Fachartikel Energiemarkt

Vertriebliche Optionen für EVUs am Markt

Methoden und Vorgehen zur Vertriebsexzellenz

21.09.2021

Die steigenden Herausforderungen an Energieversorger in einem sich stark ändernden Energiesystem benötigen immer mehr vertriebliches Know-how. Mit Produkten, die auf Kundenbedürfnisse ausgerichtet sind und einer prozessorientierten Vertriebsorganisation kann dieser Wandel erfolgreich gestaltet werden.

Investitionen in Produktion von Energie und deren Verteilung sind in der Regel mit einem Zeithorizont von grösser 25 Jahren belegt. Die Produktlebenszyklen von Marktangeboten betragen technologiebedingt jedoch oft nur wenige Jahre. Diese Diskrepanz stellt für viele Energieversorger auch eine kulturelle Herausforderung dar, eignet sich ein Infrastruktur-basierter Team-Spirit doch kaum, um kundenorientierte Geschäfte aufzubauen. Betrachtet man nun noch all die neuen Marktangebote im Rahmen von Smart Home, Smart City, Smart Grid, Batteriespeicher, Elektromobilität, Dezentralisierung der Produktion (vor allem PV), um nur eine Auswahl zu nennen, mit denen sich Versorger zu beschäftigen haben, wird klar, dass der Vertriebs-Fokus priorisiert werden muss.

Die Erfahrungen aus dem bisherigen Marktgeschäft im teilliberalisierten Strom- und Gasmarkt sind dabei sicher hilfreich, um die zukünftigen Anforderungen zu meistern. Die anstehende vollständige Strommarktöffnung ist dann, sollte es noch länger dauern, bis sie umgesetzt wird, nur noch ein weiteres Puzzleteil im Retailgeschäft eines Energiedienstleisters, und kein Haupttreiber mehr.

Über zehn Jahre Teilmarktliberalisierung

2009 ging der Strommarkt für Verbraucher mit einem Jahreskonsum von über 100'000 kWh auf, was zur Folge hatte, dass auf einen Schlag 40'000 Kunden ihren Anbieter frei wählen konnten.

Für Energieversorger war das eine grosse Chance, um neue Kunden dazuzugewinnen, und gleichzeitig ein Risiko, Bestandskunden zu verlieren. Diese Situation stellt viele Versorger heute noch vor eine Herausforderung. Sie können zwar alle auf rund 100 Jahre Netzbetriebserfahrung zurückgreifen, den meisten fehlt es aber an erprobter Vertriebserfahrung. Daraufhin wurden Kompetenzen in Marketing und Verkauf aufgebaut, jedoch überwiegend, um bestehende Kunden zu halten. In die «DNA» der EVUs sind diese beiden Fähigkeiten aber meist nur teilweise übergegangen.

Aber auch für die Kunden war die Situation neu, und neben der Annahme, dass ein freier Markt per se zu tieferen Preisen führen sollte, waren die Unsicherheiten bezüglich der Trennung zwischen Netznutzung und Energielieferung sehr gross. Dies führte dazu, dass in den ersten vier Jahren nur etwas mehr als 10% von ihrem Recht Gebrauch machten, einen neuen Energielieferanten zu wählen. Seither stieg dieser Anteil auf nunmehr etwa 70% der Kunden, die den freien Marktzugang genutzt haben.

Nun, über zehn Jahre nach der Teilmarktöffnung und diversen Entwicklungen wie beispielsweise der Energiestrategie  2050, steigenden regulatorischen Bestimmungen, Margenerosion im Vertrieb, dem Scheitern des Stromabkommens mit der EU und der Digitalisierung sind die Herausforderungen für Energieversorger noch vielfältiger und komplexer geworden.

Herausforderung Strommarktliberalisierung

Laut aktuellen Aussagen des Bundesamts für Energie (BFE) wird die vollständige Strommarktöffnung nicht vor 2024 erfolgen – längerfristig dürfe sie jedoch auch in der Schweiz umgesetzt werden. Erfahrungen aus umliegenden europäischen Ländern zeigen, dass die vollständige Strommarktöffnung zu einer Reduktion der Endkundenpreise führen dürfte. Der Kostendruck aus den sehr tiefen Margen, den die Energieversorger derzeit spüren, ist dabei bereits ein Vorgeschmack auf eine vollständige Strommarktöffnung und ein Retailgeschäft mit rund vier Millionen Haushalts- und Gewerbekunden. Der Wettbewerb um Kunden wird sich auch in der Schweiz entwickeln, und Energieversorger, denen es nicht gelingt, neue Kunden für sich zu gewinnen sowie Bestandskunden erfolgreich zu halten, werden mit steigenden Kosten durch einen geringeren Kundenstamm konfrontiert werden. Klare Strategien und Marktpositionen sind also erforderlich, will man dieser Entwicklung entgegenwirken – und die Vorbereitungen dazu sollten bereits heute beginnen.

