Fachartikel IT für EVU

Erfolgreiches Management der digitalen Transformation

Die digitalisierte Versorgungswirtschaft – quo vadis?

18.12.2016

Die zunehmende Dynamisierung des Marktes erfordert von allen Marktplayern mehr Effizienz und Qualität, aber auch veränderte Kompetenzen im Management von Produkten, Mitarbeitern und Kunden. Die Digitalisierung wird von den Stakeholdern der Versorgungswirtschaft erwartet – und sie eröffnet eine Vielzahl neuer Chancen. Diese werden anhand von Beispielen aus der Versorgungswirtschaft untersucht. Es werden wichtige Erkenntnisse abgeleitet und in einen Ansatz für das Management der digitalen Transformation überführt.

Die Digitalisierung verändert alles – sie wird als vierte industrielle Revolution gehandelt und als Modewort verachtet. In einer Umfrage am Schweizer Stromkongress 2016 rechnen fast alle Befragten mit «massiven» Veränderungen in den kommenden Jahren. Zudem leben wir in einer Zeit des exponentiellen Fortschritts. Die Versorgungswirtschaft steht am Anfang dieser Veränderungen, bestätigt der digital.swiss-Index. So sind etwa die Interaktion mit Online-Kunden, der Einsatz smarter Geräte in Haushalten oder die Laststeuerung von Industrieanlagen noch wenig verbreitet. Weiter befeuert wird die Situation durch die Energiestrategie 2050, die Regulierung der Energiewende sowie veränderte Kundenansprüche, die zu einer zunehmend dezentralen Versorgung und dynamischen Beanspruchung der Infrastruktur führen (vgl. Bild 1).

In diesem Zusammenhang nimmt die Digitalisierung mehrere Rollen ein. Sie ist zum Enabler (Befähiger) für die Weiterentwicklung der Versorgungswirtschaft geworden. Ebenfalls ermöglicht sie digital orientierten Start-ups sowie ehemals branchenfremden Konzernen wie Tesla und Google, in den Energiemarkt einzutreten. Insbesondere jedoch bietet die Digitalisierung viele Chancen für die bestehenden Akteure.

Chancen der digitalen Transformation

Die Chancen für die Transformation der Versorgungswirtschaft lassen sich in drei Ebenen unterscheiden (vgl. Bild 2). Auf jeder Ebene hat die Digitalisierung eine andere Wirkung.

Ebene 1 beschreibt die Optimierung bestehender Prozesse, wie beispielsweise die datengestützte Verlängerung von Wartungszyklen durch den Einsatz mobiler Geräte bei Instandhaltung – und die daraus resultierende Kostenreduktion.

Ebene 2 beschreibt den Einsatz digitaler Technologien zur Gestaltung der Kundeninteraktion, wie beispielsweise die zielgruppengerechte Betreuung über ein Portal sowie die effiziente Vermarktung neuer Produkte und Services. Besonders der Aufbau der neuen Rollen im Business (z.B. Produktverantwortlicher) sowie eines bereichsübergreifenden Verständnisses (u.a. Kundenorientierung und «Daten als Asset») sind wesentlich für den Erfolg.

Ebene 3 beschreibt die Realisierung neuer Geschäftsmodelle, wie beispielsweise den Aufbau einer Komplettlösung für das dezentrale Energiemanagement. Damit können Verbraucher und Produzenten die Produktion und den Verbrauch in Echtzeit über Smart Meter beobachten sowie Präferenzen für den Kauf und Verkauf von Strom festlegen. Der Abgleich von Geschäften über die Plattform sowie die Abwicklung und Steuerung der Lieferung erfolgt vollautomatisch.

Unsere Erfahrungen zeigen, dass die Transformationstiefe und -komplexität entlang der Ebenen steigt und daher eine stufenweise Entwicklung sinnvoll ist. Effiziente Prozesse und eine ansprechende Kundenschnittstelle sind zentral für die Realisierung neuer Geschäftsmodelle. Diese «indirekten» Voraussetzungen befähigen Versorger, (noch) «nicht digitalisierte Daten» in zunehmendem Umfang und auf vielfältige Art und Weise nutzbar zu machen.

Interessanterweise wird die Digitalisierung meist von der internen IT «bottom-up» (45 %) oder der Geschäfts­führung «top-down» (43 %) vorangetrieben.1) Weit seltener sind, mit 27 %, bzw. 24 %, Marketing, Vertrieb und Finanzen die Initiatoren. Andere Fachbereiche verhalten sich häufig noch passiv, wodurch die erforderlichen Impulse ganz ausbleiben. Die Gefahren eines überwiegend technisch getriebenen Ansatzes liegen in sich nicht-tragenden Business Cases. Wird der Wandel hingegen von der Geschäftsführung «verschrieben», leiden die Vorhaben an Mitarbeitermotivation, Know-how-Problemen oder sind nicht realisierbar. Wie also lässt sich die digitale Transformation erfolgreich umsetzen?

