Trends beim automatisierten Fahren
Motivation, Technologien und Prognosen
Mediale Aufmerksamkeit erhalten autonome Fahrzeuge heute meist bei Unfällen. Künftig könnte ihr Einsatz die Strassenunfallstatistik aber positiv beeinflussen. Im Interview gibt Gregory Baratoff von Hyundai Mobis einen Einblick in Technologien und Trends bei autonomen Autos.
Das automatisierte Fahren nimmt kontinuierlich Fahrt auf. Von den sechs Autonomiestufen, die in Europa und den USA zum Klassifizieren des autonomen Fahrens verwendet werden – von der Stufe 0, bei der der Fahrer selbst fährt bis zur Stufe 5, dem vollautomatischen Fahren, bei dem kein Fahrer nötig ist –, ist die Stufe 2 bereits in der Praxis angekommen. Da übernehmen Assistenzsysteme beispielsweise das automatische Einparken oder das Abbremsen in bestimmten Situationen. Viel Entwicklungsarbeit und ein intensiver gesellschaftlicher und juristischer Diskurs wird aber noch nötig sein, um eine umfassende Automatisierung in der individuellen Mobilität zu erreichen.
Bulletin: Was motiviert Autohersteller, sich fürs automatisierte Fahren einzusetzen? Eine Steigerung der Sicherheit auf den Strassen? Ein höherer Fahrkomfort? Optimierung der Verkehrsströme?
Gregory Baratoff: Die Sicherheit ist aus meiner Sicht der wichtigste Grund. Immerhin können rund 90% der Unfälle auf menschliches Versagen zurückgeführt werden. Dies kann aufgrund von Müdigkeit passieren, aus Unaufmerksamkeit oder bei Ablenkung – die in den letzten Jahren durch die Handynutzung am Steuer vermehrt gestiegen ist –, oder bei erschwerten Fahrbedingungen, etwa nachts, bei Regen, bei unbekanntem Strassenverlauf.
Sicherheit ist die Grundvoraussetzung für das automatisierte Fahren, und der Gesetzgeber muss sie von der Automobilbranche strikt einfordern. Es gibt aber zusätzliche Faktoren, die schliesslich auch den wirtschaftlichen Erfolg des automatisierten Fahrens gewährleisten sollen. Der Fahrkomfort gehört sicherlich dazu. Darunter wird traditionell verstanden, wie sich das Auto auf der Strasse anfühlt, meist aus Sicht des Fahrers. Allerdings sollte der Fahrkomfort beim automatisierten Fahren eher aus der Perspektive des Beifahrers betrachtet werden, der ja oft eine empfindlichere Einschätzung des Fahrkomforts (und der Sicherheit) hat. Nur wenn der Fahrer die Fahrweise des automatisierten Systems als sicher und komfortabel empfindet, gewinnt er die Freiheit, sich während der Fahrt anderen Aufgaben zu widmen. Dies wiederum eröffnet eine Vielzahl an Möglichkeiten für Dienstleistungen, die während der Fahrt angeboten werden können.
Verkehrsströme lassen sich natürlich gut optimieren, wenn Fahrzeuge automatisiert fahren und sich einer kooperativen Verkehrsnavigation unterwerfen. Dies wird aber erst dann Vorteile bringen, wenn alle Fahrzeuge automatisiert sind, zumindest innerhalb eines definierten Verkehrskorridors.
Was sind die grössten technologischen Herausforderungen bei Systemen für automatisierte Fahrzeuge?
Ich sehe drei Kernthemen. Erstens eine leistungsfähige Sensorik. Insbesondere geht es hier darum, die Systemgrenzen zu erweitern, um möglichst auch bei schwierigen Witterungsbedingungen die Umgebung korrekt zu erfassen. Zweitens eine «souveräne Fahrkunst», worunter ich gleichzeitig eine sichere, auf gefährdete Verkehrsteilnehmer wie Fussgänger und Radfahrer Rücksicht nehmende, die Verkehrsregeln einhaltende, andere Verkehrsteilnehmer fair behandelnde, aber bei Bedarf durchsetzungsfähige und bestimmte Fahrweise verstehe.
Drittens das Umgehen mit überraschenden Extremsituationen. Hier geht es nicht um Situationen, in denen eine besondere Fahrfertigkeit gefragt ist, sondern solche, in denen es auf die Urteilskraft oder allgemeine Lebenserfahrung des Fahrers ankommt. Was tun, wenn es dem Kind auf dem Rücksitz schlecht geworden ist, wenn die Strasse bei Regen nicht nur einfach nass ist, sondern aufgrund eines Sturms überflutet ist, etc. Fährt man weiter, kehrt man um, ... ?
