Zielnetzplanung im Mittelspannungsnetz
Etablierung des Prozesses bei EBM
Die Zielnetzplanung ist ein zentraler Geschäftsprozess eines Netzbetreibers im Rahmen des strategischen Asset Managements: Zielnetz-Varianten müssen periodisch und bei veränderten Bedingungen überprüft werden. Bei EBM werden aktuell Mittelspannungs-Teilnetze untersucht und die zugehörigen Standardnetzregeln und Methoden überprüft.
Die EBM Netz AG betreibt in der Nordwestschweiz Netze von 145 kV bis 400 V mit einer jährlichen Energiedurchleitung von 1,4 TWh. Nachdem 2016/17 die Zielnetzplanung für das Hochspannungsnetz abgeschlossen wurde, ging es anschliessend um die Realisierung einer Zielnetzplanung für ein erstes Teilnetz des Mittelspannungsnetzes. Das ausgewählte Zielnetz der Netzebene 5 umfasst ein vom Unterwerk Therwil versorgtes Teilnetz mit rund 120 Trafostationen, 80 km Leitungslänge und vorstädtischem bis ländlichem Charakter. Das Ziel ist eine Vision betreffend der Planung für den Investitionszeithorizont bzw. Lebenszyklus der Betriebsmittel. Die wesentlichen Optimierungsgrössen sind die Versorgungssicherheit und die Kosten der Betriebsmittel. Die Erkenntnisse, Methoden und Werkzeuge sollen anschliessend auf die restlichen Teile des Mittelspannungsnetzes angewendet werden.
Vorgehen und Rahmenbedingungen
Das Projekt wurde in vier Arbeitspakete aufgeteilt:
- Szenarienbildung mit Lastentwicklung
- Generierung von Zielnetz-Varianten
- technisch-betriebliche Bewertung
- betriebswirtschaftliche Bewertung
Um Vorgaben für die Generierung von Zielnetz-Varianten im zweiten Arbeitspaket zu haben, wurden Standardnetzregeln mit Grenzwerten für betriebliche Grössen sowie für die Versorgungssicherheit wie SAIDI (durchschnittliche Dauer von Versorgungsunterbrechungen pro Endverbraucher und Jahr) und ENS («energy not supplied» bzw. nicht gelieferte Energie bei Einfach- und Doppelausfall) aufgestellt.
Bei der Zielnetzplanung für die Netzebene 5 wurden die Unterwerke und die Trafo- und Schaltstationen örtlich als fixiert angenommen, die Leistung der Trafo- und Schaltstationen wurde jedoch nicht als fest betrachtet. Bei der Netzplanung stand deshalb primär die Leistungsführung im Vordergrund.
Die seit Jahren vorbereitete Spannungsumstellung auf 20 kV wurde als gegeben angenommen, zumal sich lokale Überlastungen von Leitungen beim 13- kV-Netz künftig verschärfen.
Bei diesem Projekt ging es darum, die Belastung der Trafostationen im Planungs-Zeithorizont und die Netzkonfiguration festzulegen, welche die technisch-betrieblichen und betriebswirtschaftlichen Bedingungen optimal erfüllen.
Das Zusammenlegen von Trafostationen im Netzgebiet ist hier kaum realistisch. Man könnte zusätzliche Trafostationen bauen, dies hätte aber keine Auswirkungen auf die Zielnetzplanung. Mit diesen Rahmenbedingungen definieren die Belastungsszenarien der Trafostationen die Anforderungen an das Mittelspannungsnetz.
Analyse der Belastung der Trafostationen
Trafostationen werden oft nicht nur durch den normalen Verbrauch belastet, sondern auch durch die E-Mobilität, die dezentrale Einspeisung von Photovoltaik (PV) und Windkraft sowie durch Speicheranlagen. Wind- und Speicherprojekte sind im hier vorgestellten Projekt nicht vorhanden und werden somit nicht beschrieben.
Weil der Verbrauch der Elektromobilität ein Spezialfall ist, wurde er detailliert untersucht. Aus einer Literaturanalyse wurde abgeleitet, dass am Ende des Planungs-Zeithorizonts im Jahr 2070 mit einem Anteil an Elektromobilität von 70% zu rechnen ist. Der Ladebedarf wird zu 80% an den heutigen Netzanschlüssen der Endkunden erfolgen. Die Prognose der Elektroautos pro Hausanschluss – im Durchschnitt hat jeder EBM-Kunde heute ein Fahrzeug –, die jährliche Fahrleistung in km und der Energiebedarf in kWh/km ergeben den nötigen Bedarf an Ladeenergie einer einzelnen Trafostation pro Jahr.
