Interview Energiemarkt , Mobilität , Regulierung

«Wir werden dereinst viel Speicher benötigen»

Kristian Ruby, Generalsekretär von Eurelectric, im Gespräch

14.12.2017

Kristian Ruby ist Generalsekretär von Eurelectric, dem Branchenverband der europäischen Elektrizitätswirtschaft, und erklärt, wie er die Herausforderungen im europäischen Energiemarkt angehen will – und welche wichtige Rolle die Schweiz dabei spielen kann.

Bulletin: Kristian Ruby, Europa strebt die Energiewende an. Welches sind dabei aus Sicht von Eurelectric die grössten Hürden?

Kristian Ruby: Zentral ist, dass wir das Rahmenwerk für die nächste Dekade, also bis 2030, so gestalten, dass die Ziele der Energiewende erreicht werden können. Dazu fokussieren wir auf drei Bereiche: Dekarbonisierung, Elektrifizierung und die Einrichtung eines Marktes, der allen Beteiligten Zugang gewährt. Nur mit gutem Wettbewerb erhalten wir Effizienz und Transparenz im europäischen Strommarkt. Mir ist ausserdem wichtig, dass sich Eurelectric als Verband modernisiert. Dazu werden wir eine gemeinsame langfristige Vision definieren.

Und welche Herausforderungen müssen diese Beteiligten – also Produzenten, Verteiler, Politik – meistern?

Wir erleben im Augenblick eine riesige Transformation. Wer sich früh darauf eingelassen und sich entsprechend umgestellt hat, ist heute im Vorteil. Im Verteilnetz wird die Herausforderung sein, erhöhte Nachfrage und Produktion aufeinander abstimmen zu können. Ausserdem müssen die Verteilnetzbetreiber mit einer Stimme sprechen, was bei EU-weit über 2500 Verteilnetzbetreibern eine grosse Herausforderung ist.

Wie wichtig ist diese gemeinsame Stimme?

Sie ist spielentscheidend, da das Verteilnetz das Rückgrat der Energiewende ist, wenn es zur Umstellung des Stromsystems kommt. In der EU ebenso wie in der Schweiz wird Strom heute nach wie vor sehr zentral produziert. In Zukunft wird die Stromerzeugung aber dezentral erfolgen. Die Verteilnetzbetriebe müssen dann neue Services und Dienstleistungen wie beispielsweise E-Mobilität mit entsprechender Lade-Infrastruktur anbieten können.

Stichwort Energiewende. Wie realistisch ist das Clean Energy Package respektive dessen Umsetzung bis 2030?

Das Paket ist realistisch, daher ist es gut. Die darin enthaltenen Vorschläge sollen den europäischen Strombinnenmarkt für die Zukunft bereit machen, damit die Klima- und Energieziele bis 2030 erreicht werden können. Es ist ein stark durchgearbeiteter Vorschlag. Wir sind nicht mit allen Aspekten zufrieden, aber wir anerkennen, dass sich die EU-Kommission bemüht hat, Rahmenbedingungen zu etablieren, die ermöglichen, einen Marktzugang zu definieren.

Wo sehen Sie noch Verbesserungspotenzial?

Die Vision des Pakets ist, dass die Verbraucher im Strommarkt der Zukunft eine aktive Rolle spielen sollen. Aber wenn die Verbraucher als zentrale Akteure etabliert werden sollen, müssen die Regeln klar und für alle gleich sein. Es geht nicht, dass man ganz viele Ausnahmen macht für Verbraucher, für erneuerbare Energie, für Verbrauchsgemeinschaften. Vielmehr brauchen wir verbindliche Rahmenbedingungen.

Sind die Verbraucher dazu überhaupt schon bereit?

Es gibt sicher Verbraucher, die jetzt schon dazu bereit sind. Das sind Menschen, die gerne mit ihren Smartphones «spielen» und so Energieverbrauch und -produktion überwachen.

