Verbraucherverhalten durchschauen
Erstellung synthetischer Lastprofile durch Verhaltenssimulation
Im Bereich der Energietechnik beschäftigt man sich oft mit den Erzeugern und schenkt der Verbraucherseite selten die nötige Aufmerksamkeit. Dabei ist die grösste Herausforderung beim Wechsel zu erneuerbaren Energien nicht die Erzeugung der Energie, sondern die mangelnde Übereinstimmung von Erzeugung und Verbrauch.
Diese Vernachlässigung der Stromverbraucher tritt besonders bei der Berechnung des Eigenverbrauchs von Photovolta-ik-Anlagen auf. Statt einem gemessenen Lastprofil wird häufig ein Standardlastprofil wie z.B. das deutsche BDEW-H0-Profil verwendet. Bild 1 zeigt den direkten Vergleich zwischen einem gemessenen Profil und dem H0-Profil für einen Tag. Man sieht, dass sich individuelle Lastprofile fundamental von Standardlastprofilen unterscheiden, da für diese viele Einzelprofile gemittelt werden. Somit liefert eine Eigenverbrauchsberechnung einer PV-Anlage mit einem Standardlastprofil für einen einzelnen Haushalt nur sehr eingeschränkt nützliche Ergebnisse.
Lastprofile werden aber nicht nur bei der Analyse von PV-Anlagen, sondern auch bei der Berechnung von Lastflüssen im Niederspannungsnetz, zur Berechnung der Auswirkung von Batterien u.v.m. benötigt. Häufig sind aber keine Lastprofile verfügbar, weil:
- keine Messungen durchgeführt wurden oder durchgeführt werden konnten.
- Datenschutzgründe den Zugriff auf die Lastprofile verhindern.
- Die Situation (noch) nicht existiert.
Somit bleibt als einziger Ausweg die Erstellung synthetischer Lastprofile.
Stand der Technik
Da das Problem nicht neu ist, gibt es bereits viele Ansätze, die meist auf eine zufallsbasierte Beschreibung der Verbräuche setzen. In der einfachsten Variante sind das Aussagen wie «Zwischen 19.00 und 21.00 Uhr besteht eine
90%ige Wahrscheinlichkeit für das Einschalten des Fernsehers». Allerdings ist menschliches Verhalten viel komplexer. Mit diesem einfachen Ansatz ist es schwierig, z.B. Schichtarbeiter, Rentner, Urlaub, Krankheiten oder täglich wechselndes Verhalten abzubilden. Daher treiben die verschiedenen Lastprofilgeneratoren in den wissenschaftlichen Veröffentlichungen grossen Aufwand. Zum Beispiel werden Geräteaktivierungen zusammengefasst, d.h. «wenn der Fernseher in Betrieb ist, läuft auch die Set-Top-Box». Darauf aufbauend werden dann Wahrscheinlichkeitsverteilungen für Aktivitäten verwendet, die mehrere Geräte zusammenfassen. Darauf wiederum aufbauend werden komplexe Anwesenheitsprofile ausgearbeitet, welche die Aktivitätswahrscheinlichkeiten beeinflussen. Dieser Ansatz funktioniert gut, falls hinreichend Daten vorhanden sind. Beliebt ist die Verwendung von Daten aus Time-Of-Use-Studien, in denen Personen für einige Wochen in 15-Minuten-Schritten Tagebuch führten.
Ein anderer Ansatz ist die Verwendung eines gemessenen Summenlastprofils von einer Trafostation als Zielkurve. Basierend auf statistischen Daten zur Geräteverteilung und Messungen zu Einschalthäufigkeiten kann diese in Profile für Einzelhaushalte aufgeteilt werden. Bei sorgfältiger Aufteilung entstehen so realistische Einzelhaushaltsprofile.