Wie unterscheidet sich die Forschungsarbeit an visuellen Systemen für automatisiertes Fahren in Europa von der in Korea?
Europa hat beim automatisierten Fahren sicher einen Vorsprung, da schon seit Jahren die technologischen Grundlagen im Rahmen von Forschungsprojekten konsequent gefördert und von anwendungsnahen Vorentwicklungsprojekten in der Automobilindustrie begleitet wurden. Allerdings geht Europa etwas vorsichtiger an das Thema heran, um sicherzustellen, dass die Gesellschaft keinen unkontrollierten Risiken ausgesetzt wird. Um die Einführung von automatisiertem Fahren zu ermöglichen, muss nicht nur die Technologie zur Reife gebracht werden, sondern es muss auch Verkehrs-Infrastruktur aufgebaut, ein verbindlicher rechtlicher Rahmen geschaffen und eine Versicherungsordnung verabschiedet werden. Letztlich muss in Europa auch ein Konsens zwischen den Mitgliedstaaten erreicht werden, was den Prozess noch etwas verlangsamen kann. Korea hat hier sicher einen Vorteil, da die Regierung leichter Entscheide für ihr eigenes Land fällen kann. Zum Beispiel hat sie im Oktober 2019 – mit starker Unterstützung der Industrie – eine Initiative für das automatisierte Fahren verabschiedet, die eine koordinierte Investition in alle oben genannten Industrie- und Gesellschaftsbereiche vorsieht, um Korea an die Spitze des weltweiten automatisierten Fahrens zu bringen.
Wird dabei auch Künstliche Intelligenz eingesetzt?
Ja, natürlich wird auch in Korea KI stark eingesetzt. Bezüglich der Kernthemen ist die Forschungslandschaft auf der ganzen Welt sehr ähnlich. Unterschiedlich sind die Investitionssummen sowie der Grad der Konvergenz zwischen Arbeiten an Universitäten, Forschungsinstituten, der Automobilindustrie, der Infrastrukturentwicklung und gesetzlichen Regelungen. Auch hier anfangs etwas im Rückstand, hat die koreanische Regierung 2018 eine Initiative gestartet, um in diesem Bereich zu den führenden Nationen aufzuschliessen.
Wann kommt das automatisierte Fahren in der Massenproduktion an?
Wahrscheinlich nicht vor 2025. Bis dann wird es in kleineren Stückzahlen automatisierte Fahrzeuge, beispielsweise als Teile von automatisierten Taxi-Flotten, sogenannte Robotaxis, geben, die in eingeschränkten Gebieten und unter eingeschränkten Bedingungen betrieben werden. Die Kosten für solche Systeme müssen noch gewaltig gesenkt werden, bis sie für Privatpersonen erschwinglich sind.
Und zum Schluss: Fahren Sie lieber selbst oder hätten Sie gerne ein autonomes Auto für den privaten Bedarf?
Ich würde mich über ein autonomes Auto sehr freuen. In vielen Situationen – im Stau, abends nach einem langen Arbeitstag, oder wenn ich mich einfach mit anderen unterhalten möchte – würde ich gerne die Fahraufgaben meinem automatisierten Auto überlassen. Allerdings macht mir das Fahren ja auch Spass und ich möchte manchmal das Steuer gerne selber übernehmen. Mein automatisiertes Auto soll in diesem Fall weiterhin achtsam die Umgebung und mein Fahrverhalten überwachen und notfalls eingreifen, falls die Situation es erfordert.
Zur Person
Seit zwei Jahrzehnten befasst sich Gregory Baratoff mit der digitalen Bildverarbeitung und der Entwicklung von Kamerasensoren für die Automobilbranche. Vor über zwei Jahren verliess er Europa, um zum koreanischen Unternehmen Hyundai Mobis zu stossen, wo er nun das Autonomous Vehicles System Development Center leitet. Er ist einer der allerersten nichtkoreanischen Experten, die bei Hyundai Mobis ein Forschungs- und Entwicklungsteam führen. Im Interview zeigt Baratoff auf, welche technologischen Hürden es noch auf dem Weg zu selbstfahrenden Autos zu meistern gilt und welche kulturellen Unterschiede zwischen Europa und Fernost bei Fahrzeugherstellern bestehen.
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