Fachartikel Energieeffizienz , Infrastruktur

System-basiertes Prüfen

Zuverlässiges Schutzsystem als Ziel

22.02.2019

In den letzten Jahren entwickelte sich das Internet zu einem wichtigen Teil unseres Alltags. Damit wuchs auch die nötige Infrastruktur. Die wachsende Nachfrage nach Cloud Services führte zum Bau eines zentralen Rechenzentrums in der Schweiz mit einer Fläche von 23000 m². 24 Notstromag­gregate von je 3 MVA gewährleisten den möglichst unterbrechungsfreien Betrieb.

Der Betrieb der weltweiten Internet-Infrastruktur erfordert unter anderem die Versorgung mit einer nicht unerheblichen Menge an Energie, die zuverlässig bereitgestellt werden muss. Schätzungen zufolge sind 8% des gesamten Energieverbrauchs in der Schweiz auf die Nutzung des Internets zurückzuführen.

Aufgrund der empfindlichen Systeme für die Cloud Services erfordert der Betrieb des Rechenzentrums eine hochverfügbare Stromversorgung. Bild 1 zeigt das Stromnetz mit den beiden 40-MVA-Leistungstransformatoren, die zwei in die Kundenstation führenden Mittelspannungskabel und die Sammelschienenkupplung im Detail. Ursprünglich war geplant, nur mit einem ankommenden Kabel, für den Fall eines Spannungsverlustes, eine Umschaltung durchzuführen. Dieses Konzept wurde jedoch verworfen und so überarbeitet, dass sowohl die Sammelschienen als auch die Einspeisungen über beide MS-Kabel verbunden sind. Das zog eine komplette Überarbeitung der Schutzeinstellungen nach sich. Dieser komplexere Aufbau und die vielen unterschiedlichen, an der Planung und Inbetriebnahme beteiligten Anbieter veranlassten den Netzbetreiber, vor der Inbetriebnahme der Station einen systembasierten Test zur Validierung der Selektivität unter verschiedenen Bedingungen durchführen zu lassen.

Versuchsaufbau

Die Übergabe zwischen den Anbietern bei den jeweiligen Prozessschritten innerhalb eines solchen Projekts ist immer ein komplexer und kritischer Vorgang. Nicht selten kommt es hier zu Fehlern, die dann bis zum Abschluss des Projektes durchgezogen werden. Diese Fehler bleiben oft unentdeckt, weil sie sich ausserhalb des Rahmens jeder einzelnen Prüfaufgabe bewegen. Deshalb ist ein abschliessender systembasierter Test, der unterschiedliche Fehlerszenarien im Stromnetz simuliert und das Verhalten des Schutzsystems überprüft, ein empfehlenswerter Abschluss der Inbetriebnahme. Auf diese Weise lässt sich überprüfen, ob der Schutz seine Aufgabe für reale Szenarien erfüllt. Idealerweise werden grössere Teile des Schutzsystems durch gleichzeitige Einspeisung (Ströme und Spannungen) geprüft, sodass zum Beispiel die Selektivität zwischen den Relais direkt beurteilt werden kann.

Bei Verwendung eines konventionellen Werkzeuges, wie Omicron Test Universe, gilt es einige Punkte zu beachten:

  • Der Kurzschluss- und der Erdschluss­strom müssen für jeden Fehlerfall berechnet werden.
  • Die Impedanz des Netzwerks muss für die jeweilige Netzwerkkonfiguration berechnet werden.
  • Für jeden Einspeisepunkt muss eine Prüfdatei erstellt werden.
  • Da jedes Prüfgerät von einem PC gesteuert wird, können die Prüf­ergebnisse erst nach Abschluss aller Prüfungen interpretiert werden.

Deshalb wurde zum Abschluss der Inbetriebnahme des Cloud-Services-Rechenzentrums RelaySimTest als Werkzeug für systembasierte Prüfungen eingesetzt, das eine transiente Netzsimulation verwendet und in der Lage ist, mehrere Prüfgeräte synchron zu steuern.

Testvorbereitung

Für die Durchführung eines systembasierten Tests ist die Vorbereitung essenziell, bei der noch einige zusätzliche Überlegungen einzubeziehen sind. Im Vergleich zu einer herkömmlichen Prüfung von Relais, bei der während der Inbetriebnahme im Wesentlichen nur auf die Relaiseinstellungen fokussiert wird, erfordert eine systembasierte Prüfung den Aufbau eines Netzmodells mit den Daten des zugrundeliegenden Energienetzes:

  • Kurzschlussleistung der Einspeisung
  • Typenschild des Leistungstransformators
  • Kapazitiver Reststrom
  • Länge der Kabel und Kabelimpedanz

Nach Eingabe dieser Daten in das Netzmodell des Energiesystems ist die Erstellung eines Prüffalls sehr einfach. Um für die beschriebene Aufgabe den Feldtest so effizient wie möglich zu gestalten, wurden im Vorfeld kritische Prüffälle identifiziert.

