Elektrische Felder bewusst wahrnehmen
Studie zu Wahrnehmungsschwellen
In manchen Regionen erfordert die Energiewende einen Ausbau des Stromübertragungsnetzes, der in der Bevölkerung oft auf Ablehnung stösst. Einer der Gründe für die fehlende Akzeptanz sind die entstehenden elektromagnetischen Felder. Eine Studie untersuchte, wie solche AC-, DC- und Hybrid-Felder wahrgenommen werden.
Die Energiewende ist aus unterschiedlichen Gründen vielerorts auf einen Ausbau des Energieübertragungssystems angewiesen. Neben der in Europa üblichen Übertragung von Wechselstrom («alternating current», AC) kommt hier die Energieübertragung mittels Gleichstrom («direct current», DC) in Frage. Diese Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragung (HGÜ) hat gegenüber der konventionellen Wechselstrom-Übertragung den Vorteil, dass deutlich weniger Energieverlust entsteht, wodurch weitere Strecken überwunden werden können. Deshalb kommt beim Bau neuer Übertragungsstrecken in Deutschland immer mehr die HGÜ-Technologie zum Einsatz.
Unabhängig von der Übertragungsart entsteht bei der Energieübertragung im direkten Umfeld der Freileitungen immer ein elektrisches Feld. Je nach Übertragungsart handelt es sich dabei um ein AC- oder DC-Feld. Zudem ist künftig in Deutschland teilweise die parallele Führung von AC- und DC-Leitungen auf einer Freileitungstrasse geplant, wodurch sich eine Kombination beider Felder, Hybrid-Feld genannt, ergibt. Da die räumliche Trennung von Hochspannungsfreileitungen und Wohngebieten an vielen Orten geringer wird, stellt sich die Frage nach der Akzeptanz der Bevölkerung in Verbindung mit der bewussten Wahrnehmung von elektrischen Feldern.
Dieses bewusste Erkennen von elektrischen Feldern wurde bereits von verschiedenen Forschenden untersucht. Hervorzuheben sind Ganzkörperuntersuchungen aus den 1990er-Jahren, welche zeigten, dass Wahrnehmungsschwellen für elektrische Gleichspannungsfelder im Durchschnitt bei 45,1 kV/m lagen [1]. Die zusätzliche Anwesenheit von Ionen, die aufgrund von Oberflächenentladungen an Freileitungen entstehen, führte zu einer erhöhten Wahrnehmungsleistung. Auch das gleichzeitige Auftreten von DC- und AC-Feldern führte zu herabgesetzten Wahrnehmungsschwellen im Vergleich zur Präsentation nur einer Feldart [2]. Bisherigen Untersuchungen gemeinsam sind grosse Unterschiede im individuellen Wahrnehmungsempfinden [3–5]. Während manche Menschen schon sehr geringe elektrische Felder zuverlässig erkennen können, liegen die Wahrnehmungsschwellen bei anderen Menschen viel höher. Auch der Ort der Wahrnehmung und die Art der Empfindung sind individuell sehr verschieden.
Bisher sind keine speziellen Sinneszellen zur Wahrnehmung von elektrischen Feldern bei Menschen bekannt. Es wird vermutet, dass die Körperbehaarung eine entscheidende Rolle spielt. Beispielsweise war die Wahrnehmungsfähigkeit am rasierten Arm deutlich schlechter im Vergleich zum unrasierten Arm [6]. Daher könnten zum Beispiel individuelle Eigenschaften der Haare zu unterschiedlich intensiven Wahrnehmungen von elektrischen Feldern führen. In Aachen laufen aktuell Untersuchungen zur Frage, wie genau sich verschiedene Kenngrössen der Haarbeschaffenheit auf die individuelle Wahrnehmungsfähigkeit auswirken.
