Grenzenlos Probleme statt grenzenloser Energie
Elektrizität aus Kernfusion
Viel zu teuer, unmenschliche Arbeitsbedingungen, Sicherheitsbedenken, nicht funktionstüchtig – die Liste an Kritikpunkten am Kernfusionsreaktor Iter ist lang. Alles Schwarzmalerei? Oder ist das Jahrhundertprojekt tatsächlich zum Scheitern verurteilt?
Unlimited Energy – mit dieser Verheissung begrüsste der Webauftritt des Iter-Projekts noch vor wenigen Monaten seine Besucher. Die Kernfusion, die auch die Sonne und Sterne antreibt, sei eine potenzielle Quelle für sichere, kohlenstofffreie und praktisch unbegrenzte Energie, hiess es weiter. Im Testreaktor, der in der beschaulichen Gemeinde Saint-Paul-lès-Durance in Südfrankreich entsteht, soll das Versprechen Wirklichkeit werden. Forscherinnen und Forscher aus der ganzen Welt wollen hier ein 150 Millionen Grad heisses Plasma erzeugen, in dem Atomkerne miteinander verschmelzen. Dabei soll zehnfach mehr Energie frei werden, als man investieren muss [1] – genug für rund 200’000 Haushalte, so die offizielle Ansage [2].
Die kommunizierten Zahlen führten allerdings bewusst in die Irre, kritisieren Einzelne: Der Reaktor werde nie überschüssige Energie produzieren. Andere, darunter etwa der inzwischen verstorbene Physiknobelpreisträger Georges Charpak, denken gar, die Anlage werde nie funktionstüchtig sein. Bereits im Jahr 2010 forderte er daher zusammen mit anderen namhaften Wissenschaftlern den Stopp von Iter [3]. Auch der ehemalige Cern-Physiker Michael Dittmar kommt in einem Bericht für die deutsche Partei «Die Grünen» aus dem Jahr 2019 zum Schluss, dass «diese Technologie in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts nicht zur Erzeugung von Fusionsenergie führen wird».
Daneben gibt es etliche weitere Vorwürfe, mit der sich die Organisation konfrontiert sieht. Viele davon stehen in einem Whistleblower-Bericht aus 2021 von Michel Claessens, der bis 2015 Pressesprecher am Iter in Caradache war. Er prangert darin unter anderem unhaltbare Arbeitsbedingungen und verschiedene Sicherheitslücken an. Zusätzlich glauben manche, die Gefährlichkeit des radioaktiven Abfalls von Fusionsreaktoren werde heruntergespielt. Und dann sind da noch die explodierenden Kosten und die ständigen Verzögerungen im Zeitplan. Aber der Reihe nach.
Kein Energiegewinn bei Iter
Der Journalist und Herausgeber der «New Energy Times» Steven Krivit hat im Jahr 2017 zum ersten Mal darauf hingewiesen, dass die Energiebilanz von Iter von offizieller Seite falsch kommuniziert werde [4]. Der Nettoenergiegewinn sei – wenn überhaupt – nur marginal positiv, schreibt Krivit. Er sieht darin eine bewusste Täuschung der Öffentlichkeit. Der Physiker Hartmut Zohm vom Max-Planck-Institut für Plasmaphysik in München, der bereits seit rund 20 Jahren mit seinem Team am Iter-Projekt beteiligt ist, gibt Krivit in der Sache recht: «Wenn man die Wärmeenergie von Iter in Elektrizität umwandelt, bleibt bestenfalls ein Drittel übrig. Das deckt nicht den gesamten Energiebedarf von Iter.» Der von offizieller Stelle kommunizierte Faktor 10 beruht darauf, dass Iter rund 50 MW für die Plasmaheizung benötigt, um 500 MW zu liefern. Für den Betrieb der gesamten Anlage reicht diese Eingangsleistung aber längst nicht aus. Allerdings sei der Reaktor nicht darauf ausgelegt, Strom zu erzeugen, so Zohm. «Tatsächlich will man in erster Linie die Selbstheizung des Plasmas untersuchen.» Für den Plasmaexperten handelt es sich daher um «eine missverständliche Kommunikation, aber keine absichtliche Irreführung».
