Wie bringt man 50 GW ins Netz?
Lösungsvorschläge
Um die Energiestrategie realisieren zu können, braucht die Schweiz noch viel PV. Die Stromnetze können diese Solarleistung aber nicht aufnehmen. Wie soll der Netzanschluss angepasst werden, damit das Optimum erzielt wird?
Im Jahr 2022 betrug die von der Swissgrid publizierte maximale vertikale Netzlast 8,4 GW. Diese Leistung kann mit einer gewissen Marge vom Übertragungsnetz an die unteren Netzebenen weitergegeben werden. Aufgrund der generell asymmetrischen Netzplanung bezüglich Leistungsfluss dürfte die maximale dezentrale Einspeisung nicht ganz an diesen Wert gelangen. Sollen in der Schweiz also PV-Anlagen mit einer Anschlussleistung von 25 oder gar 50 GW ans Verteilnetz angeschlossen werden, müssen die Verteilnetze selbst unter Annahme eines Gleichzeitigkeitsfaktors von 60 bis 70% massiv ausgebaut werden.
In einem aktuellen Diskussionspapier1) der Berner Fachhochschule BFH, das im Rahmen des Sweet-Edge-Konsortiums erarbeitet wurde, wird dieser Gedanke weitergeführt. Angenommen, die Verteilnetze würden so ausgebaut, dass sie beispielsweise 25 GW ins Übertragungsnetz zurückspeisen könnten – was würde dort mit dieser Leistung geschehen?
Solarstrom im europäischen Kontext
Alle Nachbarländer der Schweiz verfolgen ähnlich hohe Ausbauziele für PV-Anlagen wie die Schweiz. Die PV-Leistung von Deutschland, Österreich, Italien und Frankreich dürfte künftig die vertikale Netzlast dieser Länder überschreiten. Zwar ist der Gleichzeitigkeitsfaktor europäischer PV-Anlagen kleiner als derjenige der PV-Anlagen eines Schweizer Verteilnetzes, doch selten hat die ganze Schweiz sonniges Wetter, während es im Umland bewölkt ist.
An sonnigen Stunden wird deshalb künftig nicht nur die Schweiz Solarstrom im Überfluss haben, sondern auch die Nachbarländer. Dies schmälert die Exportmöglichkeiten entsprechend. Falls doch exportiert werden kann, dann zu tiefen Preisen. Energietechnisch und volkswirtschaftlich scheint der Ausbau der Verteilnetze auf die volle potenzielle PV-Rückspeisung vor diesem Hintergrund wenig sinnvoll zu sein. Dies lässt sich natürlich nicht auf die Übertragungsnetze oder auf punktuelle Anschlussengpässe übertragen. Ohne entsprechenden Ausbau dieser Kapazitäten werden insbesondere im europäischen Kontext viele Anlagen nicht gebaut werden können.
Dezentrale Energie für dezentrale Versorgung
Nach dieser Logik ist es ein Trugschluss, den Ausbau der Photovoltaik im Grundsatz an den Verteilnetzausbau zu koppeln. Und es wäre fatal, Solarstrom nicht als wichtigste neue Energiequelle für die nächsten 20 Jahre zu betrachten, denn keine andere Kraftwerkstechnologie ist derzeit in der Schweiz in der Lage, die Produktion jährlich um 1 TWh zu steigern.
Im Vergleich zur Jahresenergie generiert Solarstrom hohe Leistungsspitzen. Eine nach Süden ausgerichtete Anlage hat Leistungsspitzen von bis zu 1 kW pro MWh Jahresertrag. Rund die Hälfte dieses Energieertrags einer durchschnittlichen PV-Anlage fällt jedoch in einem Leistungsband von rund 15 bis 20% der Nennleistung an (Bild 1). Zieht man den lokalen Verbrauch (Eigenverbrauch, unabhängig von der Abrechnungslösung) ab, bleibt im Leistungsband oberhalb von 20% der Anlagenleistung nicht mehr viel Energie übrig, selbst wenn die hohen Leistungsspitzen noch auftreten können.
