Meinung Energiemarkt , Regulierung

Wir haben uns erst auf den Weg gemacht…

Gastbeitrag von Werner Luginbühl

22.08.2018

Vor über einem Jahr haben die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger die Energiestrategie 2050 angenommen, und was ist seither passiert? So gut wie nichts! Getreu dem Motto «Säcke ablegen, warten und hoffen».

Zugegeben, das ist natürlich etwas überspitzt formuliert, und für eine Bilanz der ersten Etappe der Energiestrategie 2050, die seit Anfang 2018 umgesetzt wird, ist es auch noch zu früh. Trotzdem können wir uns nicht zurücklehnen, den einige Massnahmen der ES2050 – zum Beispiel die Marktprämie oder die KEV – gelten nur befristet, und von der Etappe II wissen wir nur, dass das vorgeschlagene Lenkungsmodel abgelehnt wurde.

Die grössten und dringendsten Herausforderungen, welche wir jetzt meistern müssen, sind folgende:

  • Wasserzins
  • Strommarktabkommen mit der EU
  • Strommarktliberalisierung (2. Öffnungsschritt)
  • Strommarktdesign ab 2023 / Erhalt der Versorgungssicherheit


Wasserzinsregelung muss zeitgemäss werden

Die heute geltende Regelung, die einen Wasserzins von maximal 110 CHF vorsieht, ist bis Ende 2019 befristet – und muss zwingend angepasst werden. Als Berner Ständerat freut es mich ungemein, meinen eigenen Kanton als löbliche Ausnahme erwähnen zu dürfen, der die letzte Erhöhung des Wasserzinses nicht mitgemacht hat. Der Wasserzins kostet die Wasserkraft-Produzenten heute insgesamt 550 Mio. CHF. Das sind durchschnittlich 1,6 Rp. pro produzierte KWh.

Der Bundesrat hatte die Not vieler Produzenten ursprünglich erkannt und beabsichtigte, sie zu entlasten. Er schlug vor, den Wasserzins während dreier Jahre auf 80 CHF zu senken. Weiter sah er vor, ab 2023 ein neues Modell mit einem fixen und einem vom Marktpreis abhängigen Teil einzuführen. Doch vorab die Bergkanton wehrten sich gegen diese der aktuellen wirtschaftlichen Situation der Produzenten angepasste Szenario. Leider knickte der Bundesrat ob dieser Gegenwehr ein: Nun soll der heutige Maximalsatz bis 2024 beibehalten werden.

Dieser Entscheid ist für mich nicht nachvollziehbar. Der Wasserzins ist während der letzten (guten!) Jahrzehnte massiv erhöht worden. Noch in den 1990er-Jahren lag er bei gerade einmal 55 CHF.

In Zeiten sinkender Wettbewerbsfähigkeit der Wasserkraft und volatiler Strommärkte steht ein solch starres Wasserzins-Regime quer in der Landschaft. Eine Flexibilisierung ist gerechtfertigt. Ich befürchte, dass sich die Bergkantone mit ihrer unflexiblen Haltung auf lange Sicht vor allem selbst schaden.

Das Strommarktabkommen mit der EU muss kommen

Die Schweiz ist auch heute noch eine Stromdrehscheibe in Europa. Das zeigt sich auch daran, dass der Strom, welcher pro Jahr über die Schweizer Grenze fliesst, den Schweizer Landesverbrauch übertrifft.

Unser Land ist an 41 Interkonnektionspunkten mit seinen vier Nachbarländern verbunden. Das Schweizer Übertragungsnetz ist also ein integraler Bestandteil des europäischen Verbundnetzes. Technisch hätte Swissgrid die Voraussetzungen für die Teilnahme am europäischen Markt vollständig geschaffen. Im Jahr 2007 – also vor elf(!) Jahren - begannen die Verhandlungen über ein Stromabkommen mit der EU; und eigentlich wäre man sich ja einig. Doch die EU blockiert den Abschluss eines Abkommens bisher, weil sie zuerst die institutionellen Fragen geklärt haben will.

2015 wurde in der EU die Marktkopplung eingeführt. Davon sowie von der Kapazitätsberechnung ist die Schweiz aber ausgeschlossen. Das hat für unser Land Konsequenzen.