Iter selbst reagierte lange nicht auf die Kritik zur Energiebilanz. Erst im Oktober 2021 gab die Organisation auf Nachfrage des französischen Satire- und Enthüllungsmagazins «Le Canard Enchaîné» erstmals zu, dass «natürlich alle Systeme der Anlage mehr Energie verbrauchen werden als das Plasma produzieren wird» [5]. Bei einer Anhörung im französischen Parlament, die zufällig am Tag der Veröffentlichung des Artikels stattfand, sagte der damalige Generaldirektor von Iter, Bernard Bigot, jedoch: «Wenn Gott mir erlaubt, im Jahr 2035 noch zu leben, werde ich erleben, dass effektiv zehnmal mehr Energie produziert wird, als Iter verbraucht» [6]. Bigot ist am 14. Mai 2022 verstorben; am 15. September 2022 wurde Pietro Barabaschi zum neuen Generaldirektor von Iter ernannt.
Massive Anschuldigungen im Whistleblower-Bericht
Schwerer wiegen die Vorwürfe, die Michel Claessens gegenüber der Organisation erhebt. Rund fünf Jahre hatte der Wissenschaftler und Journalist die Presseabteilung von Iter geleitet, bevor ihn der frisch zum Iter-Generaldirektor ernannte Bigot am 28. März 2015 von seiner Stelle entliess. Claessens versetzte man zunächst zur europäischen Iter-Inlandsagentur «Fusion for Energy» nach Barcelona. Im Jahr 2016 kam er dann als «Iter policy officer» nach Brüssel zur Europäischen Kommission. Dort habe er sich wie auf dem Abstellgleis gefühlt, schreibt er. Wegen kritischer Äusserungen zum Projekt sei Druck auf ihn ausgeübt worden. Seit 2021 hat er keine Funktion in der Organisation mehr inne.
Claessens berichtet von etlichen rechtswidrigen Kündigungen, einige davon hat auch das Verwaltungsgericht der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in Genf bereits bestätigt und geahndet [7]. Zudem seien das Arbeitspensum und der Druck auf die Iter-Mitarbeiter enorm. Ein Mitarbeiter von Fusion for Energy hat aus beruflichen Gründen Suizid begangen. Im hinterlassenen Brief erklärte der Angestellte seine Tat mit einem «beruflichen Zusammenbruch», der damit zusammenhänge, dass er «als Sündenbock behandelt und bis zum letzten Grad gedemütigt» worden sei, berichtet das französische Magazin «Reporterre» [8]. Bei einer Anhörung vor dem Haushaltskontrollausschuss des EU-Parlaments bekräftigte Claessens seine Vorwürfe: Die Iter-Organisation habe ein Management der Angst eingeführt. Kollegen hätten ihm im persönlichen Gespräch etwa von omnipräsentem Stress und Sorge vor Jobverlust berichtet. Keiner traue sich, etwas dagegen zu sagen [9].
Womöglich haben die Verantwortlichen bei Iter aber bereits auf die Anschuldigungen reagiert. Dies legt der Eindruck des Ingenieurs Dr. Enrique Gaxiola nahe, der bereits seit neun Jahren auf der Iter-Baustelle arbeitet. Per E-Mail bestätigte er, dass die Arbeitsbedingungen teilweise unhaltbar gewesen seien, aber dass sich die Atmosphäre mit dem japanischen Interims-Generaldirektor wieder normalisiert habe.