Herausforderung Strategie

Eine Unternehmens-Strategie ist eine Selbstverständlichkeit. Vielen ist es sogar vergönnt, eine Eigentümerstrategie zu haben, die in der Regel die politischen Anforderungen und Vorstellungen an das Versorgungsunternehmen inklusive der zu erreichenden Ziele beschreibt. Neben vielen Aspekten ist insbesondere die Frage nach einer sinnvollen und zukunftsfähigen Wertschöpfungstiefe, sprich der Ausrichtung für «Make-or-Buy-Entscheidungen», elementar. Sie wird in der Energiebranche im Vergleich zu Branchen, die schon Jahrzehnte an liberalen Märkten agieren, eher selten gestellt. Kooperationen, gerade in Bereichen, in denen das Unternehmen über wenig bis gar keine Erfahrung hat, sind typischerweise ein bewährtes und vor allem risikofreieres Mittel, um neue Geschäfte anzupacken und neue Geschäftsmodelle auszuprobieren.

Die darauf aufbauende Umsetzung der Strategie ist jedoch wirkungs- und nutzlos, wird sie nicht entsprechend konsequent in der Organisation verankert und operationalisiert. Dabei wird oft gesündigt respektive es fehlt der Mut, zur Tat zu schreiten, oder der Rückzug wird allzu schnell angetreten, denn der Aufbau neuer Geschäfte am Markt braucht Zeit, Ausdauer, viel Geduld und vor allem einen starken Vertrieb.

Herausforderung Vertrieb

Die steigende Wettbewerbsintensität und die konstant tiefen Margen im Energiegeschäft lassen heute kaum noch Spielraum für Investitionen und Innovationen offen. Dies ist aber eine Notwendigkeit, will man den Kundenbedürfnissen gerecht werden. Ein hoher Automatisierungsgrad und eine tief durchdrungene Digitalisierung in der Abwicklung sind dabei Grundvoraussetzungen, um den Vertrieb kosten­effizient zu halten. Im Bereich des B2B-Geschäfts sind viele Versorger bereits seit Jahren am Markt tätig und den Umgang mit Kundenbedürfnissen und Mitbewerbern gewohnt, jedoch erstreckt sich die Vertriebsleistung im Wesentlichen auf reaktive Tätigkeiten und nur vereinzelt auf aktive Verkaufsmassnahmen und noch seltener auf gezielte Neukunden-Akquisition. Mit zunehmender Produktvielfalt und steigenden Kundenerwartungen kommen die bestehenden Organisationen an ihre Grenzen, vor allem im Antizipieren der Kundenbedürfnisse.

Herausforderung Kundenbedürfnis

Im Hinblick auf das Erreichen der Klimaziele, der Umsetzung der Energiestrategie 2050 sowie der Strommarktliberalisierung steigen die Erwartungen der Konsumenten an die Energieversorger, die entsprechenden Lösungen dazu bereitzustellen, stark an. Darüber hinaus hat sich mit der Digitalisierung und der damit zusammenhängenden Nutzung von Social-Media-Kanälen als Werbeplattform beispielsweise das Konsum- und Kaufverhalten der Kunden stark verändert, und es wird sich weiter verändern.

In diesem Kontext eine zuverlässige Infrastruktur zu betreiben, die hierzulande als selbstverständlich betrachtet wird, und sich gleichzeitig als attraktiven und kompetenten Anbieter zu positionieren, ist nur mit einem dezidiert auf die Kundenbedürfnisse ausgerichteten Fokus möglich. Das ist auch eine Grundvoraussetzung, möchte ein Unternehmen die vom Markt effektiv nachgefragten Produkte bereitstellen.

Herausforderung Produkt

Die bisherigen Kenntnisse und Erfahrungen der Energiebranche bezüglich Produktentwicklung bestehen vor allem darin, Tarife jährlich zu kalkulieren und zu veröffentlichen. Produkt- oder Tarifvielfalt entstand ausschliesslich aus der Innensicht, also aus einer Effizienz- oder Steuerbarkeits-Optik des Netzbetriebs heraus. So wurden beispielsweise in den 80er-Jahren vielerorts Niedertarif-Zeiten eingeführt und in den 90ern Wärmepumpen-Tarife. Der Rechnungsempfänger oder Abonnent spielte dabei eine untergeordnete Rolle.

