Wirkliche Nachhaltigkeit
Globales Potenzial und lokaler Ausbau
Erneuerbare Energien stehen im medialen Rampenlicht, Rohstoffe in ihrem Schatten. Nachhaltigkeit ist aber auf beides angewiesen: auf eine Kreislaufwirtschaft, die erneuerbar betrieben wird.
Klimadebatten und -demonstrationen bringen die Einsicht zum Ausdruck, dass unser bisheriges Konsumverhalten nicht beliebig fortgesetzt werden kann, nicht nachhaltig ist. Dabei steht meist die an die Energiebereitstellung gekoppelte Klimafrage im Vordergrund, und der entsprechende Druck auf die Politik führt zu Energiewenden und Energiestrategien. Natürlich haben die Klimaschutzmassnahmen ihre Berechtigung, aber es wird meist ausgeblendet, was ebenso nötig ist: der nachhaltige Umgang mit den Rohstoffen. Denn sowohl eine erneuerbar angetriebene Linearwirtschaft als auch eine fossil versorgte Kreislaufwirtschaft können a priori nicht nachhaltig sein. Es braucht eine erneuerbar angetriebene Kreislaufwirtschaft.
Auf dieser Einsicht basiert ein von Empa-Forschern um Harald Desing verfasster Artikel [1], der eine Antwort auf die Frage liefert, ob es überhaupt möglich ist, eine Kreislaufwirtschaft ausschliesslich mit erneuerbaren Energien zu betreiben, wenn die Grenzen des Erdsystems und der menschliche Bedarf an chemischer Energie berücksichtigt werden. Eine echte Herausforderung, besonders wenn man – wie es der Artikel tut – bedenkt, dass die Rückgewinnung von Rohstoffen aus Abfallprodukten oft deutlich energieintensiver als das Schürfen und Veredeln von Rohstoffen ist. Und da man ja heute weit davon entfernt ist, die nicht nachhaltige Einweg-Wirtschaft erneuerbar zu betreiben, wird dies bei einer energieintensiveren Kreislaufwirtschaft noch deutlich anspruchsvoller.
Potenziale der erneuerbaren Energien
Im Artikel präsentieren die Forscher eine auf einem ingenieurwissenschaftlichen Ansatz basierende Methode, bei der – unter Berücksichtigung der Unsicherheiten von Parametern und Modellen – Potenziale der erneuerbaren Energien berechnet werden.
Die Methode bezieht sich auf das gesamte Energiesystem der Erde, das von drei erneuerbaren Energieflüssen angetrieben wird: von der Sonneneinstrahlung – auf die sich beispielsweise auch Wind- und Wasserkraft zurückführen lassen –, der Erdwärme sowie den Gezeiten. Dieses Energiesystem wird in einem stationären Modell abgebildet (Bild 1): Das für die Versorgung der Kreislaufwirtschaft nutzbare technische Potenzial wird berechnet, indem vom theoretischen Energiepotenzial der Bedarf des Erdsystems, der Bedarf für die Bereitstellung des chemischen Potenzials und die Verluste der technischen Energiewandlung abgezogen werden. Da das Modell stationär ist, werden Transitionen im System und Temperaturänderungen (geologische Langzeitveränderungen, astronomische Schwankungen wie erhöhte Sonnenleuchtkraft) nicht berücksichtigt. Wie diese Potenziale geerntet werden sollen, d. h. welche Maschinen, Materialien und Ineffizienzen dazu verwendet bzw. akzeptiert werden, soll in weiteren Studien untersucht werden. Diese hängen allerdings stark von den Technologien und Herstellungsweisen ab, wodurch das praktisch umsetzbare Potenzial in dieser Abhängigkeit kleiner ausfallen wird.
Ursprünglich wurden die drei Energieflüsse des theoretischen Potenzials komplett durch das Erdsystem verwendet, u. a. um den Wasserkreislauf anzutreiben. Dann fing der Mensch an, einen gewissen Anteil zu nutzen, um seinen Bedarf an chemischer Energie für Nahrung und Baumaterial (Holz) abzudecken. So lange diese Nutzung die im Empa-Artikel erwähnten «Earth system boundaries», d. h. Erdsystemgrenzen, respektiert, ist die Nutzung nachhaltig. Wird die Belastung für die Erde zu gross, kann es zu irreversiblen Schäden führen.
