Fachartikel Energienetze , Messtechnik

Frequenzmessung beim Lastabwurf

Simulation des Unterfrequenzschutzes

01.12.2020

Der automatische Lastabwurf ist eine der letzten Mass­nahmen des System­schutzes in Stromnetzen, die das Gesamt­system vor einem totalen Netz­zusammen­bruch retten kann. Entsprechend wichtig ist es bei diesem System, weder von Unter- noch von Über­funktionen «überrascht» zu werden. Studien­ergebnisse einer FNN-Arbeits­gruppe werden hier präsentiert.

Aktuelle Änderungen im elektrischen Energiesystem durch die Verlagerung von Grosskraftwerken zu vielen kleinen dezentralen Erzeugungseinheiten geben Anlass zur kritischen Betrachtung dieses Schutzsystems, da eine Frequenzmessung bei resultierender geringerer Kurzschlussleistung und erhöhtem Anteil an Oberschwingungen herausfordernder wird. Das Dilemma: Einerseits bedarf es immer kürzerer Reaktionszeiten und andererseits braucht es für eine korrekte Frequenzmessung eine Verlängerung der Messperiode. Deshalb entschloss sich eine FNN-Arbeitsgruppe – gebildet aus Fachexperten von Herstellern, Verteilnetzbetreibern, Übertragungsnetzbetreibern, Hochschulen und Beratern aus Österreich, Deutschland und der Schweiz – aufgrund praktischer Erfahrungen die Details der Frequenzmessung näher zu untersuchen. Anschliessend wurden über speziell angefertigte Prüfverfahren einzelne Relais getestet. Der vorliegende Beitrag gibt einen Einblick auf die noch laufenden Arbeiten und liefert erste Erkenntnisse.

Implementierungsdetails von Frequenzrelais sind hersteller- und geräte­abhängig und selten vollständig offengelegt. Ansprechgenauigkeit und Zeitverhalten eines Relais können mit Prüfsystemen zwar auch in kritischen Situationen getestet werden, aber ein genaues Verständnis für das beobachtete Verhalten ist oft schwierig, weil weder Algorithmus-Details noch geräte­interne Informationen verfügbar sind.

Mit einem Softwaremodell, das dem Messalgorithmus eines Schutz­relais entspricht, kann die Frequenzbestimmung sowohl für synthetisch generierte als auch für in verschiedenen Netzen gemessene Spannungsverläufe systematisch untersucht ­werden.[1]

Unterfrequenzschutz-Messprinzip

Betrachtet wird ein universell einsetzbarer Algorithmus zur Frequenz­bestimmung in numerischen Geräten, die mit einer konstanten Abtastrate arbeiten. Beispielhaft wird hier die Abtastfrequenz 1 kHz verwendet, also 20 Abtastungen pro Periode der Nennfrequenz.

Der Algorithmus bestimmt den komplexen Spannungszeiger U(t) und wertet fortlaufend seinen Phasenwinkel zu zwei Zeitpunkten aus. Aus der Winkel­änderung wird die aktuelle Netzfrequenz ermittelt (Bild 1a).

Das Prinzip der eigentlichen Frequenz­messung basiert auf dem in der Patentschrift [2] dokumentierten Verfahren. Real- und Imaginärteil der Spannung werden aus den Abtastwerten über FIR-Orthogonalfilter (finite impulse response) bestimmt, die auf Fourier-Filtern basieren. Gleich­spannungs­anteile und höhere Harmonische der Nennfrequenz werden von den digitalen Filtern nicht durchgelassen. Vor der Digitalisierung der analogen Eingangs­spannung sorgt ein Anti-Aliasing-Filter dafür, dass eventuell störende höher­frequente Signalanteile unterdrückt werden, während betriebs­frequente Anteile sicher erfasst werden.

Bild 1b zeigt die Amplituden­frequenz­gänge der simulierten Filter. Im interes­sierenden Frequenz­bereich um 50 Hz unterscheiden sich Real- und Imaginärteil praktisch nicht, was eine sehr genaue Winkel- und damit auch Frequenz­bestimmung ermöglicht.

Die beiden Winkel­messungen liegen genau einen Abtast-Zeitschritt (1 ms) auseinander. Zur zusätzlichen Stabilisierung wird der über die Phasen­winkel­änderung berechnete Frequenzwert mit einem über 5 Abtastungen wirkenden Mittel­wert­filter geglättet.

Für die Frequenz­messung werden beim hier verwendeten Algorithmus Daten eines gleitenden Zeitfensters (rund 46 ms) herangezogen. Eine stabile Frequenz­messung nach einer sprung­förmigen Änderung eines ansonsten stationären Spannungs­signals kann entsprechend verzögert erwartet werden.

