Fachartikel Energiemarkt

Welches Modell sichert die Versorgung?

Marktmodell der Zukunft

27.03.2018

Wie soll der Energiemarkt in der Schweiz in Zukunft aufgestellt werden? Neben Aspekten der Nachhaltigkeit muss ein solches Modell auch wirtschaftliche Fragestellungen und die Versorgungssicherheit berücksichtigen. Dies bedingt aber grosse Investitionen in die Infrastruktur. Ewig Zeit lassen sollte sich die Schweiz damit aber nicht mehr.

Nach der Annahme der neuen Energiestrategie des Bundes durch das Volk steht jetzt die Überarbeitung des gesetzlichen und regulatorischen Rahmens an. Darin müssen, nebst der Umweltfreundlichkeit, vor allem die Versorgungssicherheit und die Wirtschaftlichkeit berücksichtigt werden.

Dabei ist es äusserst wichtig, einen vertieften und realistischen Blick nicht nur auf die Schweiz, sondern auch auf deren Nachbarländer zu werfen. Es ist heute schon Tatsache, dass die Schweiz vor allem im Winter stark vom Ausland abhängig ist. Durch die laufendenden Veränderungen der Versorgungssituation bei ihren Nachbarn (Energiewende, Atomausstieg, Reduktion fossiler Kraftwerke, Marktintegration, Lastmanagement, neue Marktmodelle usw.) ist das aktuelle Umfeld äusserst dynamisch und darüber hinaus in zunehmendem Masse von schwer einschätzbaren, wechselanfälligen politischen Strömungen beeinflusst.

Ausgangslage

In Westeuropa ist die Versorgung mit elektrischer Energie heutzutage auf sehr hohem Niveau gewährleistet. Durch die stark wachsende Versorgung mit wetterabhängigen erneuerbaren Energien aus Wind und Sonnenenergie sehen sich die Netzbetreiber jedoch mit zunehmenden Herausforderungen konfrontiert. Um Netzüberlastungen zu vermeiden, müssen sie vermehrt eingreifen, indem sie kurzfristig Anpassungen des Kraftwerkseinsatzes verlangen. Diese Massnahmen betreffen sowohl konventionelle Kraftwerke durch das sogenannte «Redispatch» als auch erneuerbare Energien durch Reduktion der Einspeisung (Ressourcenmanagement). In Deutschland sind parallel zum Zubau von erneuerbaren Energien die Kosten für das Management der Netzengpässe über die Jahre signifikant gestiegen.

Zur Lösung dieser Problematik sind in Deutschland vier grosse Hochspannungsleitungen geplant, welche helfen sollen, Überschussstrom aus dem wind­reichen Norden in den unterversorgten Süden zu transportieren.

Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass es kaum Fortschritte bei der Umsetzung gibt. Ob diese «Stromautobahnen» in absehbarer Zeit realisiert werden, ist ziemlich zweifelhaft. Die Versorgungslage im Süden von Deutschland wird sich weiter verschärfen, sobald 2022 alle restlichen Kernkraftwerke stillgelegt worden sind. Dazu kommt noch, dass sowohl Italien als auch Deutschland ihre Kohlekraftwerke schrittweise stilllegen könnten, was ökologisch sehr zu begrüssen wäre. Ein Teil dieser Kapazitäten kann durch den Einsatz der wesentlich saubereren bereits bestehenden Gaskraftwerke abgedeckt werden, welche aus dem Markt gedrängt wurden.

Auf der französischen Seite gab es in den letzten Jahren im Winter immer wieder kritische Versorgungssituationen. Mit einem Durchschnittsalter von über 30  Jahren hat der französische Nuklearpark (75 –80 % der Elektrizitätsproduktion des Landes) schon die Hälfte seiner Lebensdauer überschritten. Aufgrund seines hohen Standardisierungsgrades ist dieser Kraftwerkspark auf generische Fehler anfällig, was zu grösseren Ausfällen führen kann.

Mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien werden zwar die installierten Kapazitäten (kW) weiter zunehmen, was aber knapp werden wird, ist die verlässliche Kapazität der flexiblen Kraftwerke oder der Speicher. Diese Anlagen brauchen die Netzbetreiber, um die Residuallast abzudecken, damit das Gleichgewicht zwischen Verbrauch und Produktion jederzeit gewährleistet ist und das Netz stabil bleibt (Bild  unten).

Leider kann mit den heutigen Marktmodellen nur in Kraftwerke investiert werden, welche durch langfristige Lieferverträge und Subventionen gefördert werden, und das sind vor allem Wind- und Photovoltaik-Anlagen, welche von Umweltbedingungen abhängig sind und nicht nach Bedarf Energie liefern.

Wieso ist das so? Der Hauptgrund ist, dass der Markt im Wesentlichen nur für die produzierte Energie zahlt. Es handelt sich also um einen sogenannten «Energy only Market», der in einer Überkapazitätssituation konzipiert wurde. Das Problem ist aber, dass ein nachhaltig funktionierender Elektrizitätsmarkt zwei Hauptprodukte benötigt: Energie sowie Abrufbare Leistung/Kapazität.