Falls nicht nur der Stromverbrauch durch die Haushaltsgeräte erfasst werden soll, sondern auch der Warmwasserboiler oder die Wärmepumpe, muss zusätzlich ein Warmwasserverbrauchsprofil generiert werden, das zum Stromverbrauchsprofil passen muss. Die Ergebnisse der Berechnungen sind suboptimal, falls im elektrischen Lastprofil die Bewohner drei Wochen in Urlaub fahren, aber der Warmwasserverbrauch ununterbrochen anfällt. Es ist also nicht sinnvoll, getrennte Lastprofilgeneratoren für Strom und Warmwasser zu verwenden.
Modell
Für die Entwicklung eines Algorithmus zur Optimierung der Lastflüsse im Niederspannungsnetz wurden in einem Forschungsprojekt mehrere Hundert individuelle, realistische Lastprofile in Minutenauflösung benötigt. Da eine umfangreiche Recherche ergab, dass keine vorgefertigten Lösungen zur Verfügung standen, wurde der hier vorgestellte LoadProfileGenerator (LPG) erstellt.
In vielen anderen Arbeiten liegt der Fokus auf der Erstellung konkreter Lastprofile, d.h. dem Durchführen von Umfragen und Studien zur Berechnung von Wahrscheinlichkeitsverteilungen für ein konkretes Land zu einem konkreten Zeitpunkt. Das schränkt die generelle Anwendbarkeit der Arbeiten ein. Hier lag der Fokus auf der Erstellung eines generischen Modellierungswerkzeugs, mit dem schnell und einfach Szenarien modelliert und die sich daraus ergebenden Lastprofile simuliert werden können.
Zur Umgehung des Problems der Wahrscheinlichkeitsverteilungen wurde ein Verhaltensmodell aus der Psychologie eingesetzt. Mit dem Modell kann das Verhalten der Bewohner simuliert und aus dem Verhalten die Zeitpunkte der Aktivierung der einzelnen Geräte berechnet werden. Somit entsteht einerseits ein Summenlastprofil für den gesamten Haushalt und andererseits ein detailliertes Gerätelastprofil für jedes einzelne Gerät.
Bild 2 zeigt die Grundidee des Verhaltensmodells. Das zentrale Objekt ist die Person. Diese hat Bedürfnisse, die ihr Verhalten steuern. Auf der anderen Seite existieren im Haushalt Geräte, die den Bewohnern Aktivitäten anbieten. Die Person wählt aus den angebotenen Aktivitäten die nächste aus, basierend auf den aktuellen Bedürfnissen. Falls die Person hungrig ist, wird sie essen, falls sie müde ist, wird sie schlafen und ansonsten möglicherweise fernsehen. Dabei nimmt jedes Bedürfnis mit der Zeit zu, wobei die Zunahme zwischen den Bedürfnissen variiert. Zum Beispiel sind Menschen im Allgemeinen zirka alle 4-5 h hungrig, aber nur alle 12-14 h müde. Nicht alle Bedürfnisse sind gleich wichtig, sodass diese gewichtet werden müssen. Ansonsten trifft die simulierte Person möglicherweise die Entscheidung, dass Computerspiele sehr viel wichtiger sind als der Job, was die Ergebnisse unbrauchbar machen würde.
Der Vorteil des Ansatzes ist die Möglichkeit, sehr komplexes Verhalten abzubilden. Frei wählbare Zeitbeschränkungen für Aktivitäten, Krankheiten, Urlaube, Feiertage und selbst von der Aussentemperatur abhängige Aktivitäten wie z.B. Gärtnern können problemlos modelliert werden.
Ein interessantes Resultat aus der Entwicklung war, dass es sehr wichtig ist, gemeinsame Aktivitäten zu integrieren. Wenn das gemeinsame Abendessen nicht modelliert wird, kocht jeder Bewohner für sich, was zu sehr unrealistischen Profilen führt. Natürlich sind nicht nur die Haushalte wichtig, sondern auch die Gebäudeinfrastruktur wie Heizungen, Liftanlagen usw. Dafür wurde ein Gebäudemodell mit einer einfachen Gradtagszahlberechnung integriert, um z.B. auch den Stromverbrauch einer Wärmepumpe abzubilden.
