Fachartikel Infrastruktur

Wenn Strom ohne Widerstand fliesst

IEA-Roadmap zu supraleitenden Komponenten für das Stromnetz

22.02.2022

In den 1980er-Jahren wurden Hoch­tempe­ratur-Supra­leiter entdeckt. Seither diskutieren Fachleute, wie sich diese in der Strom­ver­sorgung kommerziell nutzen lassen. Nun zeichnen sich konkrete Anwen­dungs­felder ab, in denen wider­stands­lose Strom­kabel und Netz­kompo­nenten ihre Vorzüge aus­spielen können.

Auf dem Weg vom Kraftwerk zum Konsumenten legt der Strom oft Hunderte von Kilometern zurück. «Durch Übertra­gungs­verluste gehen auf dem Weg bis zu zehn Prozent der transportierten Strom­menge ‹verloren›, werden also in thermische Energie umgesetzt, was sich als Erwärmung der Stromleitungen bemerkbar macht», sagt Walter Sattinger, Netzexperte bei der nationalen Netzgesellschaft Swissgrid. Um die Verluste zu minimieren, wird Strom wenn immer möglich bei hohen Spannungen transportiert. So kann die gleiche Energiemenge bei geringerer Stromstärke übertragen werden. Das senkt die Verluste, denn diese wachsen quadratisch mit der Stromstärke.

Der «Trick» zahlt sich aus: In der Schweiz geht nur knapp ein Fünftel der Übertra­gungs­verluste auf das Hoch- und Höchst­span­nungs­netz (220 kV, 380 kV). Absolut betrachtet fallen aber auch diese Verluste ins Gewicht: Auf einer 100 km langen 380-kV-Leitung beispielsweise kann die Verlustleistung bei hoher Belastung gegen 10 MW betragen. Das entspricht der Leistung von zwei grossen Windkraftwerken.

Supraleitung lässt Verluste verschwinden

Um Übertra­gungs­verluste zu vermindern, wird seit Längerem der Einsatz von supraleitenden Stromkabeln diskutiert und in Testeinrichtungen erprobt. Supraleiter haben die Eigenschaft, dass sie Strom ohne merkliche elektrische Verluste leiten. Dazu müssen sie stark abgekühlt werden. Für kommerzielle Anwendungen steht die Hochtemperatur-Supraleitung (HTS) im Vordergrund, die sich in den letzten 10, 15 Jahren stark fortentwickelt hat. Sie beruht auf keramischen Materialien, die supraleitende Eigenschaften bereits bei relativ hohen Temperaturen von 77 K (–196°C) annehmen. 77 K ist die Siedetemperatur von Stickstoff bei Normaldruck. Da sich Stickstoff einfach verflüssigen lässt und überdies ungefährlich ist, stellt dieser ein ideales Material zur Kühlung von Supraleitern dar.

Leistungsfähige Stromleitungen transportieren heute bei den in Europa eingesetzten Spannungen bis zu 3 GW. Mit Supraleitern könnte es künftig das Zehnfache sein. Bei solch grossen Strommengen spart das Eliminieren von Übertra­gungs­verlusten mehr Strom als für die Kühlung der Supra­leiter aufgewendet werden muss. «Anwendungen mit gut wärmeisolierten Supraleitern belegen, dass trotz der erforderlichen Kühlung Effizienzgewinne möglich sind», sagt Dr. Bertrand Dutoit, Leiter der Gruppe für Angewandte Supraleitung an der ETH Lausanne (EPFL). Als Beispiel verweist der Forscher auf die 1 km lange Mittelspannungsleitung, die von 2014 bis 2021 in der deutschen Stadt Essen vom Energieunternehmen Westenergie betrieben wurde. Dank ihr konnte der Strom bei niedrigerer Spannung (10 statt 110 kV) ins Stadtzentrum gebracht werden. Mit dem Kabel des Projekts AmpaCity wurden jährlich 39 GWh Strom transportiert. Die Kühlung benötigte im gleichen Zeitraum 45 MWh Energie.