Probleme bei der Montage
Neben den praktisch unmenschlichen Bedingungen bemängelt Claessens ein Missmanagement des Projekts, das zu technischen Problemen bei der Montage und beim Betrieb des Reaktors führen könnte. Ende Januar 2022 ordnete etwa die französische Behörde für nukleare Sicherheit (ASN) einen Montagestopp für das Iter-Vakuumgefäss an, nachdem sie fehlerhafte Ausrichtungen zwischen den Schweissflächen der ersten beiden 440 t schweren Gefässsektoren festgestellt hatte [10]. Drei der insgesamt neun Sektoren, die zusammengefügt einen Torus für das Plasma bilden werden, weisen Abweichungen in den Massen auf, weil sie womöglich beim Transport aus Südkorea beschädigt wurden.
Ein Sektor wurde nach der Genehmigung der ASN in der Grube etwas angehoben, um die Abweichungen auszugleichen. Noch suche die Iter-Organisation nach Lösungen für die anderen beiden Sektoren. Dabei gehe man aber nicht transparent vor, so Claessens Vorwurf. Besorgniserregend findet er auch, dass laut einer internen Quelle die obligatorische Qualitätskontrolle in Südkorea nach der Fertigstellung nicht stattgefunden habe – angeblich um den Zeitplan einzuhalten und wichtige Meilensteine zu erreichen.
«Die Sektoren weisen tatsächlich Abweichungen in den Spezifikationen auf, aber deshalb muss man sie nicht gleich wegwerfen», sagt Zohm. Natürlich müsse nun gezeigt werden, wie man die Teile des Vakuumgefässes trotzdem so verschweissen kann, dass am Ende alles dicht ist. Generell sind für Zohm solche Vorkommnisse und Inspektionen durch die ASN nichts Überraschendes. «Es gab anfangs eine Zulassung der Anlage, aber in den Jahren während des Baus hat sich am Design des Reaktors Etliches geändert», erklärt er. «Die französische Atomaufsichtsbehörde will nun wissen, wie das alles mit dem ursprünglich Vereinbarten zusammenpasst.» Laut ihm ein vollkommen normaler Prozess.
Den Vorwurf, bei Iter habe man solche Probleme vertuscht, lässt Zohm nicht gelten: «Verständlicherweise gibt es nicht gleich eine Pressemitteilung, wenn etwas nicht nach Plan läuft.» Intern würde man solche Dinge aber sehr wohl kommunizieren. Allerdings laufen die Inspektionen und die Zusammenarbeit mit den Behörden offenbar nicht ganz reibungslos ab. Am 20. Juli 2021 informierte die ASN in einem Brief an Bigot über die Ergebnisse einer Inspektion vom 2. Juli 2021 [11]. Darin berichtet die Behörde von gefälschten Qualifikationsnachweisen von Schweissern und bemängelt, dass angefragte Informationen nur zögerlich übermittelt würden. Auch habe ein stichprobenartiger Test ergeben, dass eine Schweissnaht entgegen dem Ergebnis der Röntgenprüfung als konform angegeben worden war. Und ein zentraler Bereich im Reaktorgebäude sei den Prüfern nicht zugänglich gewesen, kritisiert die ASN.
Enrique Gaxiola, Experte für Magnettechnologien, bemängelte ebenfalls, dass «viel zu viele Teile einfach zusammengebaut werden, ohne ausreichend getestet zu werden». So sei zum Beispiel kaum einer der achtundvierzig supraleitenden Magnete bisher unter Betriebsbedingungen überprüft worden. Und bei einem der wenigen Tests wurde eines der drei zentralen «Solenoid-Module» durch einen Kurzschluss wahrscheinlich irreparabel beschädigt. Auch ein Zwischenfall beim japanischen Fusionsprojekt JT60SA zeigt laut Gaxiola, dass hier weitere Probleme warten könnten. Dieser Reaktor soll das Funktionsprinzip von Iter in kleinerem Massstab realisieren. Im März 2021 kam es bei Experimenten aufgrund einer unzureichenden Isolierung zu einem Kurzschluss am Magneten, was zu Schäden an der Anlage und zu Verzögerungen führte.
