Fachartikel Erneuerbare Energien , Konventionelle Kraftwerke , Sicherheit

Studie zu Erdrutschen bei Staumauern

Sicherheit von Stauanlagen

17.04.2023

Die Forschung zur Sicherheit von Stau­anlagen ist eine Dauer­aufgabe. Eine neue Studie der ETH Zürich hat nun untersucht, ob Erd­rutsche als Folge von Erd­beben zu einem Über­strömen von Stau­mauern und einer Gefährdung der talabwärts leben­den Menschen führen könnten. Die Ergebnisse der Fall­studie an einer Tessiner Stau­anlage sind erfreulich.

Wer die Gefahren der Berg­welt unterschätzt, bezahlt mitunter ein hohes Lehrgeld. Das gilt auch für die Erbauer von Stau­anlagen in den Alpen. Beim Bau des Damms für den Mattmark­stausee im Walliser Saastal forderte im August 1965 ein Abbruch von Teilen des Allalin­gletschers das Leben von 88 Arbeitern. Noch verheerender war die Katastrophe, die sich am 9. Oktober 1963 im Nordosten Italiens beim Vajont-Stausee ereignet hatte: Bei einem Erdrutsch stürzten 270 Mio. Kubikmeter Gestein – fast das Doppelte des Stau­volumens – in den gefüllten Stausee. Eine gewaltige Flut­welle schwappte über den Stau­damm und riss talabwärts im Städtchen Longarone und weiteren Ortschaften rund 2000 Menschen in den Tod, ohne dass die 260 m hohe Staumauer erheblichen Schaden nahm.

Mögliche Gefahr durch Erdbeben

Spätestens seit diesem Unglück sind die Gefahren bekannt, die von Erd­rutschen bei Stau­seen ausgehen. Um solche Katastrophen zu vermeiden, werden heute Gefahren­stellen überwacht. Dazu gehören sogenannte Kriech­hänge: Das sind Erd­massen aus Locker­gestein, die sich pro Jahr wenige Zentimeter bis mehrere Meter talwärts bewegen. Gefährlich wird es, wenn sich ein Kriech­hang in einen Erd­rutsch verwandelt und das Gestein schlagartig in den Stau­see stürzt und dort eine Flut­welle erzeugt. Entlang der gut 200 Schweizer Stau­seen gibt es nach Auskunft von BFE-Fachpersonen rund ein Dutzend Kriech­hänge von nennens­werter Grösse. Diese werden heute mit erd- und satelliten­gestützten Monitoring­systemen überwacht, um gefährliche Entwicklungen frühzeitig zu erkennen. Zudem wird die Gefahr, die von den Kriech­hängen für die Sicherheit der Stau­anlagen ausgeht, regelmässig durch Fachleute beurteilt. Hierzu werden auch Berechnungen an geo­technischen und hydraulischen Modellen verwendet.

In den letzten Jahren richteten Sicherheits­verantwortliche ihre Aufmerksam­keit zunehmend auf die möglichen Gefahren, die von Erdbeben für Stau­anlagen ausgehen. Vor gut fünf Jahren initiierte Markus Schwager, Leiter des BFE-Forschungs­programms Stau­anlagen­sicherheit, zusammen mit Alexander Puzrin, Professor am Institut für Geotechnik der ETH Zürich, eine wissenschaftliche Untersuchung zum Thema. Seither ging Bau­ingenieur Marc Kohler in seiner Doktor­arbeit der Frage nach, ob Erdbeben das Gefahren­potenzial von Kriech­hängen vergrössern und ggf. eine bisher unterschätzte Gefahren­quelle für Flut­wellen darstellen. Die Ergebnisse des vom BFE unterstützten Forschungs­projekts liegen seit Frühjahr 2023 vor.

Hänge kriechen talwärts

Der zentrale Befund der Studie: Es deutet nichts darauf hin, dass die Gefährdung durch Erdbeben bislang unterschätzt wird. Eher gilt das Gegenteil: Für den Kriechhang an der Flanke des Tessiner Luzzone-Stausees, der im Zentrum der Studie stand, ist die Gefahr sogar geringer als bisher angenommen. «Werden konventionelle Berechnungs­verfahren auf Kriech­hänge angewandt, ist bereits bei Erdbeben mittlerer Stärke von einer grossen Gefährdung durch Flut­wellen auszugehen. Wir konnten jedoch zeigen, dass auch für starke Erdbeben solch ein Szenario unwahrscheinlich ist», fasst Kohler das Haupt­ergebnis seiner Studie zusammen.

Die Einschätzung des ETH-Wissenschaftlers beruht auf Computer­simulationen sowie Feld- und Labor­untersuchungen. Er entwickelte ein Modell, welches das Verhalten von Kriech­hängen im Erdbeben­fall und die dafür relevanten Einfluss­grössen abbildet.

Wurde für die Modellierung von Kriech­hängen früher die Newmark-Methode eingesetzt, die die Erdmasse eines Hangs als festen Block beschreibt, der auf einer schiefen Ebene nach und nach abrutscht, wird heute die deutlich genauere «Material Point Method» (MPM) herangezogen. Die Rutsch­masse, die stabile Unterlage sowie das Wasser des Stausees werden dabei in Millionen kleiner Elemente (sogenannte «Materialpunkte») zerlegt. Jedem dieser Elemente wird ein bestimmtes Material­verhalten zugeordnet, abhängig davon, ob es Fest- oder Locker­gestein oder Wasser repräsentieren soll. Mit dem Modell lässt sich nun simulieren, wie sich der Hang unter bestimmten äusseren Einflüssen wie Regen oder eben Erdbeben bewegt.

