Fachartikel Erneuerbare Energien , Konventionelle Kraftwerke

Das Potenzial von Stauseen bewahren

Forschungsprojekt zur Verlandung von Stauseen

29.06.2023

Steter Tropfen höhlt den Stein – das gilt auch für die Alpen: Durch witterungs­bedingte Erosion gelangen Steine, Kies, Sand und Schluff in die Stauseen und schmälern das Speicher­volumen. Ein Forscher­team der ETH Zürich hat nun nach­gewiesen, dass Geschiebe-Umleit­stollen das Problem deutlich entschärfen können.

Klaus Jorde leitet beim BFE das Forschungs­programm Wasserkraft und hat als Berater Erfahrung mit Wasser­kraft­projekten weltweit. Ein Problem, dem er immer wieder begegnet, ist die zunehmende Verlandung von Stauseen: «Der Eintrag von Steinen, Kies und Fein­sedimenten verringert über die Jahre das Stauvolumen der Seen und damit das Potenzial der Energie­speicherung. Weltweit geht durch Verlandung mehr Stauvolumen verloren als durch den Bau neuer Stauanlagen hinzugewonnen wird», sagt Jorde. Wie stark ein Stausee von Verlandung betroffen ist, hängt von zahlreichen Faktoren (z. B. Geologie und Erosion im Einzugsgebiet, Transport­fähigkeit des Zustroms, Grösse des Speichersees, mittlere Aufent­haltszeit des Wassers im See) ab. Bei gewissen Stauseen droht bereits nach wenigen Jahren eine starke Verlandung, andere haben auch nach hundert Jahren noch kein Problem.

Die Verlandung von Speicherseen ist auch in der Schweiz virulent. Gemäss einer kürzlich erschienenen Studie der United Nations University in Kanada wird in Schweizer Stauseen 33% des Stauvolumens bis 2050 durch Verlandung verloren gehen. Prof. Robert Boes, Direktor der Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie (VAW) an der ETH Zürich, beurteilt die Situation differenzierter: «Nach unserer Einschätzung wird die Verlandung im Durchschnitt aller Stauseen nicht so hoch ausfallen. Allerdings sehen wir Stauanlagen, die heute schon Probleme mit grossen Ablagerungen haben und wo wir dringlich Lösungen brauchen.» Ablagerungen vermindern nicht nur das Speichervolumen, sie können auch zu einem Sicherheitsproblem werden, wenn sie bis zur Staumauer vordringen und dort die Einläufe bzw. Auslässe verstopfen, über die man den Stauseen Wasser entnimmt bzw. diese in kritischen Situationen entleeren kann.

Geschiebe vom Stausee fernhalten

Bekannt für sein Verlandungsproblem ist der Solis-Stausee unterhalb von ­Tiefencastel (GR). Der Stausee wurde 1982 bis 1986 für damals 25 Mio. CHF erbaut und verlor in den folgenden 30 Jahren die Hälfe seines Speicher­volumens, obwohl Kies regelmässig an der Stauwurzel ausgebaggert wurde. Berechnungen ergaben, dass die Albula so viel Geschiebe in den See trägt, dass der Speichersee nach 20 Jahren nicht mehr genutzt werden könnte. Um Abhilfe zu schaffen, wurde 2012 vom Elektrizitätswerk der Stadt Zürich, das den Stausee über die Kraftwerke Mittelbünden betreibt, ein 37 Mio. CHF teurer Umleitstollen in Betrieb genommen. Der 968 m lange Stollen führt Steine, Kies, Sand und Feinsedimente an der Staumauer vorbei ins Unterwasser, von wo sie von der Albula in natürlicher Weise flussabwärts geschwemmt werden. Der Umleitstollen ist nur während Hochwasserabflüssen in Betrieb, wenn grosse Wassermassen aus den Gipfellagen viel Sedimente talwärts bewegen.

