Urbane Wasserkraft in Zürich
Geschichte des Kraftwerks Letten
Bereits im späten neunzehnten Jahrhundert wurde die Wasserkraft am Letten genutzt. Zunächst, um Zürich mit Brauchwasser zu versorgen. Später kam die Erzeugung von mechanischer und elektrischer Energie hinzu. Anschliessend durchlebte das Kraftwerk einige technische Aktualisierungen und kurz auch heftige soziale Turbulenzen. Eine bewegte Geschichte.
Der Ortsbegriff «Letten» hat sich dem kollektiven Gedächtnis durch die offene Drogenszene eingeprägt, die zwischen 1993 und 1995 die Gleise des stillgelegten Bahnhofs Letten dominiert hat. Nach deren Räumung wurden die Gleise schrittweise entfernt, der einsturzgefährdete Tunnel aufgefüllt und der Ort zu einem urbanen Naherholungsgebiet umgestaltet. Heute gilt im Sommer die Aufmerksamkeit der Erholungssuchenden der Freizeitanlage am Fluss sowie den zwei Flussbädern Oberer und Unterer Letten. Zudem lädt der Kloster-Fahr-Weg zum Flanieren ein. Bei diesen Freizeitaktivitäten wird das beim alten Bahnhof gelegene Flusskraftwerk kaum beachtet – obwohl es auf eine ereignisreiche Geschichte zurückblickt.
Früher, als man am Letten mit Drogentoten rechnen musste und mit sporadischen Schiessereien konfrontiert war, durchlebte auch das Kraftwerk turbulente Zeiten, denn die Schichtmitarbeiter hatten zeitweise nur unter Polizeischutz Zugang zum Kraftwerk. Es gab sogar Momente, an denen der damalige EWZ-Direktor deshalb mit dem Gedanken gespielt hat, den Betrieb einzustellen.
Heute ist die Situation am Letten entspannter. Auch die Zeit der Schichtmitarbeiter im Kraftwerk gehört der Vergangenheit an, denn seit dem letzten Umbau im Jahre 2003 wird das Kraftwerk – wie alle anderen EWZ- Kraftwerke – von der Zentrale in Sils im Domleschg überwacht. Der Sechs-Mann-Betrieb im Lettenwerk war nicht mehr wirtschaftlich.
Historische Entwicklungen
Ihren Anfang nahm die Geschichte des Lettenkraftwerks um 1876 – als Wasserwerk. Zehn dreikränzige Jonvalturbinen à 175 PS übertrugen ihre Kraft über Kegel- und Stirnräder auf eine gemeinsame Welle. Die niedrige Drehzahl der Turbinen erforderte recht komplizierte und somit ineffiziente Getriebe.
Da das Kraftwerk auf lehmigem Grund gebaut wurde (Letten: Lehm, feucht-schlammiger Boden), beschloss man, auf der Hangseite des Wasserwerks eine Doppelmauer zu bauen, um das durch den Bergdruck kommende Wasser am tiefsten Punkt zu sammeln und abzuleiten. Davon profitiert das Kraftwerk heute noch: Die Wände bleiben trocken und schimmelfrei.
Mit einer Turbinenleistung von 1900 PS war das Limmatwerk damals das drittgrösste Wasserkraftwerk der Schweiz – nur die Anlage der Spinnerei Windisch (2500 PS) und die des Karbidwerks Flums (3875 PS) waren grösser. Beim damaligen Gefälle von 1,8 bis 3,5 m konnte eine Wassermenge von 20 bis 60 m3/s genutzt werden.[1]
Zürich hatte damals drei Wassernetze: ein Trinkwassernetz mit Wasser der über 100 Quellen der Umgebung, das Brauchwassernetz für filtriertes Seewasser, mit dem u. a. Haushalte versorgt wurden und das Wasser auch als Trinkwasser nutzten, sowie das durch Hochdruckpumpen im Letten betriebene Triebwassernetz mit ungefiltertem Limmatwasser zum Antrieb von Wassermotoren im Gewerbe – analog den wasserhungrigen Wäscheschleudern aus Grossmutters Zeit.