Und was ist mit der Mehrheit? Jenen Verbrauchern, die zufrieden sind, wenn der Strom zuverlässig aus der Steckdose kommt?

Diese Verbraucher werden weniger. Wir werden in Zukunft viel mehr Menschen sehen, die eigene Erzeugungstechnologien haben oder die eigene Batterien anschaffen. Und in fünf bis sieben Jahren werden auch sehr viel mehr E-Autos herumfahren, was den Strombedarf stark ansteigen lassen wird. Das Interesse an günstigem Strom und daher auch daran, eigenen Strom zu erzeugen, wird massiv zunehmen.

Schon in fünf bis sieben Jahren?

Wahrscheinlich sogar noch früher. Die Europakommission geht davon aus, dass in Europa im Jahr 2030 40 Millionen E-Autos immatrikuliert sein werden. Heute sind es 500 000. Ich glaube, dass es einen exponentiellen Anstieg geben wird. Noch besteht zwar das Problem mit der geringen Reichweite. Wenn das aber einmal gelöst ist und die Fahrzeuge Reichweiten von 700 bis 900  Kilometer erreichen, gibt es keinen vernünftigen Grund mehr, ein Benzin- oder Dieselfahrzeug zu kaufen. Da werden wir keinen langsamen Anstieg, sondern eine sprunghafte Erhöhung der Absatzzahlen erleben.

So viele E-Fahrzeuge brauchen eine entsprechend ausgebaute Infrastruktur …

Die Ladeinfrastruktur ist in der Tat ein kritischer Punkt. Wir setzen uns daher aktiv dafür ein, dass diese Infrastruktur in Europa jetzt ausgerollt wird. In jeder Firma, in jedem Geschäft und auch in Häusern müssen Lademöglichkeiten eingerichtet werden. Die Infrastruktur soll nicht der Punkt sein, der diese Entwicklung aufhält oder verlangsamt.

Diese Forderung war auch Teil des Winter Package, welches die EU vor einem Jahr verabschiedet hat. Das Winter Package sieht die Ausrüstung mit Ladestationen aber nur für Neubauten vor. Geht Eurelectric da noch weiter?

Wir möchten, dass man diese Entwicklung ambitionierter angeht und auch in bestehenden Bauten Lademöglichkeiten installiert. E-Fahrzeuge müssen ausserdem Priorität haben beim Parkieren in grossen Städten, und sie sollen Bus- und Taxispuren benutzen dürfen, sodass der Kauf eines solchen Fahrzeugs wirklich Vorteile schafft. Auch gesellschaftlich überwiegen die positiven Aspekte gegenüber Verbrennungsmotoren: Die Luftverschmutzung wird deutlich abnehmen.

Ist das Winter Package realistisch?

Ja, aber wir stehen unter Zeitdruck. 28  Länder müssen sich einigen, und es liegt viel auf dem Tisch im Moment: Neben der Reform des Emissionshandelssystems kommt im Winter auch noch ein Transport Package. Aber die Industrie und letztlich ganz Europa haben ein starkes Interesse daran, die nötigen Voraussetzungen zu schaffen. 2021 ist ja fast übermorgen, und wenn wir das nicht hinkriegen, fehlt ein Rahmenwerk für die Industrie. Daher ist es quasi Pflicht, das zu schaffen.

Sie haben den europäischen Markt erwähnt. Existiert dieser überhaupt oder macht nicht eher jeder etwas für sich?

Sie haben recht in dem Sinne, dass es noch nicht ein Markt ist. Aber das ist ja der Sinn des Clean Energy Package: Qualitative, neue Schritte zu machen, um diesen integrierten, funktionierenden Markt zu realisieren. Alle sollen die Möglichkeit erhalten, an diesem Markt teilzunehmen.

Wo steht da die Schweiz?