Belastungsszenarien der Trafostationen
Für die Belastungsszenarien wurden zuerst der Normalverbrauch und die dezentrale PV-Produktion ermittelt. Mittels Lastprofilmessungen, dem Ausrollen des aufsummierten Energiebedarfs der Endkunden und dem Profil der jährlichen Sonneneinstrahlung ist die Belastung der Trafostationen in beiden Flussrichtungen bekannt. Zur Vereinfachung der Berechnungen werden vier Extremzeitpunkte pro Jahr definiert, nämlich maximaler bzw. minimaler Endkundenverbrauch, zusammen mit maximaler bzw. fehlender PV-Produktion (Bild 1). Der Fall mit minimalem Verbrauch und fehlender PV-Produktion stellt keine Herausforderung für das Netz dar. Es bleiben also drei Zeitpunkte übrig, zu denen später die Netzbelastung ermittelt wird. Der Anpassungsbedarf der installierten Leistung je Trafostation wird nicht analysiert: Ein erhöhter Leistungsbedarf bedingt in allen Zielnetz-Varianten Anpassungen der Trafokapazität.
Für die Abschätzung des zusätzlichen Einflusses der Elektromobilität auf den Verbrauch kann die jährliche Ladeenergie mittels Ladeprofil über einen ganzen Tag auf den Leistungsbedarf pro Stunde ausgerollt werden. Worst-Case-Untersuchungen zeigen einen erhöhten Leistungsbedarf, der um Faktoren zwei bis vier höher ist als der Normalverbrauch. Um dies zu umgehen, ist EBM überzeugt, dass es ein netzverträgliches Lademanagement braucht. Beispiel: Ladungen konzentrieren sich zufällig auf denselben Abend und sind nicht gleichmässig auf die Wochentage verteilt. Erste Simulationen zeigen, dass wenn die Zeiten von tiefem Leistungsbedarf gezielt genutzt werden können, die Elektromobilität am Ende des Zielnetzhorizonts 5% des Verbrauchs ausmacht und keinen Netzausbau erfordert. Mit den heutigen Annahmen muss erstmals in der Zeitperiode 2030 bis 2040 ein netzverträgliches Lademanagement eingesetzt werden.
Während der Elektromobilität ohne Lademanagement ein relevanter Einfluss auf die Verbrauchsentwicklung nachgewiesen wird, stellt der Beitrag der PV-Produktion für die interessanten Fälle keinen kritischen Faktor für Netzüberlastungen in der NE5 dar. Bei den nachfolgenden Zielnetzvarianten wird das Lademanagement bei der Elektromobilität vorausgesetzt.
Bauanleitung zur Generierung von Zielnetzvarianten
Zielnetze müssen bei minimalen Kosten technisch-betriebliche Anforderungen erfüllen und die geforderte Versorgungssicherheit gewährleisten.
Während im vermaschten Hochspannungsnetz (n-1)-Kriterien angewendet werden können, orientiert man sich im Mittelspannungsnetz an der Versorgungsqualität der Endkunden. In Anlehnung an die Bemessungskriterien der realisierten Versorgungssicherheit werden die Kennzahlen SAIDI und ENS angewendet. Mit zuverlässigkeitsbasierten Berechnungen in Neplan können prognostizierte Kennzahlen für die Zielnetze ermittelt werden. Dabei wurde auf VDEW-Betriebsstatistiken zurückgegriffen.
Die Anforderung an die maximale nicht gelieferte Energie ENS beim Einfachausfall gekoppelt mit der benötigten Umschaltzeit, die Anforderung des ENS beim Doppelausfall gekoppelt mit der Reparaturzeit, und die maximale Leistung der Notstromgruppe für die Stichversorgung legen die topologischen Bausteine eines Zielnetzes fest (Bild 2). Dies sind Trafostations-Ketten und -Stiche, welche je eine maximale Trafoleistung beinhalten. Trafostations-Ketten müssen an ihren Enden mit mindestens zwei weiteren Trafostations-Ketten zusammengeschaltet werden können. Dies bedingt, dass die üblichen, vom Unterwerk abgehenden Ringleitungen mit Querverbindungen gekoppelt werden müssen.