Nebst dem Bau von Umleitstollen, von denen in der Schweiz zwölf an kleineren und mittleren Stauseen in Betrieb sind, gibt es noch weitere ­Instrumente, um die Verlandung von Stauseen einzudämmen:

  • Massnahmen oberhalb des Stausees können den Eintrag von Sedimenten in den Stausee reduzieren. Beispielsweise lässt sich die Erosion im Einzugsgebiet durch Aufforstung vermindern. Steine, Kies und Sand können ferner mit Geschiebe­rück­halte­sperren abgefangen werden (die dann regelmässig geleert werden müssen). Denkbar wäre auch das Anlegen eines zusätzlichen «Entsandungssees» unterhalb von Gletschern, wo sich Sedimente absetzen, bevor sie in weiter unten gelegene Talsperren gelangen.
  • Sedimente können aus dem Stausee gebaggert, abgepumpt oder ausgeschwemmt werden. Der kleine Gibidum-Stausee (VS) zum Beispiel wird alle ein bis zwei Jahre entleert, und dabei werden die Sedimente ausgespült. Die Möglichkeit, mit Feinsedimenten versetztes Wasser zu turbinieren (wie in Bolgenach/Vorarlberg), wird bisher noch kaum genutzt, könnte aber in Zukunft eine Option sein, wenn die entsprechenden Forschungs­projekte erfolgreich verlaufen.
  • Möglich sind auch bauliche Anpassungen, beispielsweise die Erhöhung einer Staumauer, um das Stauvolumen zu erhöhen und damit das durch Sedimente verloren gegangene Wasservolumen zu kompensieren. Dies geschah beispielsweise 1989/91 beim Lac de Mauvoisin (VS). Bei Neuanlagen kann es günstig sein, diese in Nebentälern zu bauen und das Wasser des Hauptgewässers zu fassen und erst nach einer Entsandung beizuleiten. Somit können Sedimente effizient vom Stausee ferngehalten werden.

 

Wie effizient der Umleitstollen beim Solis-Stausee seine Arbeit verrichtet, untersuchte in den letzten zehn Jahren ein VAW-Forscherteam. Das Team suchte auch Optimierungs­möglichkeiten, die beim Bau neuer Umleitstollen beachtet werden sollten. Die Forscher setzten ausgeklügelte Methoden ein, mit denen sie die Geschiebe­menge in einem Gebirgsstrom, aber auch den Sedimenteintrag im Stausee zuverlässig bestimmen können. Das Projekt wurde vom BFE finanziell unterstützt.

Der Sedimenteintrag verringerte sich massiv

Die mehrjährigen Messungen zeigen: Von Oktober 2018 bis November 2021 wurden netto knapp 50’000 m³ Sedimente im Stausee abgelagert. Im gleichen Zeitraum wurden mittels Umleitstollen gut 200’000 m³ an Sediment um den Stausee geleitet. Ohne Umleitstollen wäre der Stauseegrund in dieser Zeit um durchschnittlich rund 1 m angehoben worden. Dank des Umleitstollens haben sich also nur noch 12% des im Zufluss enthaltenen Sediments im Stausee abgesetzt; ohne Umleitstollen wären es 83% gewesen (die restlichen 17% hätten den See über das Turbinenwasser bzw. die Auslässe verlassen). Dank der Massnahme konnte die jährliche Verlandung von 81’000 m³ auf 17’000 m³ gesenkt werden.

Dass Umleitstollen wirksam sind, war schon früher bekannt. Interessant sind die neuen Ergebnisse insbesondere deshalb, weil der Solis-Umleitstollen das sedimenthaltige Wasser nicht beim Zufluss, sondern in der Mitte des Stausees aufnimmt und von dort um die Staumauer führt. «Wir konnten zeigen, dass auch dieser Typ von Geschiebe-Umleitstollen einen Wirkungsgrad hat, der mit anderen Umleitstollen in der Schweiz oder zum Beispiel auch in Japan vergleichbar ist», sagt Projektleiter und VAW-Forscher Ismail Albayrak.