Ungeplante Lastflüsse belasten das Schweizer Netz zunehmend, wodurch die Sicherstellung der Netzstabilität deutlich anspruchsvoller wird. 2019 droht ausserdem der Ausschluss aus der internationalen Balancing-Plattform, was zu höheren Kosten führen wird. Auch der Opportunitäten für die Wasserkraft als Flexibilitätstrumpf drohen wir verlustig zu gehen. Und nicht zuletzt steigt mit der Abschaltung des Kraftwerks Mühleberg unsere Abhängigkeit von Stromimporten.

Sie sehen, das Stromabkommen ist für die Schweiz also von beträchtlicher Bedeutung.

Vollständige Strommarktliberalisierung ist nötig, aber…

Eigentlich bin ich kein Liberalisierungseuphoriker. Wenn wir aber das oben erwähnte wichtige Strommarktabkommen mit der EU wollen, führt nichts am zweiten Schritt zur Öffnung unseres Strommarktes vorbei. Die vollständige Marktöffnung hat diverse Vorteile: So würden damit beispielsweise Wettbewerbsverzerrungen beseitigt, welche der heutige zweigeteilte Strommarkt bisher begünstigt hat. Ganz im Sinne von «Konkurrenz belebt das Geschäft» würde die Öffnung den Boden für neue, innovative Produkte bereiten. Es würden neue Geschäftsmodelle entstehen und die Energie könnte effizienter genutzt werden. Und dank der um bis zu 30 Prozent geringeren Stromkosten profitierten kleinere KMU von der vollständigen Strommarktliberalisierung wesentlich.

All diese Aspekte lassen für mich nur den Schluss zu, dass nichts an der vollständigen Strommarktliberalisierung vorbeiführt. Allerdings muss diese mit Augenmass erfolgen.

Ob dieses Vorhaben politisch realisierbar ist, steht jedoch auf einem anderen Blatt geschrieben. Der erste Versuch war 2002 an der Urne gescheitert. Ich bezweifle stark, dass die politische Akzeptanz einer vollständigen Strommarktöffnung seither grösser geworden ist.

Hunderte kleine Energieversorger, die sich im Besitz der öffentlichen Hand befinden und die den Strom heute billig am freien Markt einkaufen und ihn mit einer schönen Marge ihren gebundenen Kunden weiter geben, haben nämlich nicht das geringste Interesse an einer Öffnung. Auch die politische Linke dürfte dem Vorhaben wohl eher skeptisch gegenüberstehen.

Studien zum Strommarktdesign und zur Versorgungssicherheit

Das Bundesamt für Energie (BFE) hat sich im vergangenen Jahr des Themas der Versorgungssicherheit angenommen. Die im Auftrag des BFE erstellten Studien zur Versorgungssicherheit kommen zum Schluss, dass bis 2035 «keine signifikanten Versorgungsengpässe» zu erwarten seien.

Das BFE setzt auf eine vollständige Marktöffnung und eine Integration der Schweiz in den EU-Strommarkt. Ausserdem soll die Einführung einer sogenannten strategischen Reserve geprüft werden.

Kurz darauf legte auch die ElCom ihre Studie zur Versorgungssicherheit vor, allerdings mit dem Zeithorizont 2025. Denn Studien auf längere Sicht seien gemäss ElCom zu nahe dran am «Kaffeesatz-Lesen».

Die ElCom-Studie kommt gleichsam zum Schluss, dass die Versorgungssicherheit bis 2025 gesichert sei. Verschiedene Störungsszenarien zeigten, dass sich bei ungünstigen Konstellationen Defizite im Umfang des Energiebedarfs von einer bis zwei Wochen ergeben könnten.

Die ElCom weist aber auch darauf hin, dass «aus Stabilitätsgründen dafür zu sorgen sei, dass ein substantieller Teil der wegfallenden Winterproduktion aus Kernkraft weiterhin im Inland produziert werde».

Sämtliche Studien kommen also zum Schluss, dass die Versorgungssicherheit gesichert sei.

Das ist schön und gut, doch es gibt ein paar Aber!

Einerseits sind weder die vollständige Strommarktliberalisierung noch ein Stromabkommen gesichert. Alle Studien, welche Versorgungssicherheit prognostizieren, gehen aber davon aus, dass dies der Fall sein wird. Was geschieht, wenn das eine oder das andere Vorhaben nicht umgesetzt werden kann? Oder wenn sogar keines gelingt? Können wir einfach warten, bis wir es wissen, oder müssen wir nicht zumindest Szenarien entwickeln, um handeln zu können, wenn einer der oben dargelegten Fälle eintritt?