Gefahr für Mitarbeiter
Die ASN teilte der Iter-Organisation zudem mit, dass die 3,5 m dicke Betonabschirmung um den Reaktor nicht ausreicht, um das Personal künftig vor radioaktiver Strahlung zu schützen [10]. Die ASN befürchtet, dass eine Erhöhung der Abschirmung dazu führen könnte, dass das Gesamtgewicht des Reaktors die 140’000-t-Tragfähigkeit seines erdbebensicheren Fundaments überschreitet.
Die Strahlenbelastung ist aber offenbar nicht die einzige potenzielle Gefahrenquelle für die Gesundheit der Mitarbeiter. Zwei Beryllium-Experten, Robert Winkel und Kathry Creek, traten aus der Iter-Organisation aus, weil sie angeblich mit dem Schutz der Arbeiter vor den Gefahren des Leichtmetalls nicht einverstanden waren [12]. Im Iter sind die Blankets im Innern auf der dem Plasma zugewandten Seite mit Beryllium beschichtet. Der feine Staub des Metalls kann schwere Lungenentzündungen verursachen. Eine Berylliumvergiftung kann dazu führen, dass man für den Rest des Lebens Medikamente einnehmen muss oder sogar eine Lungentransplantation benötigt.
Das derzeitige Protokoll für die Herstellung, Handhabung und Installation der Module berge nach Ansicht der beiden Experten das Risiko einer «inakzeptablen Kontamination der Arbeiter». Es wird berichtet, die beiden ehemaligen Mitarbeiter würden der Organisation gar vorwerfen, vorsätzlich fahrlässig zu handeln, da man keine Gegenmassnahmen einleite. «Es ist immer kritisch, mit Beryllium zu arbeiten, weil es toxisch ist», sagt Zohm. Die Versuchsanlage Joint European Torus (JET), sozusagen das Vorgängerprojekt von Iter, ist aber ebenfalls im Innern mit Beryllium ausgekleidet. «Das läuft seit Jahren, ohne dass es bisher Probleme gab», so Zohm.
Kein Brennstoff für die Reaktoren
Die Kritik des ehemaligen Cern-Physikers Michael Dittmar, die er 2009 in vier Artikeln auf dem Preprint-Server Arxiv [12] darlegt und in einem Bericht für die deutsche Partei «Die Grünen» 2019 wiederholt, ist fundamentaler. Seine theoretischen Betrachtungen würden zeigen, dass Iter niemals funktionieren kann, erklärt er am Telefon. Dafür liefert er unterschiedliche Argumente – das wesentlichste dabei ist die Tritiumerzeugung. Im Reaktor soll der Stoff mit Deuterium verschmelzen, wodurch enorme Energie freigesetzt wird. Deuterium wird auch als «schwerer Wasserstoff» bezeichnet, weil es neben einem Elektron und einem Proton zusätzlich ein Neutron im Kern enthält. Tritium wiederum hat noch ein weiteres Neutron und heisst daher auch «überschwerer Wasserstoff».
Während sich Deuterium aus Meerwasser gewinnen lässt, kommt Tritium in der Natur quasi nicht vor. Es entsteht etwa in bestimmten Typen von Atomkraftwerken, von denen aber nur noch wenige in Betrieb sind. Zudem zerfällt radioaktives Tritium mit einer Halbwertzeit von rund zwölf Jahren. Die vorhandenen Vorräte, die heute auf 25 kg geschätzt werden, nehmen also rasch ab. Daher ist der Stoff bei Fusionsforschern begehrt – und mit 30’000 € pro Gramm fast so wertvoll wie Diamanten. Es wird geschätzt, dass Iter rund 1 kg Tritium pro Jahr nutzen und somit eine erhebliche Menge davon aufbrauchen wird. Daher sollen künftige Fusionskraftwerke ihr eigenes Tritium erzeugen. Nur so hat die Fusion eine Zukunft, darin sind sich alle Fachleute einig.