Um gesundheitsschädliche Effekte zu vermeiden, existiert in Deutschland im Bereich von AC-Freileitungen ein Grenzwert von 5 kV/m für elektrische AC-Felder [7]. Obwohl das IEEE einen Grenzwert für DC-Felder von 10 kV/m empfiehlt, bestehen in Deutschland momentan weder für DC- noch für Hybrid-Felder Grenzwerte.
Wo wird die Wahrnehmung untersucht?
Um die Wahrnehmung verschiedener elektrischer Felder zu untersuchen, wurde ein Expositionslabor auf dem Gelände der Uniklinik RWTH Aachen errichtet [3]. Im 4 m × 4 m grossen Testraum befindet sich mittig ein fest installierter, höhenverstellbarer Probandenstuhl im ansonsten leeren Raum (Einstiegsbild). Hier können DC-Felder bis 50 kV/m in Kombination mit einer möglichen Ionenstromdichte von maximal 550 nA/m2 sowie AC-Felder mit einem Effektivwert bis 30 kV/m erzeugt werden. Hybrid-Felder – eine Kombination von AC- und DC-Feldern – mit einer maximalen kombinierten Feldstärke von 50 kV/m können ebenfalls erzeugt werden. Angrenzend an den Testraum befinden sich Versuchsleiterraum, Klimatechnik und Hochspannungstechnik (Bild 1). Durch eine aufwendige Klimatisierung können Temperaturen im Bereich zwischen 19°C und 25°C und davon unabhängig die relative Luftfeuchtigkeit zwischen 30% und 70% variiert werden. In der speziell konstruierten doppelblinden Versuchsanordnung erhält die Person, die aus dem Versuchsleiterraum die Experimente steuert und die Kommunikation führt, keine Informationen über die aktuell präsentierten Felder. So können Beeinflussungen der Probanden ausgeschlossen werden. Gleichzeitig wird über das Einspielen eines Rauschsignals über vier Lautsprecher im Expositionsraum eine Maskierung möglicher auditiver Einflüsse sichergestellt, sodass die Probanden ausschliesslich über den direkten Mechanismus der Wahrnehmung die An- oder Abwesenheit eines elektrischen Feldes bewerten können.
Zur Dämpfung von Vibrationen, die in der Hochspannungstechnik entstehen, wurde das Labor schwimmend auf einer Sylomer-Schicht errichtet. Mittels Notabschaltung kann die Anlage zu jedem Zeitpunkt automatisch und innerhalb von 180 ms in einen sicheren Zustand überführt werden. Um die Sicherheit der Probanden zu gewährleisten, sind Lichtschranken, Kontaktgurte sowie ein Not-Aus-Schalter integriert, welche bei Aktivierung die Notabschaltung starten. Während der Testdurchläufe sind Probanden über Silikonschlaufen mit der Erdung des Labors verbunden, um Aufladungseffekte zu vermeiden. Ist die Anlage in Betrieb, werden alle hochspannungstechnischen Komponenten zusätzlich von einem geschulten Mitarbeiter überwacht.
Von der Wahrnehmung zur Wahrnehmungsvschwelle
Die zentrale Aufgabe jedes Teilnehmenden besteht darin, zu erkennen, ob ein elektrisches Feld präsent ist oder nicht. Hierfür wird ein definiertes Feld eingeschaltet. Nachdem das Feld «hochgefahren» wurde, erscheint die Frage, ob die Person ein elektrisches Feld wahrnimmt. Diese Frage kann über eine Antwortbox mit «ja» oder «nein» beantwortet werden. Um zu erreichen, dass Personen dabei nicht nur mit «ja» antworten können, muss neben der korrekten Erkennung eines eingeschalteten Feldes auch eine korrekte Erkennung sogenannter Scheinexpositionen erfolgen. Bei diesen Scheinexpositionen wird eine Exposition ohne Feld simuliert.