Automatisierung
Der Ansatz ermöglicht zwar die detaillierte Modellierung, hat aber den Nachteil, dass eine sehr gute Datenbasis und viel Zeit benötigt werden, um jeden Haushalt im Detail zu modellieren. Um den Aufwand zu reduzieren, wurde automatisiert.
Die erste Massnahme war die Einführung von Charakteristiken. Wenn man für jede Person jedes Bedürfnis und jede Aktivität einzeln modelliert, werden 1-2 Arbeitstage pro Haushalt benötigt, bis zufriedenstellende Ergebnisse erzielt werden. Um den Prozess abzukürzen, wurden die Bedürfnisse, Geräte, Aktivitäten und Standby-Geräte zusammengefasst zu Charakteristiken, welche z.B. ein bestimmtes Schlafmuster wie «Werktags 8h schlafen, Wochenende 10h» oder ein Hobby wie «Jeden zweiten Dienstagabend im Chor singen» abbilden. Dadurch können Einstellungen von einem Haushalt zum nächsten einfach übernommen werden und der Aufwand beim Erstellen eines neuen Haushaltes ist deutlich kleiner.
Falls man mehrere Hundert Haushalte benötigt, so muss auch die Erstellung des ganzen Haushalts automatisiert werden. Die automatische Erstellung von neuen Haushalten funktioniert regelbasiert. Dazu wird ein Template für einen Haushaltstyp erstellt, das den Haushalt mit Regeln beschreibt. Ein Beispiel für eine solche Regel wäre «Die Mutter in diesem Haushalt hat zwischen ein und drei Hobbys». Mit solchen Regeln können viele verschiedene, jedoch ähnliche Haushalte eines Typs leicht erstellt werden.
Um das Studieren grösserer Bevölkerungsstrukturen zu ermöglichen, wurden Siedlungstemplates eingeführt, welche regelbasiert beschreiben, wie die Siedlung zusammengesetzt ist. Ein Beispiel wäre «30% der Haushalte sollen in Einfamilienhäusern wohnen und Familien mit einem Kind sein, wobei nur eine Person erwerbstätig ist». Eine Siedlung kann entweder ein Dorf oder ein Stadtteil sein.
Somit können die Haushalte in jedem gewünschten Detaillierungsgrad modelliert werden. Von der Ebene der einzelnen Aktivitäten bis hinauf auf die Ebene einer Siedlung kann flexibel eingestellt werden, welcher Detailgrad benötigt wird.
Implementierung
Der Load Profile Generator (LPG) entstand über einen Zeitraum von fünf Jahren als Dissertation an der Technischen Universität Chemnitz, wird jetzt an der Berner Fachhochschule weitergeführt und für den kommerziellen Einsatz vorbereitet. Das beschriebene Modell wurde als Windows-Programm in C# implementiert und steht schon seit Version 1.0 kostenlos im Netz zur Verfügung. Das Programm ermöglicht die Modellierung und Simulation von Profilen auf dem lokalen Arbeitsplatz, sodass sämtliche Daten vertraulich bleiben. Die zeitliche Auflösung ist frei einstellbar, Standard ist eine Minute.
Die feine zeitliche Auflösung ist für viele Berechnungen wichtig. Bild 3 zeigt als Beispiel die Eigenverbrauchsquote einer PV-Anlage in Abhängigkeit der zeitlichen Auflösung. Dazu wurde ein Lastprofil für einen Haushalt mit dem LPG berechnet und ergänzend ein gemessenes Erzeugungsprofil einer realen Anlage genau auf den Jahresverbrauch des Haushalts skaliert. Beide Profile lagen in einer Auflösung von einer Minute vor. Anschliessend wurden beide Profile auf verschiedene zeitliche Auflösungen skaliert. Die Grafik zeigt, dass die Ergebnisse signifikant abweichen. Die Ergebnisse bei Berechnungen mit Lastprofilen in Stundenauflösung und gröber liefern für die meisten Anwendungen keine nützlichen Ergebnisse.