Das Spezielle am Elektrizitätsmarkt ist, dass die zur Verfügung stehende Leistung jederzeit der vom Kunden abgerufenen Leistung entsprechen muss. Im jetzigen Marktmodell wird zwar die produzierte Energie honoriert, es wird aber nichts – oder fast nichts – für die Bereitstellung der abrufbaren Leistung bezahlt.

In der Theorie heisst dies, dass in Zeiten der Energieknappheit dieser «Energy only Market»-Preis so weit steigt, dass auch Geld für die Vergütung der Kapitalkosten übrig bleibt. Das ist Wunschdenken, denn der Markt funktioniert auf Basis von Deckungsbeiträgen: Energie wird heutzutage zu Preisen angeboten, die zwar einen Deckungsbeitrag leisten, jedoch ganz selten die vollen Produktionskosten (Kapital- und Betriebskosten) decken. Diese Situation wird zusätzlich durch die Tatsache verschärft, dass die Einspeisung der neuen erneuerbaren Energien zu einer Reduktion der Nachfrage für konventionelle Kraftwerke führt und somit zu einer Preissenkung an der Börse (Bild  unten).

Das Ergebnis aus diesem «Energy only Market» ist, dass wenn zusätzliche abrufbare Kapazitäten erforderlich sind, egal ob von Kraftwerken oder Speichern, kein Investor bereit sein wird, das Risiko eines Neubaus einzugehen. Nur in der Hoffnung, dass zeitweise die Energiepreise so stark steigen werden, damit man die Kapitalkosten decken kann, wird kein rational denkender Mensch investieren.

Wie könnte ein künftiges Marktmodell aussehen?

Egal, welches Modell gewählt wird, es muss gewährleisten, dass eine Investition unter normalen Bedingungen auch rentiert. Die naheliegende Lösung ist, dass Investitionen in verlässlich abrufbare Anlagen honoriert werden. Das heisst, es muss für die Bereitstellung von abrufbarer Kapazität bezahlt werden. Geschieht das nicht, wird auch nicht investiert.

Das heutige Marktmodell muss so angepasst werden, dass beide Produkte, Energie und abrufbare Leistung, bezahlt werden. Es muss also nebst dem Energiemarkt ein Kapazitätsmarkt entstehen. Das ist allerdings nicht so einfach, und die Konsequenzen der Einführung eines Kapazitätsmechanismus sind weitreichend. Es gibt grundsätzlich zwei Philosophien: einen marktliberalen Ansatz und einen zentral koordinierten Ansatz.

Beim marktliberalen Ansatz wird ein Kapazitätsmarkt kreiert, in dem Kapazitätszertifikate ausgetauscht werden. Die Besitzer von Kraftwerken oder Speichern verkaufen Kapazitätszertifikate an die Stromlieferanten, die zum Nachweis von genügend abrufbarer Kapazität verpflichtet werden. In einem solchen Kapazitätsmarkt wird es schwierig sein, ein Umfeld zu schaffen, in dem es sich lohnt, eine Investition zu tätigen, die in 10 bis 50  Jahren amortisiert wird. Um solche Investitionen auszulösen, ist es zwingend nötig, dass während der gesamten Amortisationszeit definierte und garantierte Kapazitätszahlungen zur Deckung der Fixkosten (im Wesentlichen die Kapitalkosten) erfolgen werden.

Der zentral koordinierte Ansatz beruht auf der Ausschreibung von langfristigen Kapazitäten, typischerweise durch den Übertragungsnetzbetreiber oder den Regulator. Die Ausschreibung von sogenannten Reservekraftwerken, welche sowohl in Deutschland als auch der Schweiz angedacht ist, stellt eigentlich nur den ersten Schritt in diese Richtung dar. Das Problem beim zentral koordinierten Ansatz ist jedoch, dass die ausgeschriebenen Kraftwerke nicht im Energiemarkt operieren können, mit der Konsequenz, dass der Energiemarkt immer kleiner wird.

Wirtschaftsliberale Menschen werden einwenden, dass Ausschreibungen von Kraftwerkskapazitäten zur Planwirtschaft gehören. Das stimmt zwar, doch ein absolut offener Markt funktioniert in der Elektrizitätswirtschaft nicht. Alle Bemühungen, reine «Merchant Plants» zu realisieren, sind bis jetzt gescheitert und Investoren haben diese Lektion teuer bezahlt.

Aufgrund der Komplexität und der zahlreichen zusammenhängenden Konsequenzen haben die europäischen Länder bis jetzt keine umfassende Massnahme zur Sicherstellung der Investitionen in flexible Kraftwerke oder Speicher getroffen und beschränken ihre Handlungen auf temporäre finanzielle Unterstützung und Symptombekämpfung. Einzig Frankreich und Grossbritannien haben vor Kurzem einen umfangreichen und relativ komplexen Kapazitätsmarkt eingeführt, dessen Wirkung noch abzuwarten ist.