Unterschreitet der gemessene Frequenz­wert den Ansprechwert des Unter­frequenz­schutzes, wirkt eine Mindest­verzögerung von 60 ms bis zu einem eventuellen Auslösebefehl. Damit werden denkbare Überfunktionen durch transiente Vorgänge vermieden. Eine zusätzliche Verzögerung durch die Auslöse­kontakte des Schutzgeräts wird hier nicht berücksichtigt.

Der Spannungszeiger wird aus der verketteten Spannung UL1,L2 bestimmt.Unterschreitet die verkettete Spannung einen parametrierbaren Grenz­wert UB, wird der Unter­frequenz­schutz blockiert.

Modellbildung und Simulation

Das Schutzgerät wird vollständig mit Matlab/Simulink modelliert, von der Erfassung der Analogsignale über die zeitdiskret durchgeführte Frequenz- und Spannungs­bestim­mung bis zur Stabilisierung und Auslöselogik. Als Eingangssignal dienen synthetisch erzeugte Spannungs­verläufe oder im Comtrade- Format aufgezeichnete Stördaten.

Verhalten mit synthetisch erzeugten Spannungs­verläufen

Für stationäre sinusförmige Spannungen ist die Bestimmung der Frequenz relativ unkritisch. Hier werden inte­ressantere und praktisch relevante Spannungs­verläufe zugrunde gelegt, bei denen sich die Frequenz im Zeitverlauf ändert und bei denen beispiels­weise Sprünge in Amplitude und Phase oder Ober­schwingungen auftreten können.

Zunächst wird die Wirkungs­weise des Unter­frequenz­schutzes mit formelmässig berechneten Spannungsverläufen untersucht. So kann der vom Schutz­algorithmus ermittelte Frequenz-Messwert mit dem mathematisch zugrunde gelegten Frequenz-Istwert verglichen werden.

Bild 2 zeigt ein Szenario für einen Unterfrequenz-Lastabwurf bei 48 Hz. Man erkennt, dass der Frequenz-Messwert dem Istwert entsprechend der angewandten Filterung verzögert folgt, nämlich entsprechend dem mittleren Frequenzwert im Zeitfenster um Tmess/2 ≈ 23 ms Der Aus-Befehl kommt 83 ms, nachdem der Istwert der Frequenz den Ansprechwert unterschritten hat.

Unmittelbar nach dem Simulationsbeginn zum Zeitpunkt t = 0 müssen die Einschwingvorgänge für die Frequenz- und Spannungsmessung abgewartet werden: Kurzzeitig ist zunächst die U-Blockierung aktiv, der Frequenzwert wird auf Nennfrequenz gesetzt, und ein Aus-Befehl der Schutzfunktion wird vermieden.

Die bei der Unterspannungsblockierung wirksame Schwelle UB ist parametriert als 0,8 UN und in den Zeitdiagrammen auf die Momentanwerte bezogen gestrichelt eingezeichnet.

Der Schutz darf nicht auslösen, wenn der Frequenz-Rückgang schon vor Erreichen des Unterfrequenz-Ansprechwerts gestoppt wird. Bild 3 illustriert dies beispielhaft für eine 30 mHz über dem Ansprechwert von 49 Hz liegende minimale Frequenz.

Transiente Amplitudenänderungen der ausgewerteten Leiter-Leiter-Spannung können zu transienten Messungenauigkeiten bei den Phasenwinkeln und damit auch bei der Frequenz führen. In Bild 4 ist der Ansprechwert 49 Hz, und am Ende des Frequenzrückgangs tritt zusätzlich ein Amplitudensprung auf. Die Frequenzmessung wird entsprechend dem Einschwingverhalten der digitalen Filter zwar kurzzeitig instabil und kann nicht sinnvoll aus­gewertet werden, aber es tritt wie gewünscht keine Überfunktion auf.

Die Unterspannungsblockierung ist ab Simulationsbeginn bis zur vollständigen Initialisierung des Schutzalgorithmus wirksam. Sie wird jedoch durch den relativ kleinen Amplitudensprung nicht aktiviert.

Verhalten mit aufgezeichneten Stördaten aus diversen Netzen

Reale Netzstörungen mit diversen Regel- und Schaltvorgängen können zu Spannungsverläufen führen, die stark von typischen Prüfgrössen wie im vorherigen Abschnitt abweichen. Wenn Stördaten-Aufzeichnungen mit entsprechenden Abtastwerten verfügbar sind, lässt sich das Schutzverhalten auch hierfür exakt nachvoll­ziehen.

