Fachartikel IT für EVU , Smart Grid

Stromflüssen auf der Spur

Projekte zur Simulation von Verteilnetzen

10.01.2017

Früher waren die Elektrizitäts­werke zufrieden, wenn ihre Verteil­netze alle Kunden erreichten und die Kabel den Leistungs­anfor­derungen genügten. Heute wollen Strom­versorger exakt wissen, was in ihren weit­läufigen Netzen vorgeht, vor allem um erneuerbare Energien sicher integrieren zu können. Dazu braucht es eine Messinfra­struktur – und Simulationen, die Netze und Strom­flüsse nachbilden. Das ETH-Spin-off Adaptricity hat sich auf die Entwicklung von Verteilnetz-Simulations­werkzeugen spezialisiert.

Smart Meter, wie sie heute oft in Haushalten und Firmen eingebaut werden, erfassen den Stromverbrauch typischerweise im 15-Minuten-Takt und können die Messwerte an das lokale Elektrizitätswerk übermitteln. Dieses benutzt die Daten der «intelligenten» Stromzähler zur Erstellung der Stromrechnung. Versorger können mit den Daten zudem den Betrieb ihrer Verteilnetze optimieren. Basel gehört neben Arbon (TG) zu den wenigen Regionen, die heute schon grossflächig mit Smart Metern ausgerüstet sind. Erik Rummer, Mediensprecher des Basler Energieversorgers IWB, sieht Vorteile für Kunden und Stromversorger: «Kunden, die noch einen alten Stromzähler haben, fordern wir einmal im Jahr auf, den Zählerstand abzulesen und an uns zu übermitteln. Diesen Aufwand können sich Kunden mit einem Smart Meter sparen», sagt Rummer und ergänzt: «Uns als Energieversorger ermöglichen Smart Meter künftig eine bessere Sicht auf die Netzsituation.»

Netzanalyse mit Smart-Meter-Daten

Smart Meter versprechen also Stromkunden wie Energieversorgern einen Mehrwert. Wie der Nutzen konkret aussieht, ist heute allerdings erst ansatzweise erkennbar. Viele Energieversorger klären zurzeit darum ab, wie sich Smart-Meter-Daten für den Betrieb des Verteilnetzes nutzen lassen. Im Rahmen eines gemeinsamen Pilotprojektes mit IWB analysierte die Zürcher Firma Adaptricity Datensätze, um mehr über den genauen Lastverlauf in Verteilnetzen zu erfahren. Hierbei werden die Daten pseudonymisiert verwendet. Dies bedeutet, dass kein Zusammenhang zwischen dem Kunden und dem Datensatz hergestellt ist. Die Vorgehensweise entspricht somit den Anforderungen des Datenschutzes und erlaubt keine Rückschlüsse auf das Verhalten bestimmter Kunden. Es geht vielmehr darum, genauere Informationen über die Auslastung des Verteilnetzes zu erhalten. «Wir wollen auf der Grundlage der Smart-Meter-Daten Analysen des Verteilnetzes erstellen», sagt Dr. Stephan Koch, 35-jähriger Mitbegründer von Adaptricity, einem Spin-off der ETH Zürich.

Adaptricity hat Verfahren entwickelt, die die Datensätze von Smart Metern nach Merkmalen ordnen können, z.B. nach ähnlichen Charakteristiken des Stromverbrauchs («Lastprofilen»). In einem zweiten Schritt wird dann versucht, aus einer Gruppe von Lastprofilen (z.B. eines Quartiers) Anforderungen an das Verteilnetz (z.B. technische Anforderungen an eine Trafostation) abzuleiten. Die Ergebnisse liefern, so die Hoffnung, Energieversorgern Erkenntnisse, die für den Betrieb des Verteilnetzes von Interesse sein können, denn der Stromversorger versteht besser, wo im Netz zu welcher Zeit wie viel Strom gebraucht wird.

Durch einen Abgleich dieser Daten mit anderen, öffentlich zugänglichen Datenbanken wie beispielsweise der Gebäudedatenbank des Bundesamts für Statistik können die bislang nur partiell vorhandenen Datensätze der Smart Meter auf das ganze Stadtgebiet extrapoliert werden. Der Energielieferant kann auf der Basis dieser Analysen bzw. aus dem Vergleich mit früheren Daten genauere und gezieltere Verbrauchsprognosen für den Folgetag erstellen. «Vorhersagen für den Verbrauch des gesamten Verteilnetzes sind zwar schon seit Langem möglich», sagt Stephan Koch, «aber dank unserer Simulation werden solche Voraussagen jetzt auf der Ebene einer Trafostation, also für ein Gebiet von zirka 100 Haushalten, möglich.» Diese Prognosegenauigkeit eröffne den Stromversorgern interessante neue Optionen, ist Koch überzeugt. Netzbetrieb, Ausbau und Wartung liessen sich genauer planen, ebenfalls die Beschaffung von elektrischer Energie am Strommarkt, so Koch.

Verteilnetze im Lot halten

Stephan Koch hat in Stuttgart Regelungs­technik studiert. Für seine