Das angewendete Verfahren versucht, aus den bestehenden Trafostationen die Ketten zu bilden und so nicht berücksichtigte Trafostationen den Stichen zuzuordnen. Wenn immer möglich, sollen bestehende Trassen oder Leerrohre genutzt werden. Die Ketten werden so zu Ringleitungen verknüpft, um die Umschaltmöglichkeiten an den Enden der Ketten zu gewährleisten. Im Gegensatz zu bisher angewendeten Verfahren wurden automatisierte Verfahren zwar intensiv diskutiert, jedoch noch nicht angewendet. Mit Automatismen kann der «Suchbaum» zum Finden des optimalen Zielnetzes systematisch bearbeitet werden. Dies bedingt jedoch eine Problemformulierung in maschinenlesbarer Form.
Unter den gesetzten Rahmenbedingungen wurden von anfänglich sechs skizzierten Zielnetz-Varianten zwei im Detail ausgearbeitet und miteinander verglichen. Das angewendete Verfahren hat schliesslich die Variante 1 als ausgewähltes Zielnetz hervorgebracht. Diese Variante wird dem «weiter wie bisher» Netz mit lokalen Optimierungen, Variante 2, gegenübergestellt.
Technisch-betriebliche Bewertung
Die Einhaltung der maximalen Strombelastung von 100 % und die Abweichungen (max. ±5 %) der Spannung vom betrieblichen Sollwert (100 %) sowie die wahrscheinlichkeitsbasierten Kennzahlen der Versorgungssicherheit bilden die Basis zur netzrechnerischen Beurteilung der Zielnetz-Varianten (Tabelle 1). Für die betrachteten Belastungsfälle sind die zwei Zeitpunkte t1 und t3_opt mit dem Szenario einer optimalen PV-Produktion massgebend.
Bedingt durch das seit den 1980er-Jahren angewendete Prinzip, 20-kV-fähige Betriebsmittel im Netz zu verbauen, wird die Umstellung der Betriebsspannung von heute 13 kV auf 20 kV möglich, was die prognostizierte jährliche Lastzunahme von 1 % – im Wesentlichen als Folge von Bevölkerungszunahme und Elektromobilität – grösstenteils ausgleicht. Die Abweichung vom Spannungssollwert liegt im tiefen einstelligen Prozentbereich, auch wenn beim PV-optimistischen Szenario 28 % der verbrauchten Energie dezentral produziert wird.
Variante 1 erfüllt die geforderten Zahlen der Versorgungssicherheit, da dieses Zielnetz mit diesen Vorgaben geplant wurde. Variante 2 erreicht die ENS-Anforderung nicht: Die Netztopologie ist so gebaut, dass beim Doppelausfall die ENS-Kennzahl gemäss Standardnetzregeln um einen Faktor 3 überschritten wird. Stromwert- oder Spannungswertverletzungen treten hingegen nur beim Ist-Netz (Base Case) auf.
Betriebswirtschaftliche Bewertung
Wesentlich sind die Anschaffungswerte der Betriebsmittel. Dies sind die Kosten für Trafostationen und Trassee inklusive Leitungen. Der Aufbau eines Bewertungsschemas mit der Granularität der Komponenten der Trafostationen und den Leitungsabschnitten hat sich als nicht machbar, aber auch als nicht nötig herausgestellt. Zudem sind die Kosten der Trafostationen in allen Varianten gleich.
Deshalb wurde als Bewertungsmittel eine Kennziffer gewählt, die neben den invarianten Kosten die Investitionskosten der Trassen – Rohrblöcke und Kabel – sowie die Differenz der kumulierten Verlustkosten zur Basisvariante «weiter wie bisher» (Variante 2) festhält.
Bei einer Variante, die von der heutigen Netztopologie abweicht, ist es wichtig, dass bestehende Trassen oder Leerrohre genutzt werden können. Nur so ist es möglich, neue Netztopologien ohne grosse zusätzliche Netzkosten zu realisieren. Der Vergleich der Varianten 1 und 2 zeigt, dass begünstigt durch bestehende Leerrohre die neue Netztopologie von Variante 1 nur zirka 2 Mio. CHF mehr kostet und dank einer besseren Auslastung der Leitungen die reduzierten Verluste das Zielnetz (Variante 1) unterstützt (Tabelle 2). Das Zielnetz stellt sich als ca. 1 Mio. CHF teurer als Variante 2 heraus, wobei Letztere die technisch-betrieblichen Vorgaben nicht einhält.
