Wenn das Silodenken an Grenzen stösst
Netzkonvergenz
Die Verbindung von Strom- und Gasnetz schafft ein hochkomplexes Energiesystem. Daten aus diesem System werden zusehends zu automatischen Reaktionen führen und Entscheidungen werden immer seltener durch menschliche Benutzer gefällt. Diese Fusion von Informationstechnologie und Elektrotechnik ist die eigentliche Netzkonvergenz, die uns bevorsteht.
Der Name des Departements für Informationstechnologie und Elektrotechnik an der ETH Zürich erinnert heute noch daran, dass Informatik und Elektrotechnik einst als ein Fachgebiet verstanden wurden. Das eine geht nicht ohne das andere. In der betrieblichen Praxis ist dem aber schon lange nicht mehr so: Elektronik, sprich die physischen Geräte, durch die Strom fliesst und in elektrischen Schaltungen zu vorhersehbaren Reaktionen führt, wird heute separat zur Software, der Logik, nach der diese Schaltkreise programmiert werden, entwickelt und angesehen.
Ein immer höherer Standardisierungsgrad in der Schnittstelle zwischen den beiden Bereichen garantiert die Kompatibilität, erhöht aber noch mehr die Separation der beiden Bereiche. Solange die Software mittels Standardübersetzungen «nah» an die Maschine gebracht werden kann, muss sich der Softwareentwickler kaum damit auseinandersetzen, wie die Hardware konkret aufgebaut ist. Genauso wenig interessiert es den Elektroingenieur, wie effizient letztlich die Software für sein Bauteil geschrieben ist.
Die Lücke zwischen physischer und digitaler Welt schrumpft
Die Separation zwischen Informationstechnologie und Elektrotechnik tritt in der Energiebranche besonders zu Tage. Die Stromproduktion und -übertragung sind einzig physische Prozesse, und abgesehen von Regelenergie wird produziert und übertragen, wenn es möglich ist: Halt dann, wenn das Wasser im Flusskraftwerk fliesst, wenn die Sonne scheint, der Wind weht und die Neutronen Uran spalten. Gleichzeitig werden die physischen Vorgänge mit Sensoren und Zählern überwacht und in hoch spezifischen Systemen ausgewertet, dies aber hauptsächlich, um Fragen finanzieller Natur zu beantworten: Wie viel kann dem Endkunden abgerechnet werden? Sind meine Gestehungskosten unter dem Marktpreis? Müssen CO2-Zertifikate gekauft werden?
Nur äusserst selten (und dann nur lokal, zum Beispiel bei der Regulierung eines Wasserkreislaufs) haben die gesammelten Daten, sprich die Welt der Informationstechnologie, einen Einfluss auf die physische Welt der Elektrotechnik und Thermodynamik. Feedbackloops sind praktisch nicht vorhanden. Daten sind, wenn sie nicht finanziellen Zwecken dienen, bestenfalls als Entscheidungsgrundlage für menschliche Akteure zu verstehen. Ausserdem sind die Informationssysteme aufgrund eines hohen Spezialisierungsgrads nicht nur von der physischen Welt separiert, sondern auch voneinander. Diese Tatsache trifft nicht nur auf das Stromnetz zu, sondern auf alle Versorgungsnetze. Gas-, Wasser- und Wärmenetze werden auch nur isoliert voneinander betrieben und der technische Betrieb wird kaum von Software und Informationstechnologie beeinflusst.
Diese Situation wird sich mittelfristig ändern. Marktöffnung, Dezentralisierung der Produktionskapazitäten, die Zunahme von schwer planbaren neuen Erneuerbaren und das Aufkommen der Elektromobilität sind allgemeine Treiber von Systemen, in denen Daten Einfluss auf die Art der Steuerung von physischen Systemen haben und somit zu Feedback-Loops führen. Die Welt der Informationstechnologie und die der Elektrotechnik kommen so langsam wieder zusammen. Aber einer der stärksten Treiber dieser Zusammenführung ist noch wenig bekannt und diskutiert: die Netzkonvergenz zwischen Strom und Gas.
Die Schnittstelle zwischen den Netzen
Eigentlich sind Strom- und Gasnetz schon seit langer Zeit über Gaskraftwerke miteinander verbunden. Dieser Zusammenhang war aber bisher ziemlich einfach zu durchschauen und ohne grosse, miteinander verbundene Informationssysteme zu bewältigen. Da Gaskraftwerke relativ hoch in der Merit Order sind, haben Gaspreise nur einen geringen Einfluss auf die Strompreise.[2] Die Entscheidung, ein Gaskraftwerk zu betreiben, hängt eigentlich nur von der momentanen Preisdifferenz zwischen Strom und Gas ab und stellt somit kein sonderlich komplexes System dar.