Das innovative Projekt fand in der Öffentlichkeit grosse Beachtung. Während den sieben Jahren erfolgte der Stromtransport fast ohne Unterbruch und annähernd störungsfrei; ein wirtschaftlicher Betrieb wurde während des Praxistests allerdings nicht erzielt.

Anwendungen mit hohem Technologie-Reifegrad

Ein Expertengremium, das unter dem Dach der Internationalen Energieagentur arbeitet und an dem die Schweiz beteiligt ist (Kasten rechts), hat nun den Entwicklungsstand von HTS-Anwendungen für das Stromnetz abgeschätzt und in einer «Application Readiness Map» (ARM) zusammen­gestellt. Das Dokument gibt einen Überblick über den Technologie-Reifegrad verschiedener HTS-Anwendungen. Die beteiligten Expertinnen und Experten aus Industrie und Forschung benennen drei Gebiete, in denen die HTS-Technologie bereits einen hohen Reifegrad aufweist: Dazu gehören leistungsfähige Mittel­spannungs-Kabel zur Versorgung von Stadtzentren, so wie sie in Essen im Einsatz waren, aber auch in Südkorea, China und Japan getestet werden. «Supraleiter können bis zu fünfmal mehr Strom transpor­tieren als herkömm­liche Kabel gleicher Grösse, das macht sie zu einer vergleichs­weise günstigen Lösung zur Versorgung urbaner Gebiete mit ihrem ständig wachsenden Strombedarf», sagt Prof. Carmine Senatore (Universität Genf), der die Schweiz im IEA-Experten­gremium vertritt.

Ebenfalls bereit für die kommer­zielle Anwendung sind Geräte zur Begrenzung von Kurzschluss-Strömen im Mittel- und Hochspan­nungsnetz. Diese Fehlerstrom-Begrenzer bremsen hohe Ströme, wie sie für Kurzschlüsse typisch sind, ohne den Stromfluss aber zu unterbrechen. Wird ein supraleitender Fehlerstrom-Begrenzer von einem hohen Strom durchflossen, verliert er bei Überschreiten einer definierten maximalen Strommenge seine Widerstandslosigkeit. Erste Schutzgeräte dieser Art für Hochspannung sind in Thailand und seit Ende 2019 in der Nähe von Moskau im kommerziellen Einsatz. Schon verbreiteter sind die Geräte auf Mittelspannungsebene. Weltweit sind über 20 Anwendungen bekannt. Fehlerstrom-Begrenzer werden auch zum Retrofit älterer Stromnetze eingesetzt, indem sie diese vor Überlastung schützen.

Anbindung von Offshore-Windkraftwerken

Gemäss Einschätzung der Experten gibt es drei Anwendungs­bereiche für supraleitende Kabel, die zurzeit einen mittleren Technologie-Reifegrad aufweisen: Dazu gehören Hoch­spannungs­leitungen für den Transport von Wechselstrom, welche die heutigen Überlandleitungen ersetzen könnten, aber auch neuartige Hoch­spannungs­leitungen für den Transport von Gleichstrom über weite Strecken. Unterirdisch verlegte Testinstallationen von einigen Hundert Metern entstanden im letzten Jahrzehnt in China, Korea und Japan. Ein 2,5 km langes 20-kV-Kabel sollte zudem Ende 2021 in St. ​Petersburg fertiggestellt werden. Der Bau langer supraleitender Leitungen ist technisch anspruchsvoll. Im flachen Gelände müssen sie alle 10 bis 25 km mit einer Kühlstation ausgerüstet werden.