Heute sind Prosumer-Konzepte (Produzent und Consumer in einem), die die Flexibilitäten von Eigenverbrauchsgemeinschaften von dezentralen Produktionen und kundenseitigen Lastmanagement-Systemen zum Vorteil des Kunden steuern, Realität und bestimmen die Produktentwicklung. Es werden dabei fast täglich neue, teilweise sehr spezifische Produkte nachgefragt, die mit bisher in EVUs etablierten Prozessen und Know-how nur schwer adaptierbar sind. Um den vielfältigen Anforderungen gerecht zu werden, müssen diese neu gestaltet werden.

Dazu kommen Anforderungen aus neuen energienahen Opportunitäten wie Fiber-to-the-Home, Wasserstoff und Fernwärmeverbünden, die augenscheinlich bestens zum bisherigen Infrastruktur-Geschäft passen, wäre da nicht die Tatsache, dass es sich um Markt-Produkte handelt, die sich nicht einfach von allein verkaufen und die auf wirkungsvolles Marketing angewiesen sind.

Herausforderung Marketing

Mit der Teilmarktliberalisierung im Stromgeschäft wurden auch die gesetzlichen Anforderungen an den Datenschutz je länger je mehr zu einer schier unlösbaren Aufgabe für die Versorger. Die aus dem Monopolgeschäft generierten Kundendaten sind für das Marktgeschäft selbstverständlich tabu, da deren Nutzung einen unzulässigen Wettbewerbsvorteil bedeuten würde. Die Bewerbung eines neuen Marktproduktes, beispielsweise auf der eigenen Website, ist natürlich erlaubt, aber grundsätzlich ohne Verknüpfung zu Kundendaten und Verbräuchen zu gestalten. Selbst in einem Kundenportal ist die Bewerbung stark eingeschränkt. Die dadurch entstehende Situation, dass ein Bestandskunde bei einer Produktanfrage bei seinem Versorger seine persönlichen Daten wie Name, Adresse usw. eingeben muss, führt mitunter zu Unverständnis und lässt den Versorger beim Kunden als inkompetent erscheinen. Ein Dilemma, dem mit viel Fingerspitzengefühl und vor allem mit offener, transparenter und adressatengerechter Kundenkommunikation gut begegnet werden kann.

Zukunftsfähige Vertriebsorganisation entwickeln

Die Beherrschung all der neuen und teilweise bisher branchenfremden Herausforderungen ist für Energieversorger keine leichte Aufgabe. Mit der methodisch korrekten Herangehensweise können jedoch Erfolgsfaktoren identifiziert werden. So kann mit einer Vertriebsstrategie, einer strukturierten End-to-End-Betrachtung der Abwicklungs-Prozesse und Organisationseinheiten (Bild unten) sowie der kulturellen Entwicklung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hin zu kundenfokussiertem Denken und Handeln in allen relevanten Aspekten sichergestellt werden, dass sowohl das Bewährte genauso entscheidend in die Zukunftsausrichtung einfliesst als auch die Kundenbedürfnisse und Anforderungen an all die neuen Produkte und Dienstleistungen.

Im Folgenden wird aufgezeigt, wie in drei Schritten ein Soll-Zustand hergeleitet werden kann, der die individuell notwendigen Entwicklungspoten­ziale und Handlungsfelder aufzeigt.

Angefangen bei der Analyse des Kundenbestandes und der -segmente, der Organisationsstruktur sowie der Systemlandschaft, wird in einem weiteren Schritt der Ist-Zustand bewertet, dessen Stärken und Schwächen aufgezeigt sowie Handlungs- und Entwicklungspotenziale hergeleitet. Dabei wird die Organisation über alle Bereiche hinweg betrachtet, und die Bewertung wird entlang bewährter Perspektiven durchgeführt, um ganzheitlich strukturierte Entwicklungspotenziale abzuleiten. In einem dritten Schritt wird auf dieser Basis der Soll-Zustand beschrieben, es werden Massnahmen zur Erreichung desselben entwickelt und bewertet, und es wird eine entsprechende Roadmap zur Umsetzung hergeleitet.

Eine Positionsbestimmung der vertrieblichen Leistungsfähigkeit, abgestimmte und von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern getragene Handlungsoptionen sowie ein strategisch ausgerichtetes Zielbild des Vertriebs im Wettbewerb bilden die Entscheidungsgrundlage für die erfolgreiche Weiterentwicklung eines Versorgungsunternehmens mit Ambitionen am Markt.

Autor
Hans-Jörg Aebli

ist Geschäftsführer von Fichtner Management Consulting AG Schweiz.

  • Fichtner Management Consulting AG Schweiz, 8001 Zürich

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