Das Brauchwasser wurde dem Zürichsee in 16 m Tiefe entnommen, 300 m vor der Schanzengrabenbrücke. Eine Druckgussleitung mit 90 cm Durchmesser führte es durch den Schanzengraben zur Sandfilteranlage am Sihlquai und anschliessend zum Wasserwerk. Aus hygienischen Gründen wurde diese Wasserfassung mit der Filteranlage 1911 aufgegeben.[2]
Bei Energieüberschuss wurde das Triebwasser ab 1879 u. a. in den Resiweiher (Resi: Abkürzung für Reservoir) am Zürichberg gepumpt, von dem es zur mechanischen Energieerzeugung genutzt wurde.[3]
Da anfänglich nicht die ganze Leistung zum Pumpen benötigt wurde, übertrug das Wasserwerk mechanische Energie mittels Drahtseiltransmission auf die linke Limmatseite. Von diesem Angebot profitierten tagsüber die Textilverarbeitung, Werkstätten und die Stadtmühle. Nachts durfte die Seiltransmission wegen den Lärmemissionen nicht genutzt werden. Die als störend empfundene Seiltransmission wurde Mitte der 1890er-Jahre abgerissen.
Die Elektrizität kommt hinzu
Das zum Elektrizitätswerk für Beleuchtungszwecke ausgebaute Wasserwerk lieferte ab 1893 zusätzlich zum Wasser auch elektrische Energie. Zunächst erzeugten vier Generatoren der Maschinenfabrik Oerlikon 600 PS einphasig, bei einer Spannung von 2 kV und einer Frequenz von 50 Hz – obwohl sich andere Kraftwerke damals mit 40 Hz begnügten, einer Frequenz, bei der die damaligen Bogenlampen ein genügend ruhiges Licht gaben.
Ab 1898 wurde die Wasserkraft in wasserarmen Wintern mit kohlegefeuerten Sulzer-Dampfmaschinen ergänzt. Der Resiweiher wurde nun zum Pumpspeichersee. Bei Energieüberschuss im Kraftwerk wurde Wasser in den Weiher gepumpt, das bei Verbrauchsspitzen wieder in Hochdruckturbinen, die auf der durchgehenden Längswelle gekuppelt waren, turbiniert werden konnte, um Strom zu erzeugen.
Die Synchronisierung der Generatoren geschah mechanisch mit Riegel-Kupplungen. Jeder Generator konnte einerseits vom Zahnrad der langen Welle und andererseits von einer Hochdruckturbine angetrieben werden. So wurden stehende Generatoren auf die nötige Drehzahl gebracht und mit der Riegelkupplung in der richtigen Phasenlage mit denen gekuppelt, die schon in Betrieb standen. Oft wurde die schlecht regelbare Drehzahl der Jonvalturbinen mit den Hochdruckturbinen stabilisiert. Die Spannung wurde manuell mit den Erregerwiderständen eingestellt. Gemessen wurde die Referenzspannung am Ende der 2-kV-Hauptleitung am Rathausquai. Von dort wurde ein Prüfkabel zurück zum Kraftwerk geführt und die Spannung mittels Voltmeter am Schaltbrett angezeigt. Vom Rathausquai verteilten 18 Hochspannungsleitungen die Energie zu Trafostationen, die auf öffentlichen Plätzen – in Litfasssäulen – installiert waren.
Was die Öffentlichkeit heute möglichst überall wünscht, war damals schon Tatsache: Die Hochspannung wurde unterirdisch geführt.[4] Die nicht armierten Kabel von Cortaillod hatten einen doppelten Bleimantel und darüber zwei Umwicklungen aus asphaltiertem Juteband. Mit 17 km Hochspannungs- und 27 km Niederspannungskabel war dies damals das grösste Stromnetz der Schweiz.
Später wurde die Spannung auf 6 kV erhöht. Die durchschnittliche Jahresproduktion lag bei rund 6 GWh. 1910 lieferte es, unterstützt von der Dampfkraftanlage bei Wassermangel, 4,8% des in Zürich benötigten Stroms. Der Durchschnitt der aktuellen Zehnjahres-Produktion beträgt rund 24 GWh, was etwa 0,8% des Stromverbrauchs der Stadt Zürich (3 TWh) entspricht.