Jochen Kreusel ist nicht Partner des IEA-Programms, hat aber als Strom­netz­experte von Hitachi Energy – einem Joint Venture der Konzerne Hitachi und ABB, das im Wesentlichen aus der früheren ABB-Strom­netzsparte besteht – grosse Erfahrung bei der Ausrüstung von Stromnetzen. «Die Faszination der Supraleitung ist nicht neu», sagt Kreusel, «heute aber sind wir in einer Situation, wo diese Technologie tatsächlich zum Durchbruch kommen könnte.» Er verweist auf die Ausbaupläne für Windparks in der Nordsee bis zu einer Gesamtleistung von 450 GW. «So grosse Strommengen ans Land zu bringen, stellt uns vor neue Herausforderungen. Zwar ist dies auch mit heutiger Kabeltechnologie möglich, wenn sie genug grosse Kabel einsetzt, aber leistungs­starke Supra­leitungs­kabel hätten hier ein ideales Einsatzgebiet», sagt der Industrieexperte.

Massives Veränderungspotenzial

Die Experten haben weitere Gebiete ausgemacht, in denen die HTS-Technologie mittel- oder langfristig zum Einsatz kommen könnte: so die Verbindung mehrerer Mittel­spannungs­netze zur Erhöhung der Versorgungs­sicherheit, der Einsatz von Mittel­spannungs­kabeln zum Retrofit bestehender Erdkabel, ebenso beim Bau neuartiger Transformatoren.

Bis supraleitende Kabel und Komponenten für den breiten, kommerziellen Einsatz in Stromnetzen bereitstehen, sind noch technische, ökonomische und regulatorische Hürden zu nehmen. Trotzdem trifft die Roadmap einen Nerv der Zeit, davon ist Jochen Kreusel überzeugt: «Die Supraleitung ist unterwegs in Richtung gross­technischer Anwendung. Als Industrie­unternehmen, das Schalt­anlagen und Trans­formatoren herstellt, beobachten wir diese Entwicklung sorgfältig, denn wenn sich die Supra­leitungs­technologie durchsetzt, hat sie ein massives Veränderungs­potenzial für die ganze elektrische Energieversorgung.»

Das Schweizer Engagement

Hinter dem Kürzel IEA HTS TCP verbirgt sich eine international zusammengesetzte Expertengruppe, die unter dem Dach der Internationalen Energieagentur (IEA) arbeitet. Die IEA unterhält rund 40 «Technology Collaboration Programs» (TCP), u. a. das Programm «High Temperature Super­conductivity» (HTS). In der Experten­gruppe sind neben der Schweiz acht weitere Staaten vertreten, darunter die USA, Japan und Deutschland. Die Gruppe hat sich nach eigener Darstellung der Aufgabe verschrieben, «den Status und die Aussichten für die künftige Nutzung von HTS im Elektrizitäts­sektor der Industrie- und Entwicklungs­länder zu bewerten und diese Ergebnisse an Entscheidungs­träger weiterzugeben.» Schweizer Vertreter im IEA HTS TCP sind Prof. Carmine Senatore (Universität Genf) und Roland Brüniger (R. Brüniger AG – Engineering & Consulting).

Weitere Infos

Forschung

Das BFE unterstützt die Erforschung von Supraleitern. In einem aktuellen Projekt haben Wissenschaftler der EPFL ein numerisches Modell zur Beschreibung von REBCO-Bändern entwickelt, wie sie in supraleitenden Stromkabeln benutzt werden. REBCO-Bänder bestehen in der Regel aus Seltenen-Erden-Metallen (wie Yttrium und Gadolinium), Barium und Kupferoxid (engl. «Rare Earth – Barium – Copper Oxide», REBCO). Das EPFL-Modell beschreibt, wie genau der elektrische Widerstand wächst, wenn ein Supraleiter erwärmt wird und dabei seine supraleitende Eigenschaft verliert.

Schlussbericht des Projekts «Quench behavior of High-Temperature Superconductor tapes for power applications»

Literatur

Weitere Fachbeiträge über Forschungs-, Pilot-, Demon­strations- und Leucht­turm­projekte im Bereich Elektrizitäts­technologien finden Sie unter www.bfe.admin.ch/ec-strom.

Link

Application Readiness Map: ieahts.org/publications

Autor
Dr. Benedikt Vogel

ist Wissen­schafts­journalist.

  • Dr. Vogel Kommunikation
    DE-10437 Berlin

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