Variantenentscheid
Die Gründe für den Variantenentscheid können wie folgt zusammengefasst werden:
- Variante 1 (Zielnetz) ist im Vergleich zu Variante 2 unter Berücksichtigung der betrachteten Kostenkomponenten zirka 1 Mio. CHF teurer (ca. +4%).
- Variante 2 erfüllt die Zahlen der Versorgungssicherheit nicht. Nur Variante 1 erfüllt alle technisch-betrieblichen Bedingungen.
- Variante 1 beinhaltet eine weitreichende Überarbeitung der Netztopologie. Durch die vielen kurzfristigen Bauvorhaben ist eine Überarbeitung überfällig. Gewisse Vorarbeiten sind bereits gemacht: Vorhandene Leerrohre werden an verschiedenen Orten genutzt, was sich positiv auf die Wirtschaftlichkeit auswirkt.
Umsetzbarkeit und Etappierung
Die Etappierung thematisiert wesentliche Umbautätigkeiten vom Ist-Netz zum Zielnetz mit zeitlicher Reihenfolge. Es braucht eine Abwägung zwischen Aspekten wie Zeit bis zur Zielerreichung der Versorgungsqualität, Prognosesicherheit und Verfügbarkeit der Ressourcen. Das Ziel ist ein Etappierungsplan. Die Umsetzung des gewählten Zielnetzes umfasst neben Kleinprojekten folgende grobe Elemente, für welche Bild 3 drei Varianten zeigt:
- Bau der 1. Leitung mit 5,4 km, davon 1,8 km neues Trassee.
- Bau der 2. Leitung mit 3,2 km, davon 2,0 km neues Trassee.
- Spannungsumstellung von 13 kV auf 20 kV.
Bei Variante 2 wird gegenüber Variante 1 bereits nach dem ersten Leitungsbau eine Verbesserung des ENS erreicht. Variante 3 ist wiederum besser geeignet als Variante 2, da die zweite Leitung erst gebaut werden muss, wenn die Last entsprechend angestiegen ist bzw. der Druck steigt, die ENS-Vorgaben vollständig zu erreichen. Das heisst, die Spannungsumstellung auf 20 kV ist nicht sofort, jedoch auch nicht erst nach Realisierung des Zielnetzes anzugehen.
Fazit
Ein wichtiges Ziel des Projektes war das Sammeln von Erfahrungen für die Zielnetzplanung der weiteren Teile des Mittelspannungsnetzes. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse und entwickelten Methoden und Werkzeuge sollen auch für die Erarbeitung der Zielnetzplanung in weiteren Teilnetzgebieten verwendet werden können.
Bei der Szenarienbildung für Verbrauch und PV-Produktion in Trafostationen hat sich gezeigt, dass es Vereinfachungen gibt, indem auf wesentliche Einflussparameter fokussiert wird und Trafostationen in Kategorien mit vergleichbarem Verhalten eingeteilt werden. Da jedes weitere Teilnetz seine spezifischen Eigenschaften haben wird, ist mangels Erfahrung Vorsicht geboten bei der optimistischen Anwendung von Vereinfachungen. Prognosen bei der Elektromobilität unterstreichen die Notwendigkeit eines intelligenten Lademanagements, um einen Netzausbau vermeiden zu können.
Die durch die Spannungsumstellung auf 20 kV gewonnene Kapazität kann die Strombelastungszunahme von heute bis zum Zielnetz-Zeithorizont beinahe kompensieren.
Die Bauanleitung zur Generierung von Zielnetz-Varianten wurde festgelegt und erfolgt auf Basis von Faustregeln (Standardnetzregeln).
Das Zielnetz soll auf die Versorgungssicherheit ausgerichtet sein. Die Beziehung zwischen Zielnetz-Varianten und prognostizierten Versorgungskennzahlen kann mit wahrscheinlichkeitsbehafteten Ausfallsvarianten-Rechnungen ermittelt werden.
Die betriebswirtschaftliche Bewertung ergab, dass wesentliche Kosten zum Vergleich von Zielnetzen die Kosten für Leitungen und Wirkverluste sind. Varianten, die bereits bestehende Trassen oder Leerrohre nutzen, sind vorteilhaft.
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