Bei RelaySimTest können alle Prüfgeräte von nur einem PC aus gesteuert werden. Dazu ist eine Kommunikation zwischen den Prüfgeräten und dem PC erforderlich. In diesem Feldtest wurde dazu ein separater Kommunikationskanal zwischen den jeweiligen Unterstationen verwendet. Alternativ lässt sich auch eine mobile Internetverbindung einsetzen. Um sicherzustellen, dass die transienten Signale auf jedem Prüfgerät gleichzeitig eingespeist werden, wird jedes Prüfgerät über eine GPS-Uhr (CMGPS588) synchronisiert.

Durchführung der Prüfung und Fehleridentifizierung

Die Durchführung der Prüfung erfolgte über einen Zeitraum von zwei Tagen. Dazu wurde der Prüfplan in sechs Hauptprüffälle gruppiert (Bild 3):

  • (1) Fehler auf dem Einspeisekabel J52
  • (2) Fehler auf Sammelschiene 1
  • (3) Fehler auf dem Abgang G03
  • (4) Fehler in der Kopplung
  • (5) Fehler auf dem Abgang L03
  • (6) Fehler auf dem Einspeisekabel J51

Jeder Prüffall wurde mit offener oder geschlossener Sammelschienenkopplung und mit unterschiedlichen Fehlerschleifen durchgeführt. Dies ergab mehr als 50 Prüfschritte.

 

Im Laufe der Durchführung der Prüfung konnten alle Leiterfehler gemäss dem vorgeschlagenen Schutzkonzept beseitigt werden. Bei Erdschlüssen scheiterten jedoch einige der Prüfungen, abhängig von der jeweiligen Vorgehensweise.

Das Schutzkonzept definiert die Einstellungen des Erdschlussschutzes wie folgt:

  • Aufgrund der Höhe des kapazitiven Stroms ist eine Auslösung im Falle eines Erdschlusses erforderlich. Für alle Einspeisungen wurde der Erdschlussschutz auf den gleichen Schwellwert eingestellt.
  • Die zeitliche Abstufung des Erdschlussschutzes wurde so ausgelegt, dass die Versorgung mit einer oder beiden Einspeiseleitungen im Betrieb und bei geöffneter oder geschlossener Sammelschienenkopplung möglich ist.

Das Schutzkonzept definiert eindeutig die Zeiteinteilung für den Erdschlussschutz.

Während der Prüfung wurde die Sammelschienenkupplung unselektiv ausgelöst. Bild 6 zeigt die Positionen der Leistungsschalter nach der Einspeisung von Erdschlüssen an unterschiedlichen Stellen.

Der Vorteil der systembasierten Prüfung besteht darin, dass sie einen ganzheitlichen Überblick über das gesamte Schutzsystem bietet und dass sich inhärente Fehler sehr schnell auffinden lassen. Im beschriebenen Fall der Inbetriebnahmeprüfung der hochverfügbaren Stromversorgung für das Cloud-Services-Rechenzentrum in der Schweiz wurden die Auslösezeiten an der Sammelschienenkopplung fehlerhaft parametriert: für die Leiter-­Erde-Schleife auf 0,2 s statt 0,4 s. Je nach Betriebszustand kann diese Abweichung im Falle eines Erdschlusses zum Verlust der Versorgung für die Hälfte der angeschlossenen Verbraucher führen.

Zusammenfassung

Bevor ein Umspannwerk in Betrieb genommen wird, sind konventionelle Relaisprüfungen für die einzelnen Einspeisungen weiterhin erforderlich. Während jedoch die meisten einzelnen Schutzelemente in diesem System gut etabliert und geprüft sind, ist es das Zusammenwirken des Gesamtsystems, das bei den Prüfungen zusätzliche Aufmerksamkeit erfordert. Auch hier gilt: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner einzelnen Teile. Die Ergänzung herkömmlicher Prüfungen durch systembasierte Prüffälle hat sich als einfaches, aber leistungsstarkes Werkzeug erwiesen, mit dem sich nachweisen lässt, dass ein Schutzsystem als Ganzes wie vorgesehen funk­tioniert. Selbst bei Netzen, die eher einfach gehalten werden, steckt der Teufel oft im Detail. Im hier vorgestellten Beispiel sind Konfigurationsfehler durch die herkömmliche Prüfung nicht zutage getreten, was zu einem schwerwiegenden (Teil-)Ausfall mit potenziell hohen Folgekosten für das Rechenzentrum hätte führen können.

Die systembasierte Prüfung erwies sich in letzter Instanz als Sicherheitsnetz, das sicherstellen konnte, dass alle vorher nicht erkannten Fehler aufgedeckt wurden und das Schutzsystem nach Abschluss der Inbetriebnahme unter allen denkbaren Betriebsbedingungen funktioniert.

Autor
Christopher Pritchard

ist Produktmanager für Applikationssoftware im Schutzprüfbereich.

  • Omicron, AT-6833 Klaus
Autor
Frédéric Barré

ist technischer Leiter bei Cottens & Badoux Energie Services SA.

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