Gleiche gilt für die Netznutzungstarife. Leider gibt es heute keine perfekten Tarife, welche den verschiedenen Bedürfnissen der Netze und unserer Energiezukunft Rechnung tragen.

Tarifstruktur

Heute setzen sich die Tarife in der Schweiz meist aus einem festen Anteil (Abonnement, Grundtarif usw.), einem Arbeitstarif (Menge an kWh) und einem von der maximalen Leistung bestimmten Anteil zusammen (maximaler Leistungsbezug über 15 Minuten). Bei den meisten Schweizer Anbietern kommt die Verrechnung der maximalen Leistung nur bei den Grossverbrauchern mit einem jährlichen Verbrauch von mehr als 50 MWh zum Tragen. Sie basiert meist auf der maximalen Monatsleistung, manchmal auf der Jahresleistung und selten auf der für den Bezug zulässigen maximalen Leistung (Beschränkung mit einer Sicherung).

Diese Art der Fakturierung basiert auf dem Verursacherprinzip und soll der Dimensionierung des Verteilnetzes Rechnung tragen, im Wissen, dass das Netz darauf ausgelegt ist, jederzeit die von den Kunden maximal nachgefragte Energiemenge zu transportieren. Dabei muss man sich allerdings bewusst sein, dass es kein lineares Verhältnis zwischen Kosten und Dimensionierung des Netzes gibt. So kostet etwa ein NS-Anschluss für 25A rund CHF 3300, während sich ein Anschluss für 160A auf etwa CHF 4700 beläuft. Eine kleine Trafostation (250 kVA) kann beim Verteilnetzbetreiber mit rund CHF 45 000 zu Buche schlagen, während eine grössere Station (2×630 kVA) zwischen CHF 80 000 und CHF  100 000 kostet. Das zeigt eindeutig, dass die Investitionskosten nicht in einem linearen Verhältnis zur Leistung stehen.

Unabhängig von diesem relativen Bezug zwischen Dimensionierung und Kosten ist festzuhalten, dass die individuelle Verrechnung des maximalen Bezugs über eine Viertelstunde auch nicht der globalen physischen Realität des Netzes entspricht. Denn der individuelle maximale Bezug fällt zeitlich selten mit der maximalen Netzbelastung zusammen (Bild 1). Effektiv weisen die Verbraucher, allen voran die Haushalte, enge Verbrauchsspitzen auf, die im Allgemeinen mit der zufälligen fast gleichzeitigen Ein- und Ausschaltung von Geräten zusammenhängen, die zur gleichen Zeit Strom verbrauchen. Ein Familienmitglied schaltet beispielsweise den Kochherd ein (2 kW), während sich eine andere Person die Haare föhnt (1,5 kW) – und dazu schaltet sich gleichzeitig zufälligerweise die Wärmepumpe ein (3 kW). Solche verbrauchsintensiven Situationen können bei jedem normalen Verbraucher zwar häufig auftreten, aber es ist sehr selten, dass dies beim Nachbarn genau zeitgleich geschieht. Tatsächlich ist der individuelle Anschluss so bemessen, dass er während maximaler theoretischer Spitzen Energie liefern kann, auch wenn solche Situationen in Wirklichkeit höchst unwahrscheinlich sind. Das Quartiernetz ist hingegen nicht für die Summe der einzelnen Anschlüsse ausgelegt, sondern basiert auf einem Gleichzeitigkeitsfaktor, der in einem Einfamilienhausquartier typischerweise bei rund 0,35 liegt. Dabei trägt dieser Faktor der natürlichen Glättung der individuellen Verbrauchsspitzen Rechnung.

Die Grafik in Bild 2 veranschaulicht den Zeitpunkt der jährlichen Spitze für 143 Haushalte im Jahr 2017 und zeigt gut auf, dass der Zeitpunkt des maximalen Bezugs bei allen Kunden stark variiert.