Erkenntnisse aus Praxisbeispielen

Die erfolgreiche Digitalisierung der Versorgungswirtschaft setzt ein tiefes Verständnis der bestehenden Geschäftsmodelle und eine hohe Technologie-Kompetenz voraus. Die Begleitung und Realisierung vieler Projekte ermöglicht eine Bewertung unserer Erfahrungen, aus welchen sich wichtige Rückschlüsse ziehen lassen.

In Tabelle 1 werden auszugsweise sechs Praxisbeispiele aus dem deutsch­sprachigen Raum erläutert. Für jede der vorgestellten Ebenen finden sich zwei Beispiele. Die Beschreibung umfasst die jeweilige Zielsetzung sowie die erzielten Ergebnisse und Erkenntnisse.

Insgesamt lassen sich sieben wichtige Rückschlüsse für die digitale Transformation der Versorgungswirtschaft ziehen (vgl. Bild 3):

  • Zunächst ist es wichtig, die Digitalisierung überlegt anzugehen. Nicht selten werden einzelne Initiativen ohne Bezug zum gesamtunternehmerischen Schwerpunkt initiiert, was zu lokalen (Silo-)Optimierungen führen kann und später Mehraufwände verursacht oder zusätzliche Komplexität sowie Einschränkungen bedingt. Bei einigen Beispielen wurde der Schwerpunkt der Digitalisierungsstrategie daher zunächst auf die Optimierung der Netzwirtschaft und bestehender Geschäftsprozesse gelegt. Zudem wurden die Kundenbedürfnisse berücksichtigt.
  • Eine starke Kundenfokussierung und -integration bei Produkt- und Dienstleistungsentwicklung führt zu mehr Innovation, Wirtschaftlichkeit und nachhaltigerem Erfolg. Dabei können interne, sogenannte «Product Owner» die Interessen der Kunden bei Umsetzungsprojekten vertreten.
  • Das hierfür genutzte agile Projektmanagement und schnelle Prototyping von Ideen wurde meist mit grossem Erfolg angewendet. Besonders geeignet sind diese Methoden zur raschen Entwicklung von nutzbaren Minimalprodukten. Mit diesen lassen sich zügig Erfahrungen sammeln, die Entscheidungen ermöglichen und Finanzrisiken reduzieren. Die Methoden werden häufig auch auf der Ebene «Digital Operations» eingesetzt.
  • Eine möglichst durchgängige Prozessdigitalisierung, besonders an der Kundenschnittstelle, ermöglicht einen deutlich effizienteren Ressourceneinsatz und wird den neuen Kundenanforderungen besser gerecht. Die damit einhergehende Vereinfachung von Informationsmanagement und Dokumentenverwaltung ermöglicht es den Mitarbeitenden, die Vorgänge schneller und qualifiziert zu bearbeiten.
  • Das vielzitierte Auflösen von «Silos» führt nach unseren Erfahrungen zu einer stark erhöhten Umsetzungsstärke und -geschwindigkeit sowie zur Flexibilisierung von Prozessen. Mit der Schaffung eines durchgängigen Datenverständnisses kann die Grundlage für einen Kulturwandel gelegt werden. Zu Beginn des Praxisbeispiels A war beispielsweise nicht durchgängig bekannt, welche Daten in welcher Form, zu welchem Zweck, in welchen Systemen verfügbar sind. Der hierdurch gesteigerte Analyseaufwand wurde genutzt, um gleichzeitig eine kollaborative Arbeitskultur sowie digitale Kompetenzen mit Bezug auf die Bedeutung von Daten zu schaffen.
  • Der Ausbau von Kooperationen und Partnerschaften mit Dritten ermöglicht den kurzfristigen und flexiblen Aufbau benötigter Kompetenzen. Die Digitalisierung fordert die unternehmensübergreifende Arbeitsteilung und die Integrationskompetenz stärker als bisher. Die Transparenz über verfügbare Produkte und Dienstleistungen ist enorm gestiegen – und die technische Zusammenarbeit aufgrund weitreichender Standardisierung und definierter Schnittstellen ist einfacher geworden. Dadurch können Versorger ihre Investitionen niedrig halten und den «Trial-and-Error»-Ansatz beispielsweise mittels agiler Methoden ohne hohe Risiken verfolgen. Alle sechs Praxisbeispiele profitierten von flexiblen Kooperationen und Partnerschaften.
  • Ebenfalls bei fast allen Praxisbeispielen erweist sich der hohe Wert von Daten als «Rohstoff» des digitalen Zeitalters. Bereits heute verfügen Energielieferanten, Netz- und Messstellenbetreiber sowie Energiehändler über einen enormen Datenschatz. Obwohl mittels «Business Analytics» und «Big Data» heute Daten vergleichsweise schnell vernetzt werden können, findet die Entwicklung innovativer neuer Geschäftsmodelle meist immer noch in Start-ups statt. Deren Erfolgsrezept beruht oft auf der konsequenten Kunden- bzw. Nutzenfokussierung. So sollte die Datenanalyse nicht dem Selbstzweck dienen, sondern auf das passende Kundensegment zugeschnittene Angebote und Dienstleistungen ermöglichen. Ein Kundenwertmodell und die Vorhersage von Abwanderungen lassen sich nutzen, um mit gezielten und individuell zugeschnittenen Ansprachen über digitale Kanäle die Kundenbindung nachhaltig zu stärken (vgl. Beispiel B bis F).