Durch die Methode der Signalentdeckungstheorie [8] wird die individuelle Fähigkeit jedes Teilnehmenden bestimmt, eine vorher definierte Feldstärke zu erkennen. Dafür werden korrekt erkannte elektrische Felder und fälschlicherweise als elektrisches Feld erkannte Scheinexpositionen verrechnet. Nur wer beide Fälle korrekt zuordnen kann, ist in der Lage, elektrische Felder zuverlässig wahrzunehmen. Aus den so bestimmten Sensitivitätswerten für jede getestete Feldstärke kann durch eine psychometrische Funktion der Punkt bestimmt werden, ab dem gesichert von einer erfolgreichen Wahrnehmung ausgegangen werden kann. Dieser Punkt wird definiert als die individuelle Wahrnehmungsschwelle.
Für die Betrachtung von Hybrid-Feldern werden unterschiedliche Methoden der Schwellenwertbestimmung verwendet. Einerseits kann eine DC-Schwelle in Gegenwart oder Abwesenheit eines konstanten AC-Feldes bewertet werden. Dies zeigt im direkten Vergleich beispielsweise Unterschiede zur reinen DC-Exposition. Eine andere Möglichkeit besteht in der kombinierten Betrachtung der AC- und DC-Feldstärke. Der Vorteil dabei ist, dass Einflüsse unterschiedlicher Anteile einer Feldart auf die Wahrnehmungsleistung der Gesamtfeldstärke sofort sichtbar werden.
Kribbeln, Jucken, Gänsehaut
Aber wie fühlen sich elektrische Felder eigentlich an? Probanden gaben auf diese Frage an, ein angenehmes Kribbeln oder ein leichtes Jucken zu verspüren. Aber auch Eindrücke einer leichten Vibration oder Gänsehaut wurden berichtet. Der Wahrnehmungsort hing von der Feldart ab: DC-Felder wurden etwas häufiger im Kopfbereich, AC-Felder tendenziell häufiger an den Armen wahrgenommen, auch wenn es hier Überschneidungen gab [3]. Generell sind Wahrnehmungseindrücke elektrischer Felder sehr unterschiedlich und haben einen stark subjektiven Bezug.
Die Kombination macht den Unterschied
In einer gross angelegten Studie mit 203 Probanden, die über Alter und Geschlecht gleich verteilt waren, wurde die Wahrnehmungsleistung für AC-, DC- und Hybrid-Felder untersucht [4]. Dabei lagen die Schwellen für AC mit 14,16 kV/m und DC mit 18,69 kV/m teilweise deutlich unterhalb von früher publizierten Werten. Interessanterweise zeigte sich in Hybrid-Feldern eine deutlich herabgesetzte Wahrnehmungsschwelle: Wurde ein konstantes AC-Feld mit einer Stärke von 4 kV/m präsentiert, sank die Wahrnehmungsschwelle für DC auf 6,76 kV/m. Dieser Synergieeffekt führte dazu, dass etwa 40% der Probanden die niedrigste untersuchte Hybrid-Kombination aus 2 kV/m DC und 4 kV/m AC erfolgreich detektieren konnten.
Um detaillierter zu untersuchen, wodurch der Synergieeffekt aus AC und DC auf die menschliche Wahrnehmung getrieben wird, wurden 51 besonders sensitive Probanden erneut eingeladen [5]. Dabei wurden experimentell AC-Feldstärken in den Stufen 1, 2, 3 und 4 kV/m variiert und zusammen mit DC-Feldstärken von 1, 2, 4, 8 und 16 kV/m präsentiert. Die Wahrnehmungsschwellen bezogen auf die kombinierten Feldstärken zeigten eine Reduktion mit zunehmendem AC-Anteil (Bild 2). Oder anders ausgedrückt: Je grösser der AC-Anteil an einem Hybrid-Feld, umso früher wird dies wahrgenommen. Für die Praxis ist diese zentrale Rolle der AC-Komponente im Hybrid-Feld wichtig, da sich geringe Änderungen der AC-Feldstärke an Hybridleitungen stark auf die Wahrnehmbarkeit des Gesamtfeldes auswirken.