Zwar ist die Netz-Nennfrequenz bekannt, aber ein echter Istwert der Frequenz ist nicht verfügbar. Beim eventuellen Vergleich der Schutz-Frequenzmessung mit Werten einer PMU (Phasor Measurement Unit) muss man berücksichtigen, dass diese andere Genauigkeits- und Zeitanforderungen zu erfüllen hat und demzufolge nicht mit den vom Schutz verwendeten Frequenz-Messwerten übereinstimmen muss.

Bild 5 analysiert die Frequenzmessung für eine weiträumige Störung, die zu einem Blackout geführt hat. Schon zu Beginn der Störschreiber-Aufzeichnung liegt die ermittelte Frequenz deutlich unter 48 Hz. Im weiteren Verlauf werden Lasten abgeworfen, ohne dass sich das Netz stabilisiert. Beim simulierten Unterfrequenz-Ansprechwert von 46 Hz wird offenkundig, dass der insgesamt sehr deutliche Frequenzrückgang nicht kontinuierlich erfolgt und zeitweilig sogar ein Frequenz­anstieg ermittelt wird.

Im Verlauf der Störung tritt auch ein deutlicher Spannungsrückgang auf, der nach etwa 1,5 s zu einem Ansprechen der Unterspannungsblockierung führt. Damit liefert die Frequenzmessung nur noch den tatsächlich nicht vorhandenen Wert der Nennfrequenz.

Bild 6 zeigt die Analyse von Stördaten, die von einem Frequenzrelais «f2» im Mittelspannungsnetz bei einem Stromausfall aufgezeichnet wurden. Dabei haben sturmbedingte Leitungsausfälle im übergeordneten Höchstspannungsnetz zu einer Inselnetz­bildung mit sehr schnellem Frequenzrückgang geführt, wobei der Unterfrequenz-Lastabwurf den Stromausfall nicht vermeiden konnte.

Der Unterfrequenz-Ansprechwert des simulierten Schutzes («WF») entspricht dem des realen Frequenzrelais «f2». Das zeitliche Ansprechverhalten von simuliertem und realem Schutz weichen deutlich voneinander ab, auch weil beim realen Relais eine optio­nale Auslöseverzögerung parametriert war.

Verhalten mit Netzmodell-Messdaten

Eine Zusammenarbeit mit der Hochschule für Technik und Architektur (HTA) Freiburg hat es erlaubt, mit dem dort existierenden Analogsimulator, der im Prinzip ein Netzmodell einer Region der Westschweiz ist (Einstiegsbild), mit Unterfrequenzrelais verschiedener Hersteller die bereits erarbeiteten Erkenntnisse zu überprüfen und weiter zu vertiefen.

Zur synthetischen Nachbildung verschiedener Frequenzverläufe wurde das Netzmodell der HTA Freiburg für den Inselnetzbetrieb angepasst. Wie im realen System ergibt sich der Frequenzverlauf aus der Drehzahlregelung des Generators und der über ein eigens entwickeltes Modul einer verstellbaren Netzlast (Bild 7). Ströme und Spannungen existieren also wie in der Wirklichkeit, jedoch in einem reduzierten Massstab. Messwerte aus diesem Netzmodell werden den realen Schutzrelais zugeführt, und die Auslösebefehle haben auch einen Lastabwurf im Netzmodell zur Folge. Es entstehen somit realitätsnahe Frequenzverläufe, die auch für das System wichtige nicht ideale Zustände enthalten, wie etwa Phasen- und Amplitudensprünge oder Leistungsschwingungen.

Von realen Störfällen mit systemkritischen Lastabwürfen und Blackouts stehen relativ wenige Aufzeichnungen zur Verfügung. Mit Netzmodellen können weitere Szenarien untersucht werden, auch im Zusammenwirken mit realen Schutzgeräten. Mit der Verfügbarkeit von aufgezeichneten Stördaten wird auch hier die detaillierte Analyse der Frequenzmessung möglich. Die Auswertung eines im Netzmodell durchgeführten Lastabwurf-Experiments zeigt Bild 8. Die Reaktion des simulierten Frequenzalgorithmus («WF») kann verglichen werden mit den Auslösebefehlen der im Modell wirksamen realen Relais 1 und 2.

Algorithmus-Varianten für die Frequenzmessung

Der hier simulierte Algorithmus ermittelt die Frequenz aus der zeitlichen Winkeländerung eines komplexen Spannungszeigers. Die Simulationen zeigen, dass der innerhalb von wenigen Netzperioden ermittelte Frequenzmesswert höchstens einige Millihertz vom Ist-Wert abweicht. Um eine möglichst hohe Messgenauigkeit oder eine möglichst kurze Messzeit zur erreichen, bestehen verschiedene Möglichkeiten zur Modifikation der Parameter und damit des Schutzverhaltens im Detail.