Die Schweiz ist Teil des heutigen Strommarktes. Es fliesst viel europäischer Strom durch die Schweiz. Und jüngst haben wir auch gute Zeichen erkannt in Bezug auf die Einbindung der Schweiz in das europäische Emissionshandelssystem. Sie könnte aber noch enger mit Europa arbeiten, noch integrierter sein. Diese Frage ist jedoch mit anderen politischen Fragen verknüpft, was es sowohl für die Schweiz als auch für Europa schwierig macht. Aus meiner Sicht müsste man den Strom von anderen politischen Fragen entflechten, denn die Schweiz hat mit der Wasserkraft das Potenzial, um langfristig die Rolle als Batterie Europas einzunehmen. Wenn wir dereinst ein Energiesystem haben, bei dem 50, 60 oder sogar 70  Prozent der Energie erneuerbar sein soll, werden wir viel Speicher benötigen.

Die Schweiz als einziger Trumpf, um die Versorgungssicherheit Europas in Zukunft zu gewähren?

Nicht der einzige, aber ein potenziell wichtiger. Auch Österreich oder Slowenien haben grosses Potenzial. Im Alpengebiet und in unmittelbarer Nähe ist die Situation gut. Aber in den weiter entfernten, flacheren Gebieten gibt es im Rahmen der Energiewende noch viele Fragen zu beantworten in Bezug auf Speicherung.

Wie stellen wir auch in Zukunft die Versorgungssicherheit sicher?

Neben den erwähnten technologischen Aspekten ist die Markteinrichtung zentral. Wir brauchen ein System, das nicht nur Energie belohnt, sondern auch Kapazität. Wir müssen einen Markt erschaffen und gleichzeitig diese Umstellung planen und vorantreiben. Ein Kapazitätsmarkt kann da sehr effizient sein, weil er Investitionssignale für die Produzenten gibt und eine Belohnung für die Kapazität im Markt vorsieht.

Digitalisierung, Smartness, Datenschutz und -sicherheit sind wichtige Themen, mit denen sich die Branche in Zukunft auseinandersetzen muss. Wo steht Eurelectric in diesem Prozess?

Wenn wir von Digitalisierung reden, meinen wir eigentlich ganz viele verschiedene Dinge. Wir stellen heute eine fundamentale Veränderung unserer Gesellschaft fest – nicht nur im Strombereich. Digitale Technologien bieten ein riesiges Potenzial, effizienter zu arbeiten. Sie beinhalten aber auch ganz schwierige Fragen, beispielsweise nach dem Datenschutz. Regulatorisch steht noch eine strukturierte, systematische Diskussion dazu aus. Diese braucht es aber, denn die grundsätzlichen Fragen über die Rechte der Verbraucher sind in diesem Zusammenhang noch nicht beantwortet worden. Wir müssen uns als Branche damit tiefgründiger und systematischer auseinandersetzen.

Auch viele Unternehmen bearbeiten dieses Themengebiet. Wie funktioniert die Zusammenarbeit?

Das ist ein gesellschaftlicher Wandel, der so tiefgreifend ist, dass wir heute gar noch nicht abschätzen können, was er alles für Folgen hat. Die Geschwindigkeit dieses Wandels ist allerdings so hoch, dass die Politik bisweilen gar nicht mithalten kann. Wir müssen daher als Branche bemüht sein, diesen Prozess so zu gestalten, dass ethische und gesellschaftliche Überlegungen miteinbezogen werden, bevor wir neue Lösungen ausrollen. Letztlich sind es unsere Kunden. Und wir sind dafür da, Werte für unsere Kunden zu schaffen.

Autor
Ralph Möll

ist Kom­mu­ni­kations­spezia­list beim VSE.

Zur Person

Kristian Ruby ist seit Anfang 2017 Generalsekretär von Eurelectric, dem Branchenverband der europäischen Elektrizitätswirtschaft. Zuvor war der Däne für WindEurope als Chief Policy Officer tätig. Seine Karriere hatte er im dänischen Ministerium für Klima und Energie begonnen.

kruby@eurelectric.org

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