Empfehlungen an die Betreiber

Die Albula wird kurz nach Tiefencastel durch die Solis-Talsperre gestaut. Von der Mündung in den Stausee, der so genannten Stauwurzel, bis zum Einlauf des Umleitstollens sind es gut zwei Kilometer. Wenn der Gebirgsfluss Sedimente in den See einträgt, werden diese durch das Seewasser gebremst. Je höher der Wasserstand, desto grösser die Bremswirkung. Das bedeutet: Die Betreiber des Stausees können den Sedimenttransport von der Stauwurzel bis zum Beginn des Umleitstollens beschleunigen, indem sie den Wasserspiegel senken. Wird der See genügend stark abgesenkt, reisst die einströmende Albula sogar Sedimente mit sich, die früher im See abgelagert worden waren, und befördert diese zum Umleitstollen. Dadurch entweicht durch den Stollen mehr Gesteinsmaterial, als die Albula im gleichen Zeitraum in den See transportiert.

Der Umleitstollen arbeitet in dieser Situation also mit einem Wirkungsgrad von über 100%. Die ETH-Forscher konnten zeigen, dass der Wirkungsgrad bei günstigen Betriebsbedingungen (tiefer Wasserstand) bis zu 250% betragen kann. Der Umleitstollen wirkt jetzt quasi wie eine Einrichtung, die Sedimente aus dem See «absaugt» und damit dessen Speichervolumen wieder erhöht. Auf der Grundlage dieser Beobachtungen können die Wissenschaftler den Betreibern des Solis-Stausees genaue Vorgaben machen: «Für hohe Wirkungsgrade zwischen 70% und 250% sollte der Mindest-Wasserspiegel um 813 Meter über Meer liegen», hält der Schlussbericht des Projekts fest.

Neue Forschungsansätze sind gefragt

Umleitstollen können die Verlandung von Stauseen wirksam eindämmen, wie das Beispiel Solis belegt. Die technische Lösung hat indes auch Nachteile: Wegen der beträchtlichen Kosten kommen Umleitstollen nur für kleinere Stauseen in Frage. Wirtschaftlich ungünstig ist zudem, dass das durch Umleitstollen geleitete Wasser nicht für die Stromproduktion genutzt werden kann.

Um der Verlandung entgegenzuwirken, sind also weitere Ansätze gefragt. Einen davon untersuchen die ETH-Forscher beim Bolgenach-Stausee in Vorarlberg: Die im Stausee abgelagerten Feinsedimente werden vom Seegrund hochgepumpt und dem Wasser in kleinen Dosen zugesetzt, das für die Stromproduktion genutzt wird. Die beteiligten Forscher wollen herausfinden, wie sich die Dosierung und die Sediment­partikel­grössen auswirken und ob der Abrieb der Turbinen in einem vertretbaren Rahmen gehalten werden kann, wenn man sie mit einem robusten Schutzfilm beschichtet.

Literatur

Der Schlussbericht zum Projekt «Reservoir sedimentation, management and operation at the case study reservoir Solis» ist abrufbar unter:
www.aramis.admin.ch/Texte/?ProjectID=41723

Weitere Fachbeiträge über Forschungs-, Pilot-, Demonstrations- und Leuchtturmprojekte im Bereich Wasserkraft finden Sie unter www.bfe.admin.ch/ec-wasser.

Auskünfte zum Forschungsprojekt erteilt , externer Leiter des BFE-Forschungsprogramms Wasserkraft.

Hintergrund

Sedimente

Der Begriff «Sedimente» umfasst mineralische Partikel aller Grössenordnungen: die grossen (Steine, Kies, Grobsand) werden als Geschiebe an der Gewässersohle transportiert, die feineren (feinerer Sand, Schluff, Ton) meist schwebend in der Wassersäule. Sedimente und Schwimmstoffe (vor allem Holz) werden im Begriff «Feststoffe» zusammengefasst. Für Schluff wird in der Schweiz gern auch die englische Bezeichnung Silt verwendet.

Autor
Dr. Benedikt Vogel

ist Wissen­schafts­journalist.

  • Dr. Vogel Kommunikation
    DE-10437 Berlin

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