Die Sache mit den Erdsystemgrenzen ist nicht einfach, denn solche Grenzen können in Bezug auf den Gleichgewichtszustand der Erde nur mit einer grossen Unsicherheit geschätzt werden. Sie beziehen sich auf eine bestimmte Ära, beispielsweise den Holozän, der Zeitspanne von rund 10'000 Jahren, in welcher höhere Zivilisationen entstanden sind. Ein solcher Quantifizierungsversuch wurde mit den Planetary Boundaries unternommen.[2,3] Um trotz dieser beträchtlichen Unsicherheiten zu einem klaren Ergebnis zu kommen, werden die Energiepotenziale in der Studie mit einer Vertrauenswahrscheinlichkeit von 99% ermittelt. Man ist somit auf der sicheren Seite.
Zur Ermittlung des Potenzials dominieren in der Fachliteratur die drei Ansätze «rein theoretisches Potenzial», «technische Umwandlung und geeignete Standorte» und «unter Berücksichtigung politischer und ökonomischer Vorgaben». Die Autoren der Empa-Studie vertreten eine pragmatische Position, die zwischen den beiden letzten Ansätzen liegt: was technisch machbar ist und aus Umweltperspektive verantwortet werden kann.
Das Ergebnis der Studie erstaunt in zweierlei Hinsicht. Einerseits lassen sich nur 0,04% des theoretischen Energiepotenzials technisch nachhaltig nutzen. Der Rest wird benötigt, um die Stabilität des Erdsystems zu gewährleisten, um die erforderliche chemische Energie zu erzeugen sowie um die Verluste der technischen Umwandlungsprozesse abzudecken. Andererseits kommt die Studie trotz dieser massiven Einschränkung auf global nutzbare technische Potenziale (ATP) von 71 TW, was deutlich über dem aktuellen weltweiten Energiebedarf liegt.
Gemäss dem Artikel liegt das mit Abstand grösste technisch nutzbare Energiepotenzial in der Solarstromproduktion in der Wüste. Dieses Potenzial übertrifft den aktuellen Energieverbrauch um mehr als eine Grössenordnung. Auf Platz zwei steht die Erzeugung von Solarstrom auf bebauten Flächen. Auch hier ist das Potenzial der durchschnittlichen Produktion deutlich höher als der aktuelle Energieverbrauch. Dann folgen – in absteigender Reihenfolge – die Technologien, die es alleine nicht schaffen würden, den aktuellen Bedarf abzudecken: Wasserkraft, Geothermie, Offshore-Windkraft, Onshore-Windkraft, Wälder (Biomasse-Erzeugung). Weit abgeschlagen gesellen sich noch die Meerestechnologien hinzu: die Wellen-, Osmose- und Gezeitenkraftwerke sowie die Nutzung der Wärme von Ozeanen.
Die Studie empfiehlt deshalb primär den Ausbau der PV-Anlagen auf Gebäuden und anderen bereits versiegelten Oberflächen und dann, als Ergänzung, in Wüsten. Die Nutzung der Wüsten ist zwar das grösste, aber nicht nur aus technischer Sicht anspruchsvollste Potenzial. Desing präzisiert: «Wüstenflächen sehen wir als Reserve für einen erhöhten Energiebedarf der Kreislaufwirtschaft an; etwas, das man aktivieren kann, sollten die bereits versiegelten Oberflächen nicht ausreichen.»
Die Nutzung der direkten Sonneneinstrahlung stellt eine direkte Konkurrenz zur natürlichen Landnutzung dar. Würde man beispielsweise Tropenwälder grossflächig roden, um PV-Anlagen aufzustellen, würde dies die planetaren Grenzüberschreitungen erhöhen. Noch grösser wären die Überschreitungen, wenn man aus Urwaldgebiet Anbaugebiete für Agrotreibstoffe machen würde, weil die dramatisch höheren Verluste einen flächenmässig deutlich grösseren Ausbau erfordern würden.