Lösungsansätze für viel Solarstrom im Netz
Das BFH-Diskussionspapier stellt die folgenden Lösungsansätze und Diskussionspunkte zur Debatte. Diese richten sich an verschiedene Interessensgruppen und sind teilweise gegenseitig voneinander abhängig.
Begrenzung der Anschlussleistung: Die garantierte Netzanschlusskapazität pro Anlage soll stark reduziert werden können. Diese Möglichkeit muss regulatorisch geschaffen und mit kostenwahren Anreizen belohnt werden: Wer für dieselbe ins Netz eingespeiste Energie nur die Hälfte der Netzanschlusskapazität in Anspruch nimmt, trägt erheblich zur Netzentlastung bei und soll entsprechend honoriert werden. Im Mantelerlass [1] wurden dazu erstmals die nötigen Grundlagen geschaffen.
Dezentrale, intelligente Lösungen: Damit möglichst viel Solarstrom genutzt werden kann, sollen PV-Anlagen, wo immer sinnvoll, mit Eigenverbrauchsreglern ausgerüstet werden. Diese sollen – anders als heute üblich – aber nicht nur den Eigenverbrauch maximieren, sondern gleichzeitig die Überlastung des Netzanschlusses verhindern. Der Netzbetreiber soll Anreize für ein entsprechendes Verhalten schaffen. Bild 2 zeigt das Blockdiagramm eines entsprechenden Systems.
Netzstabilität mit dezentraler Regelleistung: Netzstabilisierende Lasten, wie direkt am Netz angeschlossene Asynchronmotoren, als auch ohmsche Lasten fallen zunehmend weg. Obwohl sie sich heute technisch einfach realisieren lassen, sind keine Kompensationsmassnahmen bei neuen, flexiblen Verbrauchern und Produzenten vorgesehen. Wenn man gedrosselten PV-Wechselrichtern sowie Batteriespeichern, Ladegeräten und Energiemanagern eine Frequenz-Leistungs-Kennlinie mit Regelreserve vorgeben würde, würde sich die aktive Regelleistung am Netz umgehend vervielfachen. Dafür ist jedoch eine europaweite, koordinierte Anpassung der aktuellen Regelmärkte notwendig.
Anti-Islanding: Wechselrichter von PV-Anlagen führen ständig Anti-Islanding-Tests durch, indem sie dynamisch geringe Mengen an Blindleistung mit dem Netz austauschen. Gelingt es ihnen, so die Netzfrequenz zu beeinflussen, befinden sie sich in einer von ihnen beeinflussbaren Netzinsel. Dann müssen sie sich vom Netz trennen. Dieses Konzept wurde für geringe Wechselrichterleistung an grossen Netzen entwickelt, nicht jedoch für wechselrichterdominierte Netze. Sollen Wechselrichter künftig mehr Systemverantwortung übernehmen, werden sie zunehmend netzstützende und dereinst netzbildende Funktionen übernehmen müssen. Anti-Islanding in der heutigen Form dürfte da keinen Bestand mehr haben.
Netzanschluss-Schutz: Die Notwendigkeit der Netzanschluss-Schutzfunktionen von PV-Anlagen ist unbestritten. Die heutige Ausgestaltung ist jedoch nicht mehr zeitgemäss und ignoriert die Relevanz der Wechselrichter zur Unterstützung der Netzstabilität. Regelung, Fault-Ride-Through und NA-Schutz müssen sorgfältig aufeinander abgestimmt werden. Der Fokus soll dabei auf der korrekten Funktionsweise der PV-Anlagen als Gesamtsystem liegen.
