Unternehmenskultur: Wunsch und Wirklichkeit
EVU müssen ihre Strategien in Zukunft anpassen
Einst geprägt von aussergewöhnlicher Beständigkeit und Stetigkeit ist die Energiebranche heute ebenso dem Wandel der Zeit unterworfen wie andere Wirtschaftszweige. Energieversorgungsunternehmen müssen sich entsprechend fit für die Zukunft machen und ihre Unternehmensstrategien überarbeiten und anpassen.
Die Energiebranche ist zahlreichen Veränderungen und Unsicherheiten unterworfen. Dies erfordert eine intensive Auseinandersetzung mit möglichen zukünftigen Zielbildern und der Entwicklung und Strategie des eigenen Unternehmens, um auch in Zukunft im Energiemarkt erfolgreich zu sein. Dabei müssen nicht nur harte Fakten analysiert und die organisatorische Aufstellung allenfalls optimiert werden. Wirklich entscheidend wird sein, dass die Führungskultur und die gelebten Unternehmenswerte in die zukünftige Energiewelt passen.
Der VSE hat sich im Rahmen seines Projektes «Energiewelten» [1] mit der (Energie-)Zukunft der Schweiz auseinandergesetzt. Dabei hat er vier extreme, aber durchaus denkbare Ausprägungen der Energiewelten im Jahr 2035, mit dazugehörigen Marktmodellen, sowie möglichen Geschäftsmodellen entwickelt. Nachfolgend sind die Ausprägungen dieser Energiewelten kurz zusammengefasst:
- Trust World: «Der Umbau der Energieversorgung hat in Europa grosse Probleme verursacht. Nun schätzen wir vor allem eines: eine sichere, zuverlässige und bewährte Energieversorgung in der Schweiz.» (Bild 1)
- Trade World: «Strom kommt aus der Steckdose, oder? Weshalb sollten wir uns Gedanken dazu machen? Energie und insbesondere Strom müssen preiswert und stets verfügbar sein. Das ist die Hauptsache.» (Bild 2)
- Local World: «Wir leben bewusst und setzen auf einheimische Ressourcen. Im Quartier produzieren wir unsere Energie zu einem grossen Teil selbst. Was übrig bleibt, tauschen wir untereinander aus.» (Bild 3)
- Smart World: «Überall steckt intelligente Technologie drin, und die digitale Vernetzung hat unser Leben vollständig erfasst. Clevere Apps und Tools erleichtern unser Leben massiv.» (Bild 4)
Unternehmen müssen sich Fragen stellen und beantworten
Die Auseinandersetzung und Bewertung der Energiewelten für das eigene Unternehmen konfrontiert deren Leitung, und insbesondere deren Verwaltungsrat, mit zahlreichen Fragen, die für eine zukünftige erfolgreiche Positionierung und Strategie beantwortet werden müssen:
Wie fit ist das EVU im Umgang mit Neuem und Unbekanntem? – Der Anteil neuer Technologien wie Solar- und Windenergie sowie Speichertechnologien steigt; ihre technischen Eigenschaften entwickeln sich zudem rasant weiter. Die Preise zerfallen. Eigenverbrauch, E-Mobilität und intelligente Haussteuerung sind nur Subthemen der Digitalisierung. Wie reagieren die Mitarbeiter im Unternehmen? Stürzen sie sich mit Begeisterung auf alles Neue und suchen neue Optionen und Möglichkeiten, wie es die Smart World erfordert? Oder sind sie eher skeptisch und sehen das als Modeerscheinung, die vorübergeht?
Wie gut ist das EVU in Bezug auf Partnerschaften und verteilte Verantwortung? – Die Energieerzeugung mit erneuerbarer Energie erfolgt vor allem dezentral. Dies erfordert neue Elemente im Verteilnetz und in der Netzsteuerung. Die Netze für unterschiedliche Energieträger wachsen zusammen (Netzkonvergenz). Dies erfordert neue Betrachtungsweisen, Kooperatio-nen und Ansätze, und zwar nicht nur im Netz-Management. Die Fähigkeit zu Partnerschaften und Zusammenarbeit sind in einer Local World und in anderer Form auch in der Trade World zentrale Erfolgsfaktoren. Erlauben die heutigen Prozesse aber auch Fähigkeiten wie das Eingehen von Partnerschaften und entsprechendes Risiko-Management? Werden Partner als wertvoller Teil der Wertschöpfungskette betrachtet oder eher als notwendiges Übel, weshalb man sich lieber auf die eigenen Stärken verlässt?