Technische Aktualisierungen
Beim Kraftwerk kamen jeweils Turbinen zum Einsatz, die dem Stand der Technik entsprachen: von der Gründung bis 1914 zehn Jonvalturbinen, anschliessend zehn Francisturbinen. Mit dem Austausch der Turbinen wurden auch die Pumpen erneuert: elektrisch angetriebene Zentrifugalpumpen ersetzten die Kolbenpumpen.
Die Elektrifizierung brachte einen Unterschied: Je zwei Turbinen trieben nun über konische Zahnräder einen zwischen ihnen liegenden 300-kW-Generator an. Auch der Komfort stieg, denn die Francisturbinen mussten nicht mehr manuell eingestellt werden, sondern wurden automatisch geregelt.
Der grosse Umbau in den 1950er-Jahren
Die Entwicklungen in den Bereichen Hydraulik, Elektrik und Mechanik führten zu grösseren und effizienteren Wasserkraftanlagen. Nach 36 Jahren mit den Francisturbinen war die Zeit reif für eine gründliche Aktualisierung. In den Jahren 1951/52 wurde das Kraftwerk komplett umgebaut. Der ursprüngliche lange Bau erhielt in der Mitte ein neues, voluminöses Maschinenhaus quer zum Fluss. Die Francisturbinen wurden entfernt und zwei Kaplanturbinen und neue Generatoren eingebaut. Um die beiden senkrechten Wellen der Kaplanturbinen, die über 5 m lang sind, für Wartungsarbeiten komplett herausziehen zu können, ist das neue Maschinenhaus deutlich höher als das ältere Gebäude.
Zu dieser Zeit wurde rund 700 m flussaufwärts ein hydraulisches Wehr beim Platzspitz eingebaut, das die Regulierung des Zürichsee-Wasserstandes optimierte. Der Wasserstand, der bei 406 m ü. M. liegt, konnte nun «digital» auf einem Rollenzählwerk in der Steuerzentrale am Letten kontrolliert und mittels Drehknopf, der Steuerimpulse an einen Schrittmotor im Wehr sendete, eingestellt werden.
Eine kritische Situation erlebte das Kraftwerk 1999, als beim Hochwasser eine Rückschlagklappe versagte: Das Wasser stieg im Kraftwerksgebäude kontinuierlich und erreichte beinahe die luftisolierten Einphasentransformatoren. Als der Versuch scheiterte, das Wasser abzupumpen, musste ein Taucher die Klappe reparieren, und die heikle Lage konnte entschärft werden.
Das letzte Update
Als diverse Komponenten der 1950 erstellten Anlage ihr Lebensende erreichten, hat das EWZ 8,5 Mio. Franken investiert, um alles gründlich zu erneuern.[5] 2003 wurde das Kraftwerk mit neuen doppeltgeregelten Kaplanturbinen, die auf dem bestehenden Fundament der früheren Kaplanturbinen installiert werden konnten, in Betrieb genommen. Doppelt geregelt bedeutet, dass sich sowohl der Leitapparat als auch die Turbinenschaufeln verstellen lassen, damit das Kraftwerk stets im optimalen Arbeitspunkt betrieben werden kann.
Die neuen Generatoren des Herstellers Indar kamen aus dem baskischen San Sebastian. Solche Langsamläufer stellten für die Firma eine Premiere dar. Es war nicht einfach, die Generatoren zu beschaffen, denn Siemens hatte keine Offerte eingereicht und ABB hatte zwar eine geschickt, aber bei ihr wurde klar, dass der Auftrag zu wenig attraktiv war.
Nach dem Umbau wurde der Betrieb von der Siebentagesschicht auf Fernsteuerung und einen Tagesdienst mit Nacht- und Wochenendpikett umgestellt. Dazu wurden unter anderem Hydraulikaggregate eingebaut, um die Schaufeln des Leitapparates automatisch oder aus der Ferne steuern zu können. Stickstoffzylinder sorgen dafür, dass der Leitapparat bei Störungen auch ohne elektrische Energie geschlossen wird, um die Maschine abstellen zu können. Eine mechanische Bremse bremst nach der grossen Verlangsamung die fast stillstehende Maschine ganz ab.