Datenbasis
Im LPG sind 60 Haushalte vordefiniert, als Beispiele und als Grundlage für eigene Haushalte. Die vordefinierten Haushalte basierend auf Daten für Deutschland. Als Basis für die Erstellung der Haushalte wurden statistische Daten, einzelne Messungen, eine kleine Umfrage und persönliche Erfahrungen verwendet. Die erzeugten Lastprofile wurden nach einer Reihe von Kriterien validiert, wie z.B. Jahresenergie- und Zeitverbrauch der Aktivitäten und die Jahresdauerlinien.
Ergebnisse
Ausser für das Erzeugen von Haushaltslastprofilen kann der LPG auch für Studien eingesetzt werden. Ein interessantes Ergebnis war die Untersuchung der Auswirkungen der Umstellung von Glühlampen auf LEDs. Laut einer Studie in Deutschland der Energieagentur NRW betrug der durchschnittliche jährliche Energieverbrauch für die Beleuchtung in einem 3-Personenhaushalt 387 kWh. Umgerechnet in eine durchschnittliche Beleuchtungsdauer ergeben sich drei Räume, die jeweils durchschnittlich mit 100 W 3,5 h am Tag beleuchtet werden. Angesichts der Verbreitung von Halogenstrahlersystemen mit Leistungen von mehreren Hundert Watt erscheint der Wert plausibel. Ein hypothetischer Austausch der Beleuchtung von 100-W-Glühlampen gegen 15-W-LED-Lampen ergibt überschlägig eine Reduktion auf 58 kWh/Jahr bei vergleichbarer Helligkeit.
Mit dem LPG können die Auswirkungen auf das Lastprofil untersucht werden. Dazu wurde eine Siedlung mit 1000 Haushalten in zwei Varianten simuliert. Für Variante eins wurden alle Haushalte mit Glühlampen ausgestattet, sodass sich ein durchschnittlicher Verbrauch von 378 kWh/Jahr für die Beleuchtung ergab. Für Variante zwei wurden alle Glühlampen durch LEDs ersetzt. Somit ergab sich ein Verbrauch von 70 kWh/Jahr. Das Ergebnis für den Durchschnitt aller Werktage im Winter ist in Bild 4 dargestellt.
Daraus lassen sich zwei Schlussfolgerungen ziehen: Zum einen sind gemessene Haushaltslastprofile, die älter als 3 bis 5 Jahre sind, in den meisten Fällen nicht mehr repräsentativ. Zum anderen ist zu erwarten, dass sich für die Energieversorger weitere Herausforderungen ergeben, wenn sich die Form des Lastprofils deutlich ändert. Zum Beispiel ist in den nächsten 5 bis 10 Jahren mit einer deutlichen Absenkung des Standby-Verbrauchs zu rechnen, da durch die EU-Ökodesign-Richtlinie (EuP) Geräte seit 2010 max. 1 W im Standby-Modus verbrauchen dürfen.
Einsatz
Der LPG steht zusammen mit der Datenbank der deutschen Haushalte kostenlos im Netz zur Verfügung. Typische Einsatzwecke sind dabei Kundenberatungen, Forschungen im Bereich der erneuerbaren Energien oder das Testen von Algorithmen zum Energiemanagement. Auch bieten sich mit dem LPG Möglichkeiten für Studien zum Einfluss von Geräteausstattung und Verhalten der Bewohner auf das zukünftige Lastprofil.
Nächste Schritte
Als nächste Schritte in der Entwicklung sind der Einbau der Elektromobilität und der Aufbau einer Schweiz-spezifischen Datenbank geplant. Gegenwärtig wird nach Projektpartnern gesucht, die sich für das Thema interessieren. Anfragen nimmt der Autor gerne entgegen.
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