Für die Tritiumerzeugung im Reaktor existieren bisher jedoch nur theoretische Überlegungen: Aus dem Element Lithium (6Li) lässt sich Tritium mittels Neutronen gewinnen. Und Neutronen stünden im Reaktor ohnehin als «Abfallprodukt» der Kernfusion zur Verfügung. «Da pro Fusionsreaktion nur ein Neutron entsteht und noch etliche durch Absorption verloren gehen, reichen die entstehenden Neutronen nicht aus», erklärt Dittmar das Problem an der Sache. «Man muss sie daher um 30 bis 50% vermehren.» Und hier beginnt der Dissenz: Dittmar denkt, dass der Prozess des Tritiumbrütens daher unmöglich ist. Zohm widerspricht: «Es ist uns kein prinzipieller Showstopper bekannt, und in detaillierten Modellrechnungen funktioniert es.» Zwar handele sich das Tritiumbrüten um ein extrem komplexes Problem, gibt Zohm zu. Mit hoher technologischer Ingenieurskunst lasse es sich aber lösen, glaubt er.
Im Iter und in weiteren Fusionsforschungsanlagen, etwa in China, wird der Prozess erforscht. Die Idee ist, dass man die freien Neutronen durch Kernreaktionen mit anderen Elementen wie Beryllium oder Blei vermehrt. Dittmar zweifelt: «Insbesondere die Tests zum Tritiumbrüten sind in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen», behauptet er. Der Kernphysiker hat sogar den Eindruck, dass dieses Problem absichtlich ausgeklammert wird, weil man wisse, dass es nicht funktionieren werde. Stattdessen beschäftige man sich fast ausschliesslich mit der Herstellung des Plasmas, sagt er. In der europäischen Roadmap zur Fusionsenergie werde das Problem des Tritiumbrütens explizit adressiert, entgegnet Zohm. «Nur weil es bisher noch nicht experimentell demonstriert wurde, heisst das nicht, dass es in Zukunft nicht funktioniert.»
Eine im Jahr 2021 durchgeführte Simulation [13] des Nuklearingenieurs Mohamed Abdou von der University of California, Los Angeles, und seinen Kollegen hat allerdings ergeben, dass ein stromproduzierender Reaktor im günstigsten Fall nur geringfügig mehr Tritium produzieren könnte, als er für seinen eigenen Brennstoff benötigt. Tritiumlecks oder längere Wartungsabschaltungen würden diesen Spielraum aufzehren, heisst es in einem Artikel zum Thema im Fachmagazin «Science» von Juni 2022 [14]. In einem Worst-Case-Szenario werde das Tritium nicht ausreichen, um den Fusionsbedarf nach Iter zu decken, räumt auch Gianfranco Federici, der Leiter der Fusionstechnologie beim EuroFusion-Konsortium, gegenüber dem Magazin ein. Daniel Jassby, ein Plasmaphysiker im Ruhestand vom Princeton Plasma Physics Laboratory (PPPL) wird wie folgt zitiert: «Es könnte für das gesamte Unterfangen fatal sein» und «Deuterium-Tritium-Fusionsreaktoren unmöglich machen».
Grüne Energie?
Sollten Fusionsreaktoren künftig funktionieren, dann liefern sie saubere Energie. Oder? «Es ist kein grosses Geheimnis, dass bei Iter auch radioaktive Abfälle entstehen», sagt Zohm. Die Iter-Pressestelle schreibt auf Anfrage: «Während der Lebensdauer des Iter werden konventionelle – wie bei jeder Industrieanlage – und radioaktive Abfälle aus dem Betrieb und der Stilllegung anfallen.» Einerseits führen die hochenergetischen Neutronen zu einer nuklearen Aktivierung von Komponenten des Vakuumbehälters. Andererseits werden Materialien mit dem radioaktiven Brennstoff Tritium kontaminiert. Laut der Pressestelle kämen während des 20-jährigen Betriebs etwa 5000 t Haushalts- und Prozessabfälle zusammen, davon 42% sehr schwachaktive Abfälle und 58% schwach- bis mittelaktive Abfälle mit kurzer Halbwertszeit. Der Austausch von Komponenten produziere rund 1000 t langlebige mittelaktive Abfälle. Der grösste Batzen resultiert schliesslich aus der Stilllegung des Vakuumbehälters und der unterstützenden Systeme: 60’000 t niedrigerer Abfallkategorien mit kurzlebiger Aktivität sowie etwa 2500 t mittelaktiver, langlebiger Abfälle. Das deckt sich mit Schätzungen des Max- Planck-Instituts für Plasmaphysik: Ein Fusionskraftwerk würde je nach Bauart während seiner etwa 30-jährigen Laufzeit zwischen 60’000 und 160’000 t radioaktives Material erzeugen, heisst es auf der Internetseite [15].