Anderseits ist auch der in der Energiestrategie postulierte Zubau erneuerbarer Energien bei Weitem nicht gesichert.
Wir produzieren heute jährlich rund 90 GWh Strom aus Windkraft. Vor 5 Jahren war die Menge etwa gleich gross. Für 2020 sollte die Windkraft eigentlich 600 GWh produzieren, 2050 sogar 4300 GWh. Es muss leider konstatiert werden, dass in diesem Bereich in den letzten Jahren praktisch nichts erreicht worden ist. Wir werden den angestrebten Zubau daher massiv verfehlen. Das ist aber nicht weiter schlimm. Denn erstens gibt es in der Schweiz wenig auch nur halbwegs geeignete Standorte für Windparks. Zweitens hätte man diese national koordinieren müssen, und drittens ist der Widerstand gegen solche Projekte in der Regel gross. Und auch persönlich halte ich es nicht für einen grossen Verlust, wenn nicht das halbe Land mit diesen Riesenpropellern verunstaltet wird.

Auch vom geplanten Zubau von 4,4 TWh bei der Geothermie können wir – analog der Windkraft – nur träumen
Und wie sieht es bei der Photovoltaik aus? Strom aus Sonnenenerige soll und muss den grössten Anteil der wegfallenden Produktion substituieren. Darin liegt sicher ein beträchtliches Potenzial. Allerdings produziert die PV gerade im Winter bloss unterdurchschnittlich. Schon heute importieren wir im Winter in beträchtlichem Umfang Strom. Im vergangenen Jahr beispielsweise entsprachen die Importe in die Schweiz rund 50 Prozent sämtlicher Stromexporte unser Nachbarländer. Die Hälfte des Stroms, welche unsere Nachbarn exportieren, fliesst also in die Schweiz.

Kommen wir zum Rückgrat der Schweizer Stromversorgung: Wasserkraft! Sogar hier gilt: Weder Erhalt noch Zubau im Bereich der Wasserkraft sind aus heutiger Sicht gesichert. Die Richtwerte der Energiestrategie kalkulieren mit einem Bruttozubau der Wasserkraft um 2,8 TWh auf neu 37,4 TWh.

Dabei geht die Energiestrategie – abgesehen von der fünfjährigen Übergangsfrist, während der Marktprämien und Investitionshilfen ausgerichtet werden – davon aus, dass die Marktakteure in neue und bestehende Kraftwerke investieren. Es ist aber jedem klar, dass die tiefen Preise im aktuellen Marktkontext keinerlei Investitionsanreize bieten. Bleiben die nötigen Investitionen in den Schweiz Kraftwerkpark aber aus, wird die Importabhängigkeit gar noch grösser.

Auch der Bundesrat anerkennt im Prinzip die grossen Herausforderungen. In den kommenden Jahrzehnten muss ein Grossteil der bestehenden Wasserkraftwerke erneuert werden. In einer Antwort auf einen Vorstoss im Jahr 2015 schätzte der Bundesrat den Investitionsbedarf in die Wasserkraft für die Zeit zwischen 2010 und 2050 auf rund 30 Milliarden Franken – und das notabene nur, um den heutigen Produktionsanteil der Wasserkraft zu halten! Denn auch dem Bundesrat ist bewusst, dass bei gleichbleibenden Marktpreisen kaum in neue Anlagen investiert würde. Einen, ebenfalls 2015 eingereichten Vorstoss, beantwortete er nämlich wie folgt: «Sollten die Preise dauerhaft auf dem aktuellen Niveau bleiben, würden ohne staatliche Unterstützung vermutlich keinen weiteren Wasserkraftwerke gebaut oder ausgebaut werden.»

Anders ausgedrückt, soll investiert werden, müssten sich die Marktpreise in absehbarerer Zeit spürbar erholen. Seit Frühling 2016 sind die Preise an den Terminmärkten zwar gestiegen, aber auf tiefem Niveau und hauptsächlich getrieben durch steigende Preise für Gas, Kohle und CO2. Die Strategie von Bundesrat und BFE setzt also eindeutig zu einseitig auf Stromimporte.