Smart Metering: Der Smart-Meter-Rollout wurde oft als zu teuer und nicht notwendig kritisiert. Die Aussage der vom BFE beauftragten Studie [2], dass dank Smart Meter Kosten gespart werden können, war gerade unter Netzbetreibern umstritten. Im Kontext der Dezentralisierung des Energiesystems können Smart Meter jedoch zu einem wertvollen Kontrollinstrument der Netzbetreiber werden. Mit geeigneten Analysetools können die Netzbetreiber täglich vollautomatisiert prüfen, welche Anlagen sich korrekt verhalten und welche nicht. Es braucht keine Kontrolle der Inbetriebnahme durch den Netzbetreiber, um zu überprüfen, ob die Q(U)-Kennlinie oder die Wirkleistungsbegrenzung korrekt eingestellt sind. Bereits am Tag nach der Inbetriebnahme kann das Smart-Metering-System Alarm schlagen, wenn ein Produzent die Rückspeisevorgaben verletzt.
Klassische Massnahmen im Netz: Die hier vorgestellten Massnahmen stehen nicht in Konkurrenz zu klassischen Massnahmen im Netz, sondern ergänzen diese. Dank Blindleistungsregelung, dynamischem Mittelspannungsmanagement und anderen bewährten Konzepten kann die Aufnahmekapazität der Verteilnetze für Solarstrom bereits heute erhöht werden. Auch die punktuelle Netzanschlussverstärkung und der strategische Netzausbau werden Teil der Netzplanung bleiben. Wenn aber nicht gleichzeitig zur Produktion anderswo ein Bedarf an Solarstrom besteht, kann dieser auch bei ausgebauten Netzen nicht uneingeschränkt eingespeist werden (Bild 3).
Normen und Regeln für den Netzanschluss: Regeln und harmonisierte Normen für Stromnetze waren bisher fest in der Hand der einzelnen Verteilnetzbetreiber, die lokale Anschlussbedingungen festlegten. In der Schweiz sind heute über 150 000 PV-Anlagen ans Netz angeschlossen, welche diesen Bedingungen weitestgehend entsprechen (vgl. Retrofit-Programm der ElCom). Ein kleiner, aber wachsender Teil der Anlagen ist mit aussereuropäisch gebauten Wechselrichtern ausgerüstet, die internationalen Anforderungen entsprechen und in der Schweiz eingesetzt werden dürfen, sofern die Anforderungen deckungsgleich mit den lokalen sind. Mit der zunehmenden Globalisierung des Wechselrichtergeschäfts ist es eher unwahrscheinlich, dass ein international tätiger Wechselrichterhersteller auf die individuellen Anforderungen eines Schweizer Netzbetreibers eingeht. Die Photovoltaik- und Netzbranchen tun gut daran, im Normenwesen zusammenzuarbeiten und, wann immer möglich, anerkannte und bewährte Konzepte zu harmonisieren und gemeinsam einzuführen.
Was bringt der Mantelerlass?
Im sogenannten «Mantelerlass» (Bundesgesetz über eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien, verabschiedet am 29. September 2023) werden insbesondere im Energie- und Stromversorgungsgesetz (EnG und StromVG) diverse Weichen für eine zukunftsgerichtete Netzintegration von Solarstrom gestellt. Einerseits werden verbindliche Ziele für Strom aus Erneuerbaren Energien gesetzt (45 GWh Strom aus erneuerbaren Energien ohne Wasserkraft bis 2050), andererseits wird die Abregelung von PV-Anlagen erstmals erlaubt (StromVG Art. 17c, Nutzung von Flexibilität). Zudem werden Rahmenbedingungen für die Bewirtschaftung von Flexibilitäten gesetzt. Die Netzentgelte für Strom, der in Speicher geladen und später wieder ins Netz abgegeben wird, können rückerstattet werden (StromVG, Art. 14a). Mit den neu ermöglichten «Lokalen Elektrizitätsgemeinschaften» (LEG, StromVG Art. 17d-e) soll für lokal produzierten Strom, der die Region nicht verlässt, bis zu 60% weniger an das Netz bezahlt werden müssen. Auch dies kann ein wertvoller Anreiz sein, die Rückspeisung ins Übertragungsnetz zu begrenzen.