Wie agil geht das EVU mit Unsicherheit und kurzfristigen Veränderungen um? – Der Investitionszyklus wird aufgrund der Liberalisierung und der technologischen Fortschritte kürzer. Die Rentabilität der Investitionen muss wie in der Trade oder Smart World immer kurzfristiger erreicht werden. Entscheidungen müssen schneller gefällt werden, die Faktenbasis wird unsicherer und die Risiken für Fehlinvestitionen steigen. Erlauben die heutige Führungskultur und die Entscheidprozesse ein agiles Handeln in allen Einheiten des Unternehmens, oder geht es eher um Vorsicht und Absicherung und darum, dass ohne mehrfach gerechneten soliden Business Case nichts geht?
Wie geht das EVU mit Details um und wie wichtig ist ihm das Verständnis der Gesamtzusammenhänge mit allen Stakeholdern? – Kunden können sich einerseits beliefern lassen oder selbst Energie erzeugen und zum Prosumer werden. Planung und Prognosen werden anspruchsvoller. Marketing und Verkauf gewinnen als neue Disziplinen an Gewicht und erfordern zum Beispiel in der Local World eine andere Kundenbeziehung als bisher. Dies erfordert einen Blick auf das gesamte Energiesys-tem, gleichzeitig werden immer mehr Details geregelt und die Politik gibt den Handlungsspielraum vor. Wie gehen Mitarbeiter und Führungskräfte mit diesen vielen notwendigen neuen Sichtweisen und Gesamtzusammenhängen um?
Dies ist nur ein kleiner Ausschnitt möglicher Fragestellungen und individueller Herausforderungen für die zukünftige strategische Positionierung von EVU und deren operativen Erfolg. Für jede der vier Energiewelten stehen unterschiedliche not-wendige Erfahrungen, Präferenzen und Werte im Vordergrund. Erfahrungen, Präferenzen und Werte beschreiben aber nichts anderes als das, was eine Persönlichkeit – oder für Organisationen eine Kultur – ausmacht.
Eine Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur ist nötig
Der bekannte Management-Vordenker Peter Drucker hat das treffende Bonmot «Culture eats strategy for breakfast!» geprägt, das anschaulich und treffend das Problem vieler Strategieumsetzungen beschreibt. Was jedoch in der Strategiediskussion oft vergessen geht: Eine Unternehmensstrategie ist nur dann nachhaltig umsetzbar, wenn sie von der Unternehmenskultur getra-gen, gefördert und am Ende auch gefordert und weiterentwickelt wird.[2] Eine Ausrichtung auf die Energiewelten bedeutet also auch immer eine Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur und deren Wechselwirkung mit den zukünftigen Gegebenheiten.
«Weiche Faktoren» zu messen und die stabilen Muster zu identifizieren, ist nach wie vor eine Herausforderung. Eine ein-fach anwendbare und zugängliche Methode ist der «Myer Briggs Typen Indikator» [3], der auf der Jungschen Typologie [4] basiert. Die Theorie geht davon aus, dass sich «typisches» Verhalten durch die Ausprägung von vier Präferenzpaaren (Bild 5) beschreiben lässt.
Persönlichkeitsmodell ist auch auf Unternehmen übertragbar
Dieses, ursprünglich für Personen entwickelte, Modell hat sich zwischenzeitlich auch in der Anwendung auf die «Persönlichkeit» von Unternehmen bewährt. Auf diese bezogen heisst dies zum Beispiel: Ist das Unternehmen in einem laufenden starken Austausch mit den Marktteilnehmern und findet so zu seinen Entscheidungen (Extrovertiert) oder verlässt es sich darauf, was es weiss und gut kann, und lässt sich von Meinungen von aussen nicht so leicht aus der Bahn werfen (Introversion)? Braucht man im Unternehmen in der täglichen Arbeit und für Entscheidungen erst einmal alle Details und sind Genauigkeit und Sorg-falt das höchste Gut (Sensing)? Oder ist es für das interne Gehör wichtiger, ein Gesamtbild und die Wirkung insgesamt darstel-len zu können (Intuition)?