Ein blinder Fleck
Aber wieso fokussiert man sich in der gesellschaftlichen Nachhaltigkeitsdiskussion auf die Energie, ohne die Materialflüsse zu berücksichtigen? Toni Gunzinger, Professor der ETH Zürich und Geschäftsführer der Supercomputing Systems AG, sieht den Grund in der Verschärfung der Situation bei den Brenn- und Treibstoffen. «Bei den fossilen Energieträgern hat man die Low Hanging Fruits schon lange gepflückt, als man in Texas drei Meter in die Tiefe bohren konnte, um auf Öl zu stossen. Damals betrug der Energy Return on Investment (EROI) 100:1. Heute bohrt man über 6000 m, um Öl zu finden, (EROI 23:1) oder muss Offshore gehen (EROI 10:1). Oder man nutzt Ölsand (EROI 2:1) – bezüglich CO2-Emissionen eine Dreckschleuder. Da ist im Vergleich sogar Kohle sauberer.»
Eine andere Begründung für dieses Ungleichgewicht liefert der am Cern forschende und an der ETH Zürich unterrichtende Teilchenphysiker Michael Dittmar, der sich mit Fragen der regionalen und globalen Ressourcenproblematik (Erdöl, Uran …) beschäftigt und die physikalischen Grenzen von «utopischen» Energiequellen und Ansätzen zur Lösung des Energieproblems wie der Kernfusion erforscht. Die Ursache scheine in der Komplexität der Situation zu liegen: «Vermutlich geht es in vielen Diskussionen immer nur um Teilprobleme und noch viel mehr um Vorschläge, wie diese Teilprobleme eventuell von ‹Lobbygruppen› gelöst werden könnten.» Er plädiert deshalb dafür, dass man eine umfassende Sicht gewinnt und sämtliche Problembereiche diskutiert, wenn man sich mit dem nicht nachhaltigen, sogenannt modernen Leben beschäftigen will. «Wer sich nur auf Teilbereiche konzentriert, wie zum Beispiel die Frage, ob der heutige elektrische Energiebedarf in einem hochentwickelten Industrieland wie der Schweiz mit PV geliefert werden kann, vermeidet die Diskussion über unser heutiges, nicht nachhaltiges menschliches Leben.» Da seien Ideen zu einer Kreislaufwirtschaft zwar wichtig, aber immer noch nicht ausreichend.
Umsetzungsgeschwindigkeit
Für Harald Desing gehen die aktuellen Entwicklungen viel zu langsam und teils in die falsche Richtung: «Eine adäquate Energiepolitik müsste fast alles auf den Ausbau von PV-Anlagen auf der versiegelten Oberfläche setzen. Technologien dafür sind vorhanden, auch wirtschaftlich rentiert sich Sonnenstrom auf dem Dach bereits lange, worauf also warten?»
Anders sieht dies Toni Gunzinger: «Ich schätze, dass weltweit viel mehr umgesetzt wird, als in der Studie angenommen. Es ist ein Schnellzug unterwegs. Laut BP wurden weltweit 2017 350 TWh neue erneuerbare Energien zugebaut: Das bedeutet, dass alle zehn Tage ein erneuerbares Gösgen ans Netz ging. Bezüglich der Schweiz sind wir bei den neuen Erneuerbaren extrem langsam unterwegs: Rang 26 von 28 europäischen Nationen.» Gunzinger vertritt die Bottom-Up-Sicht, die mit der lokalen Situation beginnt, statt der Top-Down-Perspektive der Studie, wobei er die Studie lobt: «Die Desing-Studie macht es umfassender, sie gehen von den Potenzialen aus. Das ist aus wissenschaftlicher Sicht natürlich sinnvoll. Ich bin da kurzfristiger orientiert und schaue, was man jetzt gerade realisieren kann.»
Für Gunzinger ist es wichtig, die örtlichen Bedingungen möglichst optimal zu berücksichtigen. Dabei kann man auch von Nachbarn lernen, denn die Diskrepanz beispielsweise bei der Windkraft zeigt, wo noch Nachholbedarf existiert. «Österreich hat 3000 MW Windkraftanlagen installiert, die Schweiz 75 MW. Man kann nun nicht sagen, Österreich sei topologisch völlig anders als die Schweiz. Wenn man die geografischen Ähnlichkeiten anschaut, ist der Faktor 40 nicht gerechtfertigt. Anders sähe es natürlich beispielsweise mit norddeutschen Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen aus, denn da sind die Bedingungen viel vorteilhafter.» Solche Betrachtungen führen dazu, dass bei Gunzinger die Windkraft einen höheren Stellenwert bekommt als bei Desing, wo das Windkraftpotenzial weit hinter dem Solarpotenzial liegt, unter anderem weil Letztere – betrachtet man das gesamte globale Energiesystem – die eintreffende Sonnenenergie effizienter nutzt.