Somit unterscheidet sich die bei einem Fusionsreaktor anfallende Abfallmenge nicht massgeblich von einem herkömmlichen Kernkraftwerk. Aber da Tritium eine Halbwertszeit von nur 12,3 Jahren hat, ist die Aktivität des Grossteils des radioaktiven Mülls nach etwa 160 Jahren auf ein Zehntausendstel des Anfangswerts gefallen. Bei Plutonium- oder Uranabfällen, die bei der Kernspaltung entstehen, dauert es hingegen Tausende von Jahren, bis sich ihre Strahlung um die Hälfte verringert hat. Bei Iter fallen also hauptsächlich schwach- und mittelaktive Abfälle an. In der öffentlichen Diskussion um die Suche nach Endlagern geht es im Wesentlichen um die langlebigen hochradioaktiven Spaltprodukte.
Man plane bereits Verfahren, die den Tritiumgehalt und das Endvolumen reduzieren oder sogar einen Teil des Tritiums zurückgewinnen sollen, damit es als Brennstoff wiederverwendet werden könne, so die Pressestelle. Klar ist aber, dass nach Betriebsende von Iter radioaktiver Müll zwischengelagert werden muss. «Man hat dafür teilweise auch schon Plätze», sagt Zohm. Dass es dazu aber noch offene Fragen gibt, zeigt ein Schreiben der französischen Behörde für nukleare Sicherheit ASN an die Iter-Organisation aus 2021 [16]. Hier fordert sie mehr Informationen über die Menge und die Lagerung von radioaktiven Tritiumabfällen. Angeblich habe sich die Planung diesbezüglich erheblich verzögert.
Explodierende Kosten, ungewisser Zeitplan
Gemäss offiziellen Angaben wird Iter etwas mehr als 20 Mia. € verschlingen. Zu Beginn des Projekts im Jahr 2005 rechnete man noch mit rund 5 Mia. Im Moment deutet aber vieles darauf hin, dass die Ausgaben weiter zunehmen werden. Im September 2021 gab Generaldirektor Bigot bekannt, dass man den Termin zur ersten Testzündung des Plasmas im Jahr 2025 vor allem wegen der Coronapandemie nicht einhalten könne. Dies habe die Kosten weiter erhöht, genauere Angaben versprach er damals für Ende 2022 [17].
«Tatsächlich werden wir die genauen Kosten nie erfahren, da 90% der Beiträge in Form von Sachleistungen erbracht werden und die Regierungen in den meisten Fällen die Kosten für die von ihnen hergestellten Teile nicht offenlegen wollen», schreibt Claessens in einem Thread auf Twitter [18]. In diesem heisst es weiter: «Die beste Schätzung, die wir abgeben können, basiert auf dem EU-Beitrag bis 2035». Dieser belaufe sich auf 18,1 Mia. € und umfasst auch Geld- und Sachleistungen, Verwaltungsausgaben sowie die Inflationsrate in der Eurozone. Da Europas Beitrag 45,6% beträgt, ergibt sich insgesamt 41 Mia. €. Unter Berücksichtigung der Betriebskosten, Deaktivierung und Stilllegung, lande man bei 48 Mia. €, so Claessens per E-Mail.