Stehen im Unternehmen bei Entscheidungen Mitarbeiter, Umwelt und Fairness im Vordergrund (Feeling) oder sind das Ergebnis der Analyse und der Business Case die alleinigen Kriterien (Thinking)? Betont die Organisation eher Struktur, Prozesse und Planung (Judging) oder stehen die kreative Nutzung von Optionen, Flexibilität und Agilität im Vordergrund?
Der Myers-Briggs-Typen-Indikator (Bild 2) erfasst diese Präferenzpaare EI, SN, FT und JP und kombiniert sie zu 16 typischen Profilen in vier Gruppen, die sowohl bestimmte Denkmuster, wie zum Beispiel «abstrakt» oder «anwendungsorientiert», als auch Fokusthemen wie «Aufgaben» oder «Visionen» in den Vordergrund stellen.
Mehr als die Summe aller Präferenzen
Dabei ist entscheidend: Die Präferenzen der Organisation sind nicht die Summe der Präferenzen der Personen in der Organisation. Der Organisationscharakter, die Kultur, wird durch die Historie der Organisation, deren Aufgabe und den Kontext geprägt.[5] In jeder der Energiewelten wird sich voraussichtlich eine spezifische Unternehmenskultur, eine spezifische Kombination von Präferenzen bewähren und erfolgreich sein. Untenstehend finden sich erste mögliche Prognosen.
Trust-World-Kultur
In diesem Szenario setzt man auf Bekanntes und Bewährtes, Experimente werden nicht gewünscht und Zuverlässigkeit und Planung stehen im Vordergrund. Unternehmen des Typus ISTJ fühlen sich hier am wohlsten. Introversion: Erfolg hat man mit der Konzentration auf das, was man kann und man lässt sich am besten von extern nicht dreinreden. Austausch erfolgt im Wesentlichen intern und mit Partnern des Vertrauens. Structure: Details und Sorgfalt sind der Garant für Zuverlässigkeit und Versorgungssicherheit. Thinking: Logisches Handeln frei von rein emotionalen Beweggründen ist in diesem Szenario (wieder) ein Erfolgsfaktor. Grosse Ideen und innovative Ansätze sind nur gefragt, wenn sie die Versorgungssicherheit erhöhen. Judging: Sorgfältige Planung ist die Grundlage für den Geschäftserfolg, auf kurzfristige Optimierungsgelegenheiten wird bewusst zugunsten von Sicherheit verzichtet.
Trade-World-Kultur
Das Szenario erfordert einen klaren Kostenfokus und die Nutzung von Kooperationen und Einsparmöglichkeiten, wo immer möglich. Hier werden sich wahrscheinlich Unternehmen mit der Unternehmenskultur ENTJ besonders erfolgreich behaupten. Extroversion: Ein europaweiter Austausch in einem Energiesystem ist zentral, Kommunikation mit dem Kunden im liberalisierten Markt ist essentiell für den Erfolg. Intuition: Es stehen das grosse Ganze und die gewählte Strategie im Vordergrund. Details und Hindernisse sind dazu da, um geklärt respektive beseitigt zu werden. Thinking: Wichtig ist rationales, analytisches Handeln, das den betriebswirtschaftlichen Nutzen der Handlungen und Entscheidungen in den Vordergrund stellt. Judging: Die festgelegte Strategie und die Verfolgung und Umsetzung der Planung sind die zentrale Richtschnur und wesentliches Element in der Führung.