Bezüglich der Umsetzungsgeschwindigkeit teilt Michael Dittmar die Skepsis von Desing: «Leider stieg der CO2-Gehalt der Atmosphäre global (und es ist ein globales Problem) in den letzten zehn Jahren, und trotz zahlreicher Versprechungen, schneller als in den ersten zehn Jahren dieses Jahrhunderts. Ähnlich ist es praktisch bei allen Aspekten unseres nicht nachhaltigen Lebens.»
Global denken, lokal umsetzen
Aus globaler Perspektive motiviert die Empa-Studie implizit durch ihren ganzheitlichen Ansatz für eine intensivere Auseinandersetzung mit der Idee der Kreislaufwirtschaft, die für Nachhaltigkeit ebenso wichtig ist wie die Energie. Zudem zeigt sie die noch brachliegenden Potenziale bei erneuerbaren Energien auf und hilft so mit, das grosse Bild nicht aus den Augen zu verlieren. Zugleich ist es nötig, die lokale Situation differenziert zu betrachten und nachhaltiger zu gestalten, wobei Vergleiche mit Nachbarländern auf eventuell ausgeblendete Ausbaumöglichkeiten aufmerksam machen. Sinnvollerweise sollen primär lokale Energiequellen genutzt werden. Erst wenn der Ausbau hier an seine Grenzen stösst, bieten sich andere Möglichkeiten wie Solaranlagen in der Wüste an.
Diese gleichzeitige Umsetzung im Rohstoff- und im Energiebereich ist zwar nötig, dürfte aber nicht genügen. Man muss die Perspektive noch weiter öffnen und sich mit unnötigem Energieverbrauch – oder noch grundsätzlicher mit der Nachhaltigkeit des menschlichen Verhaltens – befassen. Und wie man es schafft, nicht nachhaltige Verhaltensweisen zu reduzieren, im Idealfall ohne Einbussen an der Lebensqualität. Michael Dittmar formuliert dies so: «Studien zu wirklich nachhaltigen Systemen und für lange Zeiträume, ohne und mit Menschen, zeigen ein natürliches Kreislaufsystem, dessen Unordnung, die durch jeden Prozess erhöht wird, langfristig direkt und indirekt durch solare Energie geregelt wird. Nur falls sich eine menschliche Ökonomie innerhalb dieses grösseren Ökosystems definiert und entsprechend die Stabilität dieses Ökosystems als zentrale Aufgabe erkennt, kann sie erfolgreich sein.»
Konkret könnte eine solche Ökonomie angestrebt werden, indem man sich am Ziel der 2000-Watt-Gesellschaft orientiert und den Energieverbrauch in der Schweiz von den heutigen 6 kW pro Person in allen Bereichen – Mobilität, Haushalt und Industrie/Dienstleistungen – deutlich senkt. Gemäss der Empa-Studie steht ein global nutzbares Potenzial von durchschnittlich 2300 W pro Person zur Verfügung – ohne Solarenergie aus den Wüsten. Nimmt man zu dieser lokal erzeugten noch die Wüstenenergie hinzu, kommt man auf 7760 W. Das Potenzial ist also da, nun geht es darum, dieses sinnvoll und mit der nötigen Sorgfalt anzuzapfen.
Referenzen
[1] Harald Desing, Rolf Widmer, Didier Beloin-Saint-Pierre, Roland Hischier, Patrick Wäger, «Powering a Sustainable and Circular Economy — An Engineering Approach to Estimating Renewable Energy Potentials within Earth System Boundaries», Energies 2019, 12, 4723.
[2] Will Steffen, et al., «Planetary boundaries: Guiding human development on a changing planet», Science, 13 Feb 2015.
[3] Johan Rockström, et al., «Planetary Boundaries: Exploring the Safe Operating Space for Humanity», Ecology and Society, 14(2), article 32, 2009.
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