Ansatz für das Management der digitalen Transformation

Was bedeuten diese Erkenntnisse für die digitale Transformation? Wie geht man vor?

Etablieren einer Digitalisierungsstrategie

Die vorhergehenden Ausführungen verdeutlichen die übergreifende Veränderung der Wertschöpfungskette. Rasch sind viele Unternehmensbereiche betroffen. Im Fokus steht das Ziel, die «Silos» zu überwinden und sich dank eines durch­gängigen Datenverständnisses und der Flexibilisierung von Prozessen hin zu mehr Umsetzungsstärke und -geschwindigkeit zu transformieren. Aus den Eckpunkten der Strategie leiten sich die Schwerpunkte für den Technologie-Einsatz und für die (Kunden-)Positionierung ab. Die Rolle der IT ist zu schärfen. Diese wird sich vom «Do-it-yourself»-Bereich zum «Service-Integrator» entwickeln, um eine höhere Qualität und Flexibilität bei gleichzeitig erhöhter Effizienz zu erreichen.

Schaffen neu benötigter Kompetenzen

Klassische IT-Strukturen und Abläufe werden darauf ausgerichtet, Geschäfts­prozesse zu automatisieren und zu rationalisieren. Hierzu arbeitet die IT häufig reaktiv zu Fachbereichen. Der klassische Ansatz «Plan-Build-Design» scheint ungeeignet, um die im vorhergehenden Kapitel identifizierten Rückschlüsse voll­ständig zu adressieren. [1] Vielmehr gewinnen neue Kompetenzen an Bedeutung (vgl. Tabelle 2).

Umsetzen eines Digitalisierungsprogramms

Alle Massnahmen rund um die Digitalisierung werden als Programm betrachtet. Differenzieren lässt sich das Vorgehen in:

  • Optimierung bestehender Geschäftsprozesse
  • Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen (vgl. Bild 4).

Die Unterscheidung erfolgt, um Schwerpunkte in der Zuweisung der Mittel zu setzen – und um verschiedenen Umsetzungsgeschwindigkeiten und Aktivitäten zu berücksichtigen.

Schlussfolgerungen und Ausblick

Der Wandel der Versorgungswirtschaft ist nicht aufzuhalten, und deren Digitalisierung spielt eine entscheidende Rolle. Sie ist zugleich Voraussetzung und Schlüssel für ein zuverlässiges und dezentrales Energiesystem. Zur Umsetzung wachsen Energie und IT in Form neuer und ergänzender Produkte und Dienstleistungen immer weiter zusammen. Die aktive Gestaltung und das zukünftige Management dieser Produkte und Dienstleistungen sind folglich von grosser Bedeutung für alle Marktteilnehmer. Klassische Versorger konkurrieren auf der Suche nach neuen Ideen und Geschäftsmodellen zunehmend mit Energiedienstleistern und branchenfremden Neueinsteigern. Zusätzlich wirkt die wachsende «digitale Macht» der Kunden in Form nie dagewesener Transparenz, erwarteter «Sofortness» und «digitaler Ungeduld». Diese digitale Transformation der Kommunikation beeinflusst das Kaufverhalten der Menschen. Sie orientieren sich zunehmend an Software, Dienstleistungen und Plattformen, nicht mehr an Hardware. Dem Energiekunden werden Flexibilität, Kontrolle, Steuerung und Interaktivität immer wichtiger.

Nun gilt es für Versorger, mit den richtigen Mitteln und Ressourcen frühzeitig herauszufinden, welche innovativen Technologien welches Nutzenpotenzial bieten und wann der richtige Investitionszeitpunkt ist. Besonders erfolgreich ist, wer mit Piloten arbeitet und in kleinen, agilen Schritten vorgeht. Richtig eingesetzt lassen sich gleichzeitig Einsparungen auf die Gesamtkosten erzielen (d.h. Prozesse und IT).

Von herausragender Bedeutung ist es, dem strategiekonformen Business Case von Beginn an eine hohe Aufmerksamkeit zu schenken. Dieser sollte mit Anwendungsfällen getestet und rasch als «Minimalprodukt» umgesetzt werden. Das so erlangte Wissen (u.a. Kundenfeedback) kann gezielt in die Weiterentwicklung einfliessen.

Versorger, die das Potenzial der «Datenfabrik» erkennen und nutzbar machen, werden neue und langfristig abgesicherte Ertragsquellen generieren.

 

Referenzen

[1] Koch Petra, Frederik Ahlemann, and Nils Urbach. «Die innovative IT-Organisation in der digitalen Transformation.» Managementorientiertes IT-Controlling und IT-Governance. Springer Fachmedien Wiesbaden, 2016. 177-196.

 

Autor
Christian Beyeler

ist Head of Business Services bei der Avectris.

  • Avectris AG, 5401 Baden
Autor
Dr. Jens Bartenschlager

ist Associate Partner bei The Advisory House in Zürich.

  • The Advisory House AG
    8002 Zürich

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