Fazit
Der Schlüssel zur Integration von mehr Solarstrom ins Netz wird heute oft in Massnahmen am Netz, beispielsweise dem Netzausbau gesehen. Mit dem Netzausbau kann aber das Gleichgewicht von Solarstromproduktion und Verbrauch in der Schweiz nur bedingt beeinflusst werden. Die in diesem Artikel diskutierten Lösungen ergänzen den Netzausbau und können die Netzintegration von PV-Anlagen in verschiedener Ausprägung unterstützen. Einige davon sind einfach umsetzbar und werden teilweise heute schon angewandt, andere sind komplex und entsprechend schwer realisierbar. Oft sind mehrere Anspruchsgruppen involviert.
Die wichtigste Schlussfolgerung ist, dass PV-Anlagen ihre Nennleistung nicht ungeregelt ans Verteilnetz abgeben sollen und die Verteilnetze entsprechend nicht auf die Nennleistung der PV-Anlagen ausgebaut werden müssen. Der Trend zum Eigenverbrauch geht dabei in die richtige Richtung, muss jedoch noch mit zuverlässigen Massnahmen zur Netzentlastung verknüpft werden. Die künftigen neuen Regelungen im StromVG, insbesondere der neue Art. 17c, schaffen dafür die nötige Grundlage. Damit kann Zeit und Geld bei der raschen Umsetzung der Energiestrategie gespart werden.
Referenzen
[1] www.fedlex.admin.ch/eli/fga/2023/2301/de
[2] www.ecoplan.ch/download/smmu_sb_de.pdf
Links
1) Dieses Diskussionspapier wurde auf der Grundlage von Ergebnissen aus Forschungs- und Pilotprojekten im In- und Ausland durch das EDGE-Konsortium erarbeitet. EDGE wird durch das SWEET-Programm des Bundesamts für Energie gefördert.
Kommentare
Rolf Nussbaumer,
Der grosse Denkfehler besteht meiner Ansicht nach in der Annahme, dass sämlicher PV-Strom über alle Netzhierarchien hinweg vom Erzeuger zum Verbraucher transportiert werden muss. Unter dieser Annahme werden dann riesige Netzkapazitäten errechnet, die in Zukunft notwendig sind. Da aber sowohl PV-Erzeuger als auch Verbraucher dezentral verteilt sind, werden die Energieströme bereits auf lokaler Ebene ausgeglichen. Nur noch Energieüberschüsse resp. -defizite müssen über die übergeordneten Netze ausgeglichen werden.
Christof Bucher,
Danke für diesen Kommentar, @Rolf Nussbaumer. Als Autor dieses Artikels gehe ich mit Ihnen einig: Die Netzkapazität sollte nur für die Energiemengen ausgebaut werden, die sinnvollerweise zwischen den Netzebenen verschoben werden. Heute wird, u. a. mit Verweis auf die gesetzlichen Grundlagen, jedoch oft auf Spitzenleistungen dimensioniert. Diese gilt es unserer Meinung nach dezentral zu bewirtschaften. Das ist billiger, schneller, ökologischer. Der Mantelerlass hat dafür auch die gesetzlichen Grundlagen gelegt. Ob diese auch wirklich so umgesetzt werden, wird sich u. a. in den Verordnungen zeigen.
Oliver Vulter,
Das Smart Metering bietet sicher einigen Komfort. Bei uns ersetzen mittlerweile Smart Meter die Spannungsmessung vor Ort an den Strang-Enden als Index der Spannungsbeeinflussung durch PV-Anlagen oder Ladestationen. Es ist aber keinesfalls möglich, wirkliche Qualitätsmessungen zu machen. Das gibt die Bandbreite der Datenübertragung nicht her. Die Datenströme allein nur der Lastgänge ist gerade so zu bewältigen. Hier wird die Smart-Meter-Welt vollends überschätzt. Sinnvoller wären Leistungstarife als Anreiz. Wer das vorgelagerte Netz unnötig belastet, zahlt dies mit einem entsprechenden Tarif. Dann ist der Anreiz gegeben, das Lastmanagement lokal zu optimieren.