Das Aufkommen von Power-to-Gas-Technologien allerdings verkompliziert die Situation schwer. Als Power-to-Gas wird eine Reihe von Verfahren bezeichnet, die jeweils mit der Aufteilung von Wasser mittels Elektrolyse in Wasserstoff und Sauerstoff beginnen. Die elektrische Energie wird somit in chemische Energie umgewandelt (in der Form von Wasserstoff). Der Wasserstoff kann dauraufhin gespeichert (genannt Power-to-Hydrogen) und später mittels Brennstoffzelle wieder zu Strom umgewandelt werden – oder unter Zunahme von Kohlendioxid zu Methan weiterverarbeitet werden (genannt Power-to-Methane).
Die Grafik zeigt, wie sich die Technologie direkt in die Schnittstelle zwischen Strom- und Gasnetz integriert und eine ganze Reihe weiterer Technologien in die Verbindung zwischen den beiden Netzen miteinbezieht. Mit Wasserstoff und Kohlendioxid kommen zwei weitere Stoffflüsse hinzu. Das CO2 kann aus Holz- und Blockheizkraftwerken stammen, wodurch auch die von diesen produzierte Wärme im Gesamtsystem zu betrachten ist. Power-to-Gas kann noch nicht rentabel betrieben werden, aber aufgrund der Zunahme unplanbarer Generationen, höherer Preise für CO2-Zertifikate und des Mangels an alternativen mittelfristigen Speichern, ist davon auszugehen, dass die Technologie in Zukunft einen grossen Beitrag zur Versorgung leisten wird.[3]
Die eigentliche Netzkonvergenz
Wie ändert sich die Klimabilanz eines Gaskraftwerks, wenn ein signifikanter Anteil des Gases aus der Methanisierung stammt? Wie effizient ist das Kraftwerk angesichts der langen Zulieferkette? Lohnt es sich im Moment, mit dem überschüssigen Strom eher eine Batterie zu laden oder soll damit doch besser Wasserstoff für eine mittelfristige Speicherung produziert werden? Ist es ökologischer, ein Haus mit einer Wärmepumpe oder Wärme aus dem lokalen Fernwärmenetz zu heizen?
Die richtigen Antworten auf diese Fragen sind nicht mehr statisch. So ist die ökologische Auswirkung eines Kubikmeter Methans abhängig vom momentanen Lieferanten, und der finanziell beste Umgang mit einer überschüssigen Kilowattstunde ändert sich mehrfach während eines Tages.
Angesichts eines so komplexen Systems ist es sinnvoll, dass ein Teil dieser Entscheidungen nicht mehr von Menschen gefällt wird. Das System kann nur durch eine Sensorik effizient geführt werden, die weit über die momentanen Systeme hinausgeht. Wo Signale nicht nur Entscheidungsgrundlage, sondern «die Wahrheit» in sich darstellen und somit automatische Feedback-Loops auslösen. Das Informationssystem wird zum essenziellen Teil des Versorgungsnetzes: Informatik und Elektrotechnik sind wieder unabdingbar miteinander verbunden.
Strom-, Gas- und Wärmenetze sind verbunden und voneinander abhängig, gesteuert von übergeordnet miteinander kommunizierenden Informationssystemen, die Produktions-, Verbrauchs- und Systemdaten miteinander kombinieren, um den optimalen Betrieb zu gewährleisten.
Dieses Verschmelzen der Systemgrenzen zwischen Disziplinen (Elektrotechnik und Informationstechnologie) und Energieträgern ist die eigentliche Netzkonvergenz. Mit zunehmender Nutzung von verbindenden Technologien wird es sinnlos, vom «Strommarkt» oder «Gasmarkt» zu sprechen. Die Bezeichnungen werden zunehmend durch den «Energiemarkt» ersetzt. Die Konsequenz ist, dass schon heute Energie nur interdisziplinär gedacht werden kann.
Dies gilt sowohl für technische Lösungen als auch für politische Entscheidungen im Energiebereich. Physische Realität, Elektrotechnik und Informationstechnologie arbeiten Hand in Hand und sind schwer voneinander zu trennen. Vielleicht werden auch auf akademischer Ebene irgendwann Elektrotechnik und Informationstechnologie mit Energiewirtschaft und Thermodynamik als eine Disziplin «Energie» gelehrt. Davon sind wir noch weit entfernt: Es ist aber klar, dass das Silodenken in der Branche bald ausgestorben sein wird.
Referenzen
[1] Dr. Martin Schmid, «Die künftige Bedeutung von Erdgas für die Schweiz», Präsentation anlässlich der Erdgastagung 2016 in St. Gallen.
[2] Angela Pietroni, «Energy Brainpool».
[3] «Praxis und Potenzial von Power-to-Gas», Delphi-Kurzstudie, Nymoen Strategieberatung GmbH.
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