Klare Anreize

Die Netznutzungstarife müssen klare Signale geben, um Leistungsspitzen im Netz möglichst effizient zu glätten. Dabei ist ein besonderes Augenmerk auf die Auswirkung der Tarife auf die aufkommenden Batteriespeicherlösungen zu legen sowie auf deren voraussichtlich stark sinkenden Anschaffungskosten. Batteriespeicher können die Verbrauchsspitzen über 15 Minuten sehr einfach senken, indem sie Energie abgeben. Die folgenden 15 Minuten werden für das Aufladen der Batterie benötigt, damit sie bei der nächsten Spitze wieder einsatzbereit ist. Dieses Verhalten, etwa angeregt durch einen Leistungstarif, bringt dem Netz allerdings keinen Nutzen, da – wie wir soeben gesehen haben – eine individuelle Spitze fast nie der Spitze des Netzes entspricht und die Spitzen im Netz länger dauern als die individuellen Spitzen. Ein häufiges Argument für die leistungsbasierte Verrechnung ist die «Entsolidarisierung» der Selbsterzeuger/Eigenverbraucher, die weniger für das Netz zahlen, wenn ein Arbeitstarif zur Anwendung kommt. Führt man das gleiche Argument bei den Batteriebesitzern ins Feld, würde ein Leistungstarif zu ihrer Entsolidarisierung gegenüber den Verbrauchern ohne Energiespeicherlösung führen. Bild 3 veranschaulicht die starken finanziellen Anreize für Batterien bei der Einführung eines ausschliesslich leistungsbasierten Tarifs (Extremfall). 75% der 143  analysierten Kunden würden in einem solchen Fall von einer Payback-Dauer von unter zehn  Jahren für eine Speicherbatterie ausgehen.

Die Lastverteilung im Netz stellt eine grosse Herausforderung für jeden Stromverteiler dar, die mit dem weiteren Zubau von dezentralen Photovoltaikanlagen und der kommenden Elektrifizierung der Mobilität noch an Bedeutung gewinnen wird. Entgegen entsprechender Meinungen erlaubt die Fakturierung der individuellen Leistungsspitze kaum, eine bessere Lastverteilung im Netz zu bewirken. Ausserdem ist das Argument, dass das Verursacherprinzip die leistungsbasierte Verrechnung rechtfertige, nicht stichhaltig, wie soeben aufgezeigt wurde. Anstelle dieses Verursacherprinzips sollte eher ein Verantwortungsprinzip zum Tragen kommen. Jeder Verbraucher müsste in die Verantwortung für die Netznutzung eingebunden werden und nicht als einfacher Verbraucher betrachtet werden. Somit sollte er ermutigt werden, bei Netzspitzen seine Bezugsleistung möglichst gering zu halten.

Eine bessere Art, auf die Notwendigkeit der Lastverteilung zu reagieren, ist eine abgestufte Tarifierung nach Zeitplänen und Jahreszeiten, entweder mit einer genauen Aufteilung von Stunden und Jahreszeiten in zwei oder drei Tarifstufen oder anhand einer dynamischen Tarifierung gemäss einem Modell von «Demand Response». Eine solche Tarifierung würde es den Netzbetreibern langfristig erlauben, die Bedürfnisse des Verteilnetzes klar und direkt zu kommunizieren und damit könnte jedes flexible und intelligente Gerät und jeder informierte Kunde seinen Bezug entsprechend optimieren. Wie schon La Fontaine in der Fabel «Der Greis und seine Kinder» sagte: «Der Stärkst’ ist schwach für sich, nur Einigkeit gibt Stärke.» [1] Um also ihre ganze Wirkung zu entfalten, muss bei der Leistung eine zeitliche Einigkeit geschaffen werden. Nur so kann eine möglichst effiziente Reduktion der Leistungsspitzen im Netz erreicht werden.

Referenz

[1]  Jean de La Fontaine, Fabel «Der Greis und seine Kinder», gutenberg.spiegel.de/buch/lafontaines-fabeln-8478/80

Autor
Cédric Chanez

ist Verantwortlicher für die Produkte Transport und Anschluss bei Groupe E.

  • Groupe E AG,
    1763 Granges-Paccot
Autor
Peter Cuony

ist Leiter Produkte Verteilnetz bei Groupe E.

  • Groupe E AG
    1763 Granges-Paccot

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