Local-World-Kultur
INFP-Unternehmen mit einer starken lokalen Verankerung und Wertorientierung positionieren sich hier aufgrund ihrer faktischen Monopolstellung am besten. Introversion: Wichtig sind die lokale Verbundenheit und der interne Austausch im lokalen Versorgungsgebiet. Der Austausch mit extern spielt eine untergeordnete Rolle, ausser beim Marktzugang. Intuition: Innerhalb der strengen gesetzlichen Regelungen ist es wichtig, einen Weg zu finden, der insgesamt passt. Um die Erfolgsaussichten beurteilen zu können, braucht es immer die Beurteilung des Gesamtkontextes. Feeling: Man setzt auf Vertrauen und primär auf Ermutigung in einer Gemeinschaft der Gleichgesinnten. Entsprechend wird nur, wenn nicht anders möglich, auf Befehls-ausgabe oder Auftragserteilung gesetzt. Ansonsten ist es wichtig, den anderen zu überzeugen, gerne auch mit einem Hinweis auf gemeinsame Werte. Perceiving: Die Organisation hat die Tendenz, reaktiv zu handeln und trotzt ihrer Hellhörigkeit für Signale von aussen, an einer einstmals vielversprechenden Anlage länger festzuhalten, als sie sollte.
Smart-World-Kultur
Es ist die ENTP-Welt der Forscher, Entwickler und der smarten «Deal Maker»-Unternehmen, die technischen Fortschritt in ökonomischen Nutzen transformieren können. Extroversion: Ein internationaler Austausch in einem Energiesystem von Produzenten, Lieferanten und Dienstleistern ist zentral. Im Gegensatz zur Trade World haben die Nutzung der Digitalisierung und die starken technologischen Fortschritte eine zentrale Bedeutung im Wettbewerb. Intuition: Für den Erfolg ist ein grosses Verständnis des Kontextes und des Zusammenwirkens zwischen den Involvierten essentiell. Marktteilnehmer, die systemisch denken und das ganze Energiesystem im Auge behalten, können dies optimal nutzen. Thinking: Logik, tiefes technisches und betriebswirtschaftliches Verständnis mit Forschergeist sind die Basis für die Innovationskraft, welche die Unternehmen erfolgreich macht. Perceiving: Durch die rasanten technologischen Entwicklungen sind Pläne sehr schnell Makulatur. Das rasche Erkennen und Nutzen von neuen Optionen und Möglichkeiten machen den Erfolg der Unternehmungen aus.
Unternehmenskultur und Zielbild müssen kongruent sein
Hat sich eine Geschäftsleitung oder ein Verwaltungsrat schon auf ein Zielbild festgelegt, das zur Unternehmenskultur passt, dann müssen die Erfolgsfaktoren in dieser Kultur aktiv mit «Helden», und «Ritualen» verstärkt werden. Dazu müssen einerseits die richtigen Vorbilder deutlich hervorgehoben werden. «Rituale» anderseits sind der Ausdruck von Führungskultur und der Art der Zusammenarbeit im Unternehmen.
Passt die Kultur hingegen nicht zum Zielbild – und damit den Erwartungen der Führung an die Zukunft des Unternehmens –, müssen zwingend heute Korrekturen in der Unternehmenskultur und insbesondere der Führungskultur eingeleitet werden, damit das Unternehmen morgen auf dem gewählten Weg erfolgreich wird.
Falls in einem Unternehmen Zweifel darüber bestehen, was denn die tatsächliche Kultur im eigenen Unternehmen ist, bieten die vorgestellten Mittel Möglichkeiten, um die Präferenzen in der Organisation zu messen. Gleichzeitig muss eine Unternehmensleitung aber auch frühzeitig einen aktiven Dialog zum Zusammenspiel von (neuer) Strategie und erforderlicher Kultur führen. Nur so wird sichergestellt, dass die Strategie tatsächlich die notwendige positive Resonanz im Unternehmen erhält, um es erfolgreich in die Zukunft zu führen.
Referenzen
[1] www.energiewelt.ch.
[2] HBS© Modell Intercai 2016.
[3] «Manual: A Guide to the Development and Use of the Myers-Briggs Type Indicator», 1985, Consulting Psychologists, Isabel Briggs Myers, Mary H. McCaulley.
[4] «Typologie» Dtv, 2001, Carl Gustav Jung.
[5] «Der Charakter von Organisationen», Hogrefe, 1998, William Bridges.
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