Der Wasserstrom durch die Turbine wird beispielsweise für Wartungsarbeiten unterbrochen, indem die Lamellen des Leitapparats geschlossen werden. Um sie auch dann schliessen zu können, wenn sich ein angeschwemmter Balken oder eine Bauschranke in ihnen verfängt, sind die Stellhebel mit Bruchbolzen ausgestattet, die bei Widerstand brechen. Abgesehen vom klemmenden Leitflügel können so alle anderen Flügel geschlossen werden. Beim Öffnen der Stellhebel lassen sich die gebrochenen Bolzen schnell austauschen.
Mit einer Wassermenge von 25 bis 100 m3/s werden am Letten jährlich rund 24 GWh produziert, was einem Durchschnittsverbrauch von knapp 7000 Haushalten entspricht. Das Einzugsgebiet beträgt 1829 km2, das heutige Bruttogefälle 4,5 – 5,3 m. Der erzeugte Strom wurde bisher als Teil eines Strommixproduktes angeboten. Im Jahr 2015 konnten die Zürcher den teureren, ökologischen Strom vom Kraftwerk Letten direkt beziehen. Da aber das Interesse am lokalen Strom enttäuschend gering war, hat EWZ die Aktion Lettenstrom kürzlich eingestellt.
Um den Lettenstrom als «naturemade star» zertifizieren zu können, wurde 2016 ein neuer Fischaufstieg erstellt. Sein Bau war aufwendig, denn der Kranführer musste den Aushub und das Baumaterial über das Hauptgebäude heben. Um die Wirksamkeit nachzuweisen, ist der Fischaufstieg mit einem Zählbecken ausgestattet. Die Fische werden darin bestimmt, vermessen und dokumentiert. Rund 26 Fischarten in allen Grössenklassen und ein paar Krebsarten sollten erscheinen. Obwohl der Einstieg relativ weit weg vom Hindernis ist, finden ihn die Fische trotzdem. Und der Abstieg durch die Turbine ist für Fische ungefährlich. Möwen würden sonst beim Kraftwerk schnell auf verunfallte Fische aufmerksam machen.
Das Kraftwerk leistet noch einen weiteren Dienst in Sachen Umweltschutz, denn beim Einlass sammeln sich, vor allem nach Wochenenden, PET-Flaschen an. Diese werden u. a. von einem Hersteller von Badehosen als Rohmaterial genutzt. Spitzenwerte werden jeweils an der Streetparade erreicht: Zwischen 6 und 11 m3 an PET- Flaschen werden dann aus der Limmat gezogen. Beim Public Viewing haben die Depotbecher diese unerfreuliche Situation aber deutlich entschärft.
Eingebettet in ein urbanes Naherholungsgebiet, erzeugt das Kraftwerk wertvollen erneuerbaren Strom und reinigt zugleich den Fluss. Seine illustre Geschichte ist verwurzelt in den Anfängen der Elektrifizierung der Stadt Zürich. Die diversen Etappen zeugen vom technischen Fortschritt, aber auch von gesellschaftlichen Veränderungen. Zurzeit ist es um das Kraftwerk ruhig geworden, und neue Transformationen stehen nicht an. Aber, wer weiss, vielleicht wird in einigen Jahren dieser Geschichte ein weiteres Kapitel hinzugefügt?
Referenzen
[1] H. Bertschi, «Das Limmatwerk Letten der Stadt Zürich», Schweizerische Bauzeitung, 28. Februar 1953, S. 129 – 132.
[2] Walter Thomann, «Zürichs schönes zweites Seewasserwerk», in Bauen, Wohnen, Leben, 1961.
[3] H. Obrist, «Escher-Wyss-Grossspeicherpumpen», Schweizerische Bauzeitung 21. Juni 1962, S. 445.
[4] H. von Schulthess Rechberg, «75 Jahre Elektrizitätswerk der Stadt Zürich, Schweizerische Bauzeitung, 31. Oktober 1968, S. 781.
[5] «Erneuerung EWZ-Kraftwerk Letten», Bulletin SEV/VSE 24/25 2002, S. 73.
Literatur
- Walter Wyssling, Die Entwicklung der schweizerischen Elektrizitätswerke und ihrer Bestandteile in den ersten 50 Jahren, SEV, 1946.
- Jean-Daniel Blanc, Die Stadt und das Wasser, Orell Füssli Verlag, 2018.
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