Von besonderem Interesse war die sogenannte Scherzone: Das ist jene geneigte Fläche, über die der Hang langsam talwärts «kriecht» – und die sich im ungünstigen Fall zu einer Gleit­fläche für einen Erdrutsch verwandelt. Scherzonen haben unter­schiedliche Material­zusammen­setzungen, sind oft aber charakterisiert durch die feinen Locker­gesteins­fraktionen aus Ton und Silt, welche eine Rutsch­bewegung begünstigen. Neben dem Material ist der Wasser­druck in der Scher­zone die zweite wichtige Einfluss­grösse: In regen­reichen Zeiten bewegen sich Kriech­hänge merklich schneller.

Scherbewegungen im Laborgerät

Was im Innern eines Kriech­hanges abläuft, lässt sich in der freien Natur schwer beobachten. Aber die Veränderungen in einer Scher­zone lassen sich im Labor mit einem speziellen Gerät experimentell nach­voll­ziehen: Das Ring­scher­gerät imitiert den Vorgang des Scherens, der in der Natur als lineare Bewegung abläuft, mit einer kreis­förmigen Bewegung. Dabei wird ein ring­förmiges Volumen mit der Material­probe gefüllt und anschliessend die untere Hälfte der Material­probe durch eine Dreh­bewegung gegenüber der oberen Hälfte der Material­probe verschoben.

Marc Kohler hat – gemeinsam mit einem Team des Instituts für Geotechnik der ETH Zürich – ein besonders leistungs­fähiges Ring­scher­gerät entwickelt. Mit ihm kann man besonders schnelle Scher­bewegungen, wie sie bei Erdbeben auftreten, untersuchen. Wurden mit früheren Geräten langsame Scher­geschwindigkeiten (0,01 bis 100 mm/Minute) erforscht, ermöglicht die neue Apparatur die Untersuchung von schnellen Geschwindigkeiten bis zu 1 m/s. Mit diesem Gerät untersuchte Kohler Material aus der Scher­zone eines Kriech­hangs an der Flanke des Luzzone-Stausees am oberen Ende des Tessiner Blenio­tals. Das fein­körnige Material – ein Gemisch hauptsächlich aus Silt und Sand – wurde mithilfe von Kern­bohrungen aus der Scher­zone entnommen.

Keine generelle Entwarnung

Die Labor­untersuchung und die Modellierungen mit den Proben aus Luzzone zeigen: Eine höhere Scher­geschwindigkeit führt nicht etwa – wie oft befürchtet – zu einer Abnahme des Wider­standes, sondern zu einer deut­lichen Zunahme. Dies hat zur Folge, dass bei starken Erdbeben (und der damit verbundenen höheren Kriech­geschwindigkeit) eine Art automatischer Brems­mechanismus wirksam wird, der die Rutschung schnell in den Ursprungs­zustand einer sehr langsamen Bewegung zurück­führt. «Die Gefahr, die von Erdbeben ausgeht, ist damit tendenziell geringer als bisher schon angenommen», sagt Marc Kohler. Diese Aussage beziehe sich auf den untersuchten Kriech­hang am Luzzone-Stausee, könnte tendenziell aber auch für viele andere, ähnlich aufgebaute Hänge gelten, betont der Wissen­schaftler.

Alexander Puzrin, der die Doktor­arbeit von Marc Kohler betreut, betont allerdings, die Erkenntnisse der neuen Studie dürften nicht als allgemeine Entwarnung verstanden werden. «Die Erkenntnisse zur Rutschung in Luzzone geben den aktuellen Wissenstand wieder. Geo­technische Problem­stellungen, wie die einer alpinen Rutschung, sind äusserst komplex. Die vorliegende wissen­schaftliche Arbeit beruht daher auf diversen Vereinfachungen und unterliegt grossen Unsicherheiten», sagt Puzrin. In künftigen Forschungs­projekten sollen unter anderem flache Hänge mit einer Scherzone aus feinem Ton­material genauer untersucht werden, da solche Materialien bei höheren Scher­geschwindigkeiten dazu tendieren, Widerstand zu verlieren.

Vergleich mit starken Erdbeben

Im Fall des Luzzone-Stausees zeigen die Messungen der letzten Jahre, dass gemessene schwache Erd­beben die Bewegung des Kriech­hangs nicht beschleunigt haben. Selbst von einem für die Schweiz ungewöhnlich starken Erd­beben ist laut Kohler gemäss aktuellem Wissens­stand keine Katastrophe zu erwarten. Das zeigen Modell­rechnungen, bei denen angenommen wurde, dass die Erde im Bleniotal so stark beben würde wie 2016 beim Norcia-Erdbeben in Italien (Magnitude 6,6) oder 1999 beim Chichi-Erdbeben in Zentral-Taiwan (Magnitude 7,3). In beiden Fällen wäre der Kriech­hang gemäss Computer­simulation nicht mehr als einen Meter talwärts gerutscht. Und die Wellen, die im Stau­see durch das Erd­beben bzw. das abrutschende Locker­gestein hervor­gerufen würden, hätten nicht die Gewalt, um eine nennens­werte Zerstörung hervor­zurufen.

Weitere Informationen

Auskünfte zu dem Projekt erteilen BFE-Projektleiter und , Leiter des BFE-Forschungs­programms Stauanlagen­sicherheit.

Weitere Fach­beiträge über Forschungs-, Pilot-, Demonstrations- und Leuchtturm­projekte im Bereich Wasser­kraft finden Sie hier.

 

Autor
Dr. Benedikt Vogel

ist Wissen­schafts­journalist.

  • Dr. Vogel Kommunikation
    DE-10437 Berlin

Kommentare

Bitte addieren Sie 4 und 6.