Denn auch langfristig wird der Schweizer Strompreis stark von den Entwicklungen an den internationalen Rohstoffmärkten abhängig sein. Um ausreichende Investitionsanreize zu generieren, müssten die Rohstoffpreise markant und nachhaltig steigen. Ob ein solcher Anstieg stattfindet, ist kaum voraussehbar und hängt wesentlich von der Energie- und Klimapolitik grosser Energieverbraucher wie der EU, den USA oder China ab.

Und schliesslich auch dürften die neu eingeführten Kapazitätsmechanismen in den Nachbarländern – ebenso wie die geplante strategische Reserve in der Schweiz – längerfristig auch die Preise im Schweizer Markt dämpfen. Und bleiben die Strompreise auf absehbare Zeit tief, sind die (Re-)Investitionen in den Erhalt der Kraftwerkskapazitäten gefährdet. Der in der ES 2050 geforderte Ausbau wird unter diesen Voraussetzungen nicht erfolgen.

Und etwas gilt es auch zu berücksichtigen: Die Planungshorizonte im Infrastrukturbau sind extrem lang, es braucht langfristige Planungssicherheit und stabile Rahmenbedingungen, damit Investitionen auch getätigt werden.

In den bisherigen Arbeiten des Bundes wurde die Frage nach den (Re-)Investitionsanreizen denn auch ausgeklammert. Aus Sicht der Versorgungssicherheit ist dies eine riskante Strategie. In der Urek-S und im Ständerat wurde ein Vorstoss, welcher den Bundesrat beauftragt, im Rahmen der Neuregelung des Marktdesigns Vorschläge vorzulegen, die auch die langfristige Versorgungssicherheit adressieren und Lösungen für das Problem der (Re-)Investition bieten, daher klar angenommen.

Bei einem Produktionsanteil von 60 Prozent haben aber der Erhalt der bestehenden Wasserkraft und die Ausschöpfung des verbleibenden Potenzials der Wasserkraft wohl nicht nur für mich allerhöchste Priorität.

Wir haben uns erst auf den Weg gemacht

Der Direktor des Bundesamtes für Energie sagt in der Handelszeitung vom 30. Mai 2018: «Autark zu sein, ergibt wenig Sinn.» Das ist die seit der gewonnen Abstimmung zur ES 2050 klar propagierte Strategie des Bundes. Man setzt stark auf Importe.
Wahrscheinlich muss der Eigenversorgungsgrad der Schweiz tatsächlich nicht 100 Prozent betragen. Ganz bestimmt aber auch nicht bei nur 60 Prozent! Denn wir werden in Zukunft wohl eher mehr als weniger Energie brauchen. Das ist keine gewagte Prognose, wenn ich mir zum Beispiel vorstelle, wie die Elektrombilität aktuell forciert wird.

Persönlich finde ich es falsch und gefährlich, wenn wir uns allzu stark in ausländische Abhängigkeit begeben. Kein anderes Land macht das. Ich bin darum der Meinung, dass die Schweiz einen Eigenversorgungsgrad definieren sollte, wie dies beispielweise Österreich gemacht hat. Neben der Abhängigkeit geht es schliesslich auch um Arbeitsplätze und Wertschöpfung im Inland.

Ist ein solcher Schweizerischer Eigenversorgungsgrad einmal festgelegt, sind die Massnahmen zu definieren und umzusetzen, welche sicherstellen, dass wir dieses Ziel erreichen. Denn Hoffnung allein genügt mir definitiv nicht.

Die Frage, wer eigentlich in unserem Land für die Versorgungssicherheit zuständig und veranwortlich ist, wird wie eine heisse Kartoffel zwischen den Akteuren hin und her geschoben. Aber die Zeiten und das Umfeld haben sich radikal verändert. Darum muss die diese Frage für die Zukunft geklärt werden.

Die Herausforderungen sind beträchtlich. Der Weg zum Umbau der Schweizer Stromversorgung ist noch lang. Mit der ES 2050 haben wir uns erst auf diesen gemacht.

Autor
Werner Luginbühl

ist Ständerat (BDP/BE) und Präsident des Verwaltungsrats der Kraftwerke Oberhasli AG.

Werner Luginbühl hielt diese Rede sinngemäss am 22. Juni anlässlich der Generalversammlung der KWO, deren Verwaltungsrat er präsidiert.

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