Die Kernfrage zum künftigen Marktmodel ist eigentlich folgende: Reicht ein zusätzliches Pflaster, oder müssen grundlegende Massnahmen getroffen werden? Mit der Vervielfachung der regulatorischen Pflaster der letzten Jahre ist der Elektrizitätsmarkt unübersichtlicher und risikoreicher geworden. Die Zeit ist jetzt gekommen, das gesamte Bild tabufrei zu betrachten und grundlegende Massnahmen zur nachhaltigen Gewährleistung der Versorgungssicherheit zu treffen.

Was heisst das für die Schweiz?

Die künftigen Entwicklungen sind klar: Der Verbrauch wird zumindest auf dem gleichen Niveau wie heute bleiben, die Volatilität der Produktion steigt, die Kapazität der verlässlich einsetzbaren Kraftwerke sinkt, und die Netze werden zunehmend am Limit betrieben. Wenn die Versorgungssicherheit auf dem gleichen Niveau wie heute bleiben soll, dann werden massive Investitionen in die Energieinfrastrukturen notwendig. Die Schweiz hat den grossen Vorteil, dass sie über viele Wasserkraftwerke mit Speicherseen verfügt. Das gibt ihr Zeit, um ein geeignetes Marktmodell zu konzipieren und einzuführen; jedoch nicht ewig, weil Deutschland in den Wintermonaten ein grosses Leistungsdefizit haben wird. Aufgrund der beschlossenen Stilllegung der Kernkraftwerke und der altersbedingten Stilllegung von thermischen Kraftwerken werden künftig in Süddeutschland in Spitzenzeiten im Winter über 15 000 MW fehlen (das ist vergleichbar mit der in der Schweiz installierten Kraftwerkskapazität). Im Norden sieht es besser aus, doch Deutschland ist keine Kupferplatte, wie es in gewissen Studien dargestellt wird. Das heisst, dass Deutschland im Winter erst die Versorgung in Deutschland sicherstellen wird und erst in zweiter Linie die Schweiz bei Bedarf versorgen könnte.

Paradoxerweise könnte der traditionelle Importeur Italien dank seines sehr grossen Gaskraftwerkparks vorübergehend Abhilfe schaffen. Doch Italien hat auch verkündet, alle Kohlekraftwerke stilllegen zu wollen. Wie schon erwähnt, kann die Schweiz in kritischen Situationen im Winter auch nicht auf Frankreich zählen.

Sie muss also für sich selbst sorgen, allerdings in enger Kooperation mit ihren Nachbarn. Zu hoffen, dass Europa der Schweiz im Notfall helfen werde, ist keine gute Strategie.

Der «Energy only Market» ist auf Dauer nicht nachhaltig. Ein Markt, in welchem das Produkt meistens für die Hälfte oder sogar einen Drittel der Gestehungskosten verkauft wird, kann auf Dauer nicht funktionieren. Die laufende Diskussion über die knappe Kostendeckung bei den bestehenden und weitgehend abgeschriebenen Wasserkraftwerken ist ein klares Zeichen dieser ungesunden Situation. In diesem Zusammenhang erweist sich die Wasserzinsdebatte eher als Symptombekämpfung und ist der falsche Ansatz. Eine nachhaltige Lösung muss die Ursache des Problems – dass die abrufbare Kapazität heutzutage kaum entschädigt wird – behandeln. In anderen Worten: Es braucht eine «Versicherungspolice» für die Sicherheit der Elektrizitätsversorgung.

Zurzeit wird wieder vermehrt über eine volle Marktöffnung gesprochen. Damit ist gemeint, dass auch die kleinen Verbraucher ihren Stromlieferanten auswählen können. Aber dies wird das Grundproblem keineswegs lösen. Die volle Marktöffnung wird zwar die Gleichbehandlung zwischen den schweizerischen Produzenten mit gefangenen Kunden und jenen ohne gebundene Kunden fördern, jedoch wird der Marktpreis an der Strombörse damit kaum beeinflusst. Die Marktverzerrung wird auf der Produktionsseite bleiben und die Kraftwerksbetreiber werden weiterhin mit Dumpingpreisen operieren müssen.

Mit der Energiestrategie  2050 ist für die Schweiz die Zeit gekommen, ein neues nachhaltiges Marktmodell zu entwickeln. Dieses Modell muss Investoren unbedingt eine reelle Chance geben, dass ihre Investitionen eine vernünftige Rendite abwerfen. Aber dies braucht politischen Mut, denn die Notwendigkeit einer «Versicherungspolice» für die Versorgungssicherheit, zusätzlich zu den Subventionen für erneuerbare Energien, dürfte nicht sehr populär sein. Es ist zu befürchten, dass dieses Thema in der Schweiz erst salonfähig wird, wenn auch ihre Nachbarländer in Schwierigkeiten geraten.

Autor
Rolf Kehlhofer

ist Managing Partner bei The Energy Consulting Group AG.

  • The Energy Consulting Group AG, 8001 Zürich
Autor
Dr. David Orzan

ist Partner bei The Energy Consulting Group AG.

  • The Energy Consulting Group AG, 8001 Zürich

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