Luftfeuchtigkeit ist entscheidend
Weiterhin ist von grossem Interesse, wie sich Umgebungsfaktoren auf die Wahrnehmung elektrischer Felder auswirken. Schliesslich herrschen im freien Feld über das Jahr verteilt sehr unterschiedliche Klimabedingungen, was zu starken Variationen in Luftfeuchtigkeit und Temperatur führt. Eine Variation der Umgebungstemperatur hatte in Untersuchungen zu lokalen DC-Expositionen am Arm keine Effekte auf die Wahrnehmungsleistung. Allerdings stieg die Wahrnehmungsleistung bei einer relativen Luftfeuchtigkeit von 90% im Vergleich zu 50% deutlich an [6]. Diese Erkenntnisse aus lokalen Feldexpositionen konnten in Ganzkörperuntersuchungen bestätigt werden. In zwei Subgruppen mit 24 und 25 Probanden aus einer gross angelegten Studie zur Bestimmung der Wahrnehmungsschwellenwerte wurden zusätzlich Einflüsse relativer Luftfeuchtigkeit auf die Wahrnehmungsleistung untersucht [4]. Der Vergleich von feuchter Umgebung (70% rel. Luftfeuchtigkeit) zu trockener Luft (30% rel. Luftfeuchtigkeit) zeigte, dass AC-Felder bei geringer Luftfeuchtigkeit besser erkannt wurden, während DC-Felder in feuchter Umgebungsluft verstärkt wahrgenommen wurden.
Beitrag zur Energiewende
Insgesamt helfen die Ergebnisse der Studien bei der Umsetzung der Energiewende, indem mögliche Berührungspunkte zwischen Mensch und Freileitung hinsichtlich der Wahrnehmung elektrischer Felder erforscht und offengelegt werden. Gleichzeitig dienen die gewonnenen Informationen dazu, Freileitungen so zu konzipieren, dass unerwünschte Wahrnehmungen nach Möglichkeit vermieden werden. Gegenstand aktueller Forschung ist vor allem, wodurch die hohe interindividuelle Varianz in der Wahrnehmung hervorgerufen wird. Weitere Aufklärung hier kann ebenfalls zum besseren Zusammenspiel und der Koexistenz von Energieübertragungssystem und Mensch beitragen.
Referenzen
[1] J. Blondin et al., «Human perception of electric fields and ion currents associated with high-voltage DC transmission lines», Bioelectromagnetics, Vol. 17, Issue 3, S. 230–241, 1996.
[2] B. A. Clairmont et al., «The effect of HVAC-HVDC line separation in a hybrid corridor», IEEE Transactions on Power Delivery, Vol. 4, Issue 2, S. 1338–1350, April 1989.
[3] K. Jankowiak et al., «Identification of Environmental and Experimental Factors Influencing Human Perception of DC and AC Electric Fields», Bioelectromagnetics, Vol. 42, Issue 5, S. 341–356, 2021.
[4] M. Kursawe et al., «Human detection thresholds of DC, AC, and hybrid electric fields: a double-blind study», Environmental Health, Vol. 20, 92, 2021.
[5] K. Jankowiak et al., «The role of the AC component in human perception of AC–DC hybrid electric fields», Scientific Reports, Vol. 12, 3391, 2022.
[6] H. Odagiri-Shimizu, K. Shimizu, «Experimental analysis of the human perception threshold of a DC electric field», Medical & Biological Engineering & Computing, Vol. 37, S. 727–732, 1999.
[7] IEEE standard for safety levels with respect to human exposure to radio frequency electromagnetic fields, 0 Hz to 300 GHz, IEEE-C95.1, NY, USA, 2019.
[8] D. Green, J. Swets, Signal Detection Theory and Psychophysics, John Wiley and Sons, 1966.
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