Bild 9 analysiert dazu einen beispielhaften Unterfrequenz-Testfall, bei dem sowohl eine Oberschwingung als auch ein Phasensprung auftritt. Dafür werden ebenfalls beispielhaft folgende alternativen Algorithmus-Varianten mit dem bisher verwendeten Standard-Algorithmus («WF») verglichen:

«WF20 01 oMw» – ohne nachgeschal­tetes Mittelwertfilter: Damit wird eine bis zu 5 ms schnellere Frequenzmessung erreicht, aber die Harmonischen verfälschen die Frequenzmessung unerwünscht mit einer im Bild deutlich erkennbaren Oszillation. Der Geschwindigkeitsvorteil wiegt normalerweise die fehlende Robust­heit, auch gegenüber unbekannten Störsignalen und Rauschen, nicht auf.

«WF 20 20 Mw5» – mit grösserer Zeitdifferenz von 20 ms: Damit wird die Messung der Winkeldifferenz deutlich robuster, und der Frequenzmesswert ist auch während des linearen Frequenzrückgangs kaum gestört. Allerdings fällt die gegenüber dem Standard-Algorithmus um ca. 10 bis 20 ms verzögerte Messung in der ­Praxis bereits unerwünscht deutlich ins Gewicht.

Dabei sind U-Blockierung und Aus-Befehl für die alternativen Algorithmus-Varianten nicht simuliert.

Schlussfolgerungen, Ausblick

Die Simulation des Unterfrequenzschutzes erlaubt die vollständige Analyse der Algorithmen zur Frequenzmessung in numerischen Schutzgeräten, auch mit Berücksichtigung eventueller Logik- und Zusatzfunktionen.

Dabei können sowohl mathematisch bestimmte oder mit einer Netzsimulation berechnete Spannungen verwendet werden wie auch aufgezeichnete Stördaten aus dem realen Netz oder einem Netzmodell.

Der vorgestellte Unterfrequenzschutz weist auch bei transienten Vorgängen eine relativ kurze Messzeit auf, ohne dass Über- oder Unterfunktionen auftreten.

Eine Optimierung der Algorithmen wird möglich, weil beliebige Varianten modelliert und die Simulationen automatisiert durchgeführt und ausgewertet werden können. Bei einem vorgegebenen Anwendungsbereich – zum Beispiel Lastabwurf im Verteilnetz – können die verwendeten Schutzalgorithmen typischerweise so modifiziert werden, dass entweder die Schnelligkeit oder die Genauigkeit der Messung verbessert wird, oft aber nicht beides gleichermassen.

Die in der Arbeitsgruppe durch­geführten Messungen und Analysen zeigen Relais-Auslösezeiten von 120 ms, bei aktuell in der Energieversorgung eingesetzten digitalen Schutzrelais. Addiert man hierzu eine noch erforderliche Eigenzeit des Leistungsschalters in der Mittelspannung von etwa 70 ms sowie 10 ms für den Lichtbogen, muss für eine hinreichend genaue Frequenzschutz-Anregung mit einer Gesamtreaktionszeit von 200 ms gerechnet werden.

In einem nächsten Schritt ist es geplant, durch dynamische Modellrechnungen für das kontinentaleuropäische Netz unter anderem diese neu erlangten Erkenntnisse mit einfliessen zu lassen, um die aktuelle Netzsituation entsprechend zu überprüfen.

Referenzen

[1] W. Fromm, J. Bertsch, «Simulation für Schutz und Steuerung in Hochspannungsanlagen»,
Bulletin SEV/VSE, Ausgabe 24/25 05, 2005, S. 46-50.

[2] W. Fromm, Frequenzrelais. Patent EP0311825, veröffentlicht 19.4.1989.

[3] ENTSO-E: Report on Blackout in Turkey on 31st March 2015, 21. Sept. 2015. eepublicdownloads.blob.core.windows.net/public-cdn-container/clean-documents/SOC%20documents/Regional_Groups_Continental_Europe/20150921_Black_Out_Report_v10_w.pdf

Die Arbeiten an der HTA Freiburg wurden von Innosuisse, EWZ und Sprecher Automation unterstützt. Die Autoren bedanken sich bei den Studierenden der HTA Freiburg, deren Studienarbeiten als Grundlage für die Messungen gedient haben: C. Bernasconi, C. Leggett, N. Rappo und S. Venturini.

Auteur
Dr Patrick Favre-Perrod

est professeur HES à la Haute école d’ingénierie et d’architecture de Fribourg.

  • HEIA-FR
    1705 Fribourg
Auteur
Wilhelm Fromm
Auteur
Dr. Walter Sattinger
Auteur
Bruno Wartmann

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