Das US-amerikanische Department of Energy schätzte die Kosten für Iter bereits 2018 auf 65 Mia. $ [19]. Hartmut Zohm findet solche Zahlen zu hoch. Er weist auf einen gewissen Spielraum bei der Kostenrechnung hin, weil Iter keine Einheit ist, die die gesamten Gelder gebündelt ausgibt: «Niemand kennt zum Beispiel die genauen Zahlen, die die Spulen gekostet haben, die China hergestellt hat», sagt Zohm.
«Ich persönlich denke, dass so um den Dreh 2027 bis 2028 das erste Plasma gezündet wird», sagt er. Da der bisherige Forschungsplan vorsehe, dass die ersten Fusionsexperimente zehn Jahre nach der ersten Zündung stattfinden, wäre das spätestens im Jahr 2038. Selbstverständlich überrascht es kaum, dass ein Jahrhundertprojekt, bei dem 35 Nationen beteiligt sind, teurer wird und länger dauert als geplant. Während die Kostensteigerung aber vor allem ein Ärgernis für die Steuerzahler ist, die das Projekt finanzieren, sind die enormen Verzögerungen womöglich ein grösseres Problem: «Die Technologie ist zwei Jahrzehnte alt. Inzwischen gibt es weltweit mehr als 20 Start-up-Unternehmen, die mit privaten Mitteln Fusions-Technologien entwickeln», sagt Claessens. «Einige von ihnen werden die neuesten Magnettechnologien nutzen, um kompaktere Reaktoren zu ermöglichen.»
Dennoch findet Claessens, dass man Fusionsforschung weiterhin unterstützen müsse – trotz des ungewissen Ausgangs. Andere, darunter Dittmar, konstatieren hingegen schon lange, dass die Gelder besser in der Forschung zu erneuerbaren Energien aufgehoben wären. Denn der Kernphysiker ist überzeugt, dass sich auf der Erde mittels der Kernfusion nie sinnvoll Energie gewinnen lässt. Völlig anders sieht das der Plasmaexperte Zohm. Er prognostiziert, dass die ersten Fusionsreaktoren in etwa 30 Jahren den ersten Strom liefern werden. Die Sache mit der künstlichen Sonne bleibt also noch für einige Jahrzehnte spannend!
Referenzen
[2] newenergytimes.com/v2/sr/iter/website/20200728-Press-Release.pdf
[3] www.tagesspiegel.de/wissen/iter-scharfe-kritik-an-fusionsreaktor/1900994.html
[4] news.newenergytimes.net/2017/10/06/the-iter-power-amplification-myth
[5] www.reddit.com/r/france/comments/qhv6by/iter_un_réacteur_expérimental_à_la_com_le_canard
[6] news.newenergytimes.net/2021/11/03/bernard-bigot-presentation-to-the-french-senate-last-3-minutes
[7] www.ilo.org/dyn/triblex/triblexmain.fullText?p_lang=fr&p_judgment_no=3990&p_language_code=EN
[8] reporterre.net/Stress-peur-pression-le-difficile-quotidien-des-salaries-du-reacteur-nucleaire-Iter
[9] www.youtube.com/watch?v=cLYRr5hRP9g
[10] physicstoday.scitation.org/doi/10.1063/PT.3.4997
[12] arxiv.org/abs/0908.0627, arxiv.org/abs/0908.3075, arxiv.org/abs/0909.1421, arxiv.org/abs/0911.2628
[13] iopscience.iop.org/article/10.1088/1741-4326/abbf35/meta
[14] www.science.org/content/article/fusion-power-may-run-fuel-even-gets-started
[15] www.ipp.mpg.de/2641049/faq9
[16] www.actu-environnement.com/media/pdf/news-37664-avis-asn-dechets-sans-filiere.pdf
[17] www.euractiv.com/section/energy/news/iter-nuclear-fusion-reactor-hit-by-covid-delay-rising-costs
[18] twitter.com/M_Claessens/status/1439482924965974016
[19] physicstoday.scitation.org/do/10.1063/pt.6.2.20180416a/full
Korrektur
Die Wandstärke der Betonabschirmung beträgt 3,5 m statt 2 m. Online und im Druck-PDF korrigiert am 12. Dezember 2022.
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