Fachartikel

Zur Handhabung von Flexibilitäten

Innovationsprojekt

25.09.2019

Die Produktion von Energie aus erneuerbaren Quellen hat in den letzten Jahren weltweit stetig zugenommen. Bereits heute stammt ein wesentlicher Teil der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien. Dieser Anteil wird in den kommenden Jahren und Jahrzehnten mit grosser Wahrscheinlichkeit weiterhin stark ansteigen.

Von den erneuerbaren Energien gelten vor allem die Photovoltaik- und die Windenergie als vollständig dargebotsabhängig. In der Praxis hat sich aber gezeigt, dass auch die Produktion aus Biomasse, aus der Abfallverbrennung und aus Kläranlagen häufig stark fluktuierend ist. Auch bei Wasserkraftwerken ohne Wasserspeicher (beispielsweise Laufwasserkraftwerken) ist die Produktion naturgemäss abhängig vom Pegelstand und damit nicht sinnvoll steuerbar bezüglich Flexibilitäten.

Auch in der Schweiz ist der Anteil dargebotsabhängiger Energieproduktion gestiegen. Hier spielt die Photovoltaik von den neuen erneuerbaren Energien (Sonne, Holz, Biomasse, Wind, Geothermie und Umgebungswärme) die wichtigste Rolle. Sie hat das höchste Einspeisevolumen, gleichzeitig aber die kleinste Anzahl Volllaststunden. Dies zeigt sich insbesondere daran, dass die für die produzierte Energie nötige installierte Nennleistung ungefähr um den Faktor acht höher ist als bei einem Kraftwerk, welches ganzjährig Bandenergie liefern kann.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die neuen erneuerbaren Energieproduktionen in der Schweiz in den vergangenen zehn Jahren ein deutliches Wachstum verzeichnet haben. Im internationalen Vergleich bewegt sich dieses aber noch auf bescheidenem Niveau. Durch das Inkrafttreten der neuen Gesetze und Verordnungen aus dem ersten Massnahmenpaket der Energiestrategie 2050 des Bundes kann davon ausgegangen werden, dass das Wachstum in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren in einem noch höheren Tempo voranschreiten wird. Die Energieproduktion wird damit auch in der Schweiz vorwiegend in tieferen Netz­ebenen massiv stärker fluktuieren und gleichzeitig in geringerem Ausmass steuerbar sein.

Verschärfend ist verbrauchsseitig auch eine primär durch die Elektromobilität verursachte ansteigende Volatilität zu erwarten. Je nach Geschwindigkeit der Adoption der Elektromobilität und dem Heimladeanteil dürfte die Elektromobilität in der Schweiz nochmals deutliche Auswirkungen auf die Volatilität des Energieverbrauchs und auch auf die Auslastung des Elektrizitätsverteilnetzes haben. Wird angenommen, dass Elektrofahrzeuge vor allem bei der Rückkehr nach Hause am Abend geladen werden (Heimladung), verstärkt dies die abendliche Lastspitze in den Verteilnetzen.

Zahlreiche Herausforderungen

Daraus ergeben sich vielfältige Herausforderungen: Produktion und Verbrauch sind unausgeglichen und verstärkt fluktuierend. Daraus resultierend werden ein erhöhter Bedarf an Regel­energie sowie eine erhöhte Volatilität der Energiehandelspreise, aber auch eine verstärkte Tendenz zu Ereignissen mit Überspannung, Unterspannung sowie Überlastung von Netzkomponenten erfolgen, um nur einige zu nennen.

Eine der technischen Massnahmen zur Bewältigung dieser Herausforderungen wird das intelligente Management von Flexibilitäten – also zeitlich verschiebbaren Lasten, Produktionen und Speichern – sein. Um ein besseres Gleichgewicht zwischen Produktion und Verbrauch zu erzielen, ist die Installation von Regelungsmöglichkeiten auf mehreren Ebenen des Netzes unabdingbar. Bisherige Lösungen berücksichtigen häufig nur die grössten Flexibilitätseinheiten. Damit sind sie für einen vollständigen Rollout, welcher auch die dezentralen und kleineren Flexibilitäten integriert, oft zu teuer und nicht praktikabel.

Flexibilitätsmanagement – ein Geschäftsmodell für EVUs

Wie die Geschäftsmodelle in Zukunft bei Schweizer Energieversorgern angedacht sind, wurde von den Autoren in einer nicht repräsentativen Umfrage sondiert. Daraus haben sie ein mögliches zukünftiges Geschäftsmodell «Flexibilitätsmanagement» für einen typischen Energieversorger skizziert.

Ein sogenannter «Flexibilitäts-Aggregator» vermarktet die gebündelte verfügbare Flexibilität an alle Interessenten und optimiert deren Einsatz wirtschaftlich. Er generiert damit Ertrag aus allen aktiven Anwendungsfällen und von allen Empfängern der Flexibilität. Auf der Kostenseite stehen im Wesentlichen die Entschädigung der Flexibilitätsbesitzer (Prosumer), die eigenen eingesetzten Ressourcen und der Aufbau und Betrieb der Flexibilitäts-Plattform (Bild unten).

Ein realistisches Szenario ist, dass ein Energieversorger sowohl netz- als auch energieseitig einen Einheitstarif einführt (kein Unterschied zwischen Hoch- und Niedertarif). Er führt eine Flexibilitätsplattform ein, welche auf der Netzseite Peak Shaving auf Netz­übergabestellen betreibt sowie die Unterstützung der Spannungsregelung mit gezieltem Flexibilitätseinsatz unterstützt. Er beschafft die Energie in Form eines Lastprofils mit Stundenpreiskurve (HPFC) bei seinem Handels­partner. Deshalb setzt der Energieversorger die Plattform ebenfalls ein, um den Verbrauch und die Produktion gegen die Beschaffungspreiskurve zu optimieren.

Die genannten Anwendungsfälle lassen nur selten Zielkonflikte entstehen, weil sich der Flexibilitätsbedarf der Anwendungsfälle zeitlich unterscheidet oder aber nur sehr punktuell überschneidet. Peak Shaving betrifft wenige Stunden im Monat und die Unterstützung der Spannungsregelung wird punktuell dort aktiv, wo eine hohe dezentrale Produktion (beispielsweise durch PV) oder ein hoher Bezug (beispielsweise durch abendliches Aufladen von Elektromobilen und zeitgleichem Kochen) auftritt. Damit verbleibt der grösste Teil der Flexibilität für den Einsatz in der Optimierung der Beschaffung.

Verschiedene Akteure wollen verfügbare Flexibilitäten für ihre Zwecke nutzen. Dazu gehören bereits bestehende Betreiber virtueller Kraftwerke. Es besteht aber auch eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass Anbieter von Photovoltaik- sowie Batterieanlagen, Elektrofahrzeugen oder Ladestationen in dieses Geschäft einsteigen werden. Ein Energieversorger hat in der Rolle als Flexibilitäts-Aggregator gegenüber Dritten jedoch verschiedene Vorteile:

  • Der Netzbetreiber besitzt mit dem Leitsystem bereits heute die «Überwachungs- und Schaltzentrale» des Stromnetzes. Das Leitsystem ist teilweise bereits mit den grössten Flexibilitäten sowie mit neuralgischen Punkten im Netz wie den Netzübergabestellen oder Trafomessungen hochperformant und stabil verbunden.
  • Bereits vorhandene Anlagen in fast allen Gebäuden zur Schaltung der wesentlichen Lasten (Rundsteuerung) sind vorhanden.
    Der Aufbau einer bidirektionalen Kommunikation zwecks Fernauslesung von Messsystemen ist vorgegeben (neue Stromversorgungsverordnung Art.  8a).
  • Die zu installierenden intelligenten Messgeräte können mit marginalem Aufpreis mit Relais zwecks Ansteuerung der bestehenden Flexibilitäten bestückt werden.
  • Die Verkabelung vor Ort ist durch den bisherigen Einsatz von Rundsteuerungen bereits weitgehend auf den Anschluss an das intelligente Messgerät vorbereitet.
  • Ein wichtiger offener Punkt ist die Frage, in welcher Rolle der Energieversorger die Infrastruktur der intelligenten Messsysteme auch anderen Marktplayern in Marktrollen wie Lieferanten, Bilanzgruppen etc. zur Bedienung derer Flexibilitätsmanagement-Anwendungsfällen anbieten darf, und wie genau der Informations-, Daten- und Geldfluss ausgeprägt werden muss, damit dieser stets dem Datenschutz (auch zukünftig) und den Weisungen im Bereich Unbundling entspricht.Die netzdienlichen Anwendungsfälle dürfen in der Rolle des Netzbetreibers ausgeführt werden, sofern alle Voraussetzungen, zum Beispiel die nötigen Einverständnisse der Flexibilitätsbesitzer (Endkunde, Prosumer, Batterie- oder Kraftwerksbesitzer) dafür vorliegen.

Innovationsprojekt Optiflex

Mit dem Ziel, eine State-of-the-art-Lösung im Bereich Flexibilitätsmanagement zu entwickeln, hat die Optimatik AG zusammen mit Partnern im Herbst 2017 ein Innovationsprojekt gestartet, welches von der Schweizerischen Agentur für Innovationsförderung Inno­suisse unterstützt wurde.

Folgende Firmen waren an diesem Innovationsprojekt beteiligt: Optimatik AG (Hauptindustriepartner, Generalunternehmer des eingeführten Smart-Metering-Systems, Konzeption, Integration, Projektmanagement, Testing), Azienda Elettrica di Massagno (AEM SA) (Anforderungsdefinition, Netzbetreiber, Kunde, Ziel zur Effizienzsteigerung des Verteilnetzes), Fachhochschule Supsi (Institut für nachhaltige Energiesysteme [Isaac] und Dalle Molle Institut für künstliche Intelligenz [Idsia]) (Forschungspartner, Konzeption, Entwicklung der Data Analytics und Algorithmen, Realisierung verschiedener Software-Bausteine) sowie Landis+Gyr AG (Konzeption und Lieferung Smart-Metering-Infrastruktur, Unterstützung im Testing). Die Entwicklung erfolgte auf einer Software-Plattform der Kisters AG in enger Zusammenarbeit mit der Optimatik und den Projektpartnern.

Das Projekt begann mit einer Analyse der technischen und regulatorischen Rahmenbedingungen sowie der Evaluation von wirtschaftlichen Anwendungsfällen auf Basis des vorgestellten Geschäftsmodells. Das Resultat des Innovationsprojekts Optiflex ist ein neuartiges Flexibilitätsmanagement mit Namen Flexmanager, welches mittels Algorithmik auf Basis von Smart-Metering- und Scada-Messdaten verfügbare Flexibilitäten intelligent steuert. Der Fokus der Lösung liegt dabei nicht nur auf der Steuerung von grossen Flexibilitäten wie industriellen Verbrauchern oder Pumpspeicherkraftwerken, sondern insbesondere auch auf den verteilten Verbrauchern und Produktionen, die heute nicht oder nur über Rundsteuerungen auf herkömmliche Weise genutzt werden.

Die zeitliche Flexibilität von Verbrauch und Produktion kann mit einer intelligenten Steuerung im Sinne eines vorgängig beschriebenen Flexibilitäts-Aggregators zu verschiedenen Zwecken genutzt werden; beispielsweise, um damit die Belastung der Netzkomponenten auszugleichen, am Regelenergiemarkt teilzunehmen oder die Energiekosten beim Verbraucher sowie beim Energieversorger zu reduzieren.

Das Flexibilitätsmanagement deckt in der ersten Version folgende Anwendungsfälle ab:
Peak Shaving Die Maximalleistung auf den Netzübergabestellen des Verteilnetzes gegenüber dem vorgelagerten Verteilnetz soll möglichst gering gehalten werden. Bei dieser Umsetzung agiert der Algorithmus anders als bei heute verfügbaren Lösungen nicht reaktiv bei Eintreten eines Leistungsmaximums, sondern er stützt jegliche Schaltentscheide auf Bottom-up-Prognosen von allen Verbrauchern und Flexibilitäten ab. Der Einsatz der Flexibilitäten geschieht stets unter Berück-
sichtigung und Einhaltung definierter Rahmenbedingungen.
Voltage Control Es handelt sich dabei um die Unterstützung der Spannungsregelung auf den Netzebenen  5 und 7 mittels gezieltem und vollautomatischem Einsatz der verfügbaren Flexibilitäten. Es wird dabei mittels Algorithmus feingranular berechnet, welche Flexibilitäten in welcher Netzsituation genutzt werden sollen. Um dies zu ermöglichen, werden fortgeschrittene Datenanalyse-Methoden eingesetzt, welche auf Basis von Netzmessdaten automatisiert die relevanten Informationen von der Netztopologie evaluieren.

Das bestehende Smart-Metering-System des Pilotkunden wurde weitestgehend zur Befehlsübertragung zu den verteilten Flexibilitäten, aber auch zur Erfassung der Nicht-Echtzeit-Daten genutzt. Das obenstehende Bild vermittelt einen Einblick in die umgesetzte Lösung und deren Einbettung in die bestehende IT-Applikationslandschaft.

Den Bedienern, dem Management und den Forschern wurde ein flexibel konfigurierbares Dashboard zur Verfügung gestellt. Untenstehendes Bild zeigt einen vorausgeplanten Fahrplan für eine Flexibilität vom Typ Boiler.

Da in diesem Projekt ein regelbares Wasserkraftwerk als Flexibilität genutzt werden konnte, wurde auch dafür ein passendes Überwachungs-Dashboard realisiert. Neben der Spannung an verschiedenen Punkten werden darin auch die Leistung, der Strom sowie der Füllstand des Speichers in beinahe Echtzeit dargestellt. Um die Leistung an den Netzübergabestellen stets im Auge zu behalten, wurde auch dafür das entsprechende Dashboard angelegt.

Weiteres Vorgehen und Weiterentwicklung

Die Lösung soll in den nächsten Jahren kontinuierlich weiterentwickelt werden. So werden einerseits aktuell im Innovationsprojekt «Lugaggia Innovation Community» die nötigen Funktionen für die zentrale Regelung der Eigenverbrauchsoptimierung eines ganzen Quartiers umgesetzt, getestet und mit einem dezentralen Regelansatz verglichen. Anderseits sollen weitere Use Cases des Flexibilitätsmanagements gemeinsam mit Energieversorgern evaluiert und umgesetzt werden.

Das Konzept des Innovationsprojektes Optiflex wurde so aufgebaut, dass verschiedenste Use Cases implementiert werden können. All diese Use Cases können dann unter Einsatz einer Softwarelösung für virtuelle Kraftwerke nach zu definierenden Kriterien miteinander optimiert werden.

Erkenntnisse und Schlussfolgerung

Die Analysen zu den Einsatzzwecken von Flexibilität haben mehrere interessante Anwendungsfälle geliefert. Verschiedene Anwendungsfälle – in der vorliegenden Betrachtung sind das konkret Peak Shaving, Spannungsregelung sowie die Optimierung von Flexibilität versus Beschaffung – lassen sich kombiniert nutzen, was im berechneten Geschäftsmodell für Energieversorger ein deutlich besseres Ergebnis ergibt. Unter Einbezug weiterer Anwendungsfälle könnten die Ertragsaussichten zusätzlich verbessert werden. Weitere Anwendungsfälle könnten beispielsweise die heute bei Rundsteuerungen verbreitete Ansteuerung der öffentlichen Beleuchtung oder die Vermarktung der Flexibilität am Intraday-Markt sein.

Zur Umsetzung und Nutzung der Flexibilität für «nicht-netzdienliche» Anwendungsfälle müssen die gesetzlichen und regulatorischen Vorgaben und Entwicklungen in den Bereichen Datenschutz und Unbundling sehr genau verfolgt werden. Das Geschäftsmodell und die technische Ausgestaltung des Systems müssen dabei stets entsprechend ausgerichtet und, falls nötig, auch angepasst werden.

Autor
Paul Hugentobler

ist Leiter Leistungserbringung und Mitglied der Geschäftsleitung der Optimatik AG.

  • Optimatik AG, 9053 Teufen
Autor
Timon Romualdi

ist Projektleiter bei der Optimatik AG.

  • Optimatik AG, 9053 Teufen

Flexibilität im Netz

Die deutsche Bundesnetzagentur definiert den Begriff Flexibilität im Stromnetz in Anlehnung an Eurelectric wie folgt: «Flexibilität ist die Veränderung von Einspeisung oder Entnahme in Reaktion auf ein externes Signal (Preissignal oder Aktivierung) mit dem Ziel, eine Dienstleistung im Energiesystem zu erbringen. Die Parameter, um Flexibilität zu charakterisieren, beinhalten die Höhe der Leistungsveränderung, die Dauer, die Veränderungsrate, die Reaktionszeit, den Ort etc.» Hierbei handelt es sich um Verbraucher, Produktionen oder Speicher, welche in der (zeitlichen) Charakteristik Flexibilität aufweisen. Als Beispiel sei hier ein Wasserboiler genannt, der als Randbedingung aufweist, mindestens eine gewisse Anzahl Stunden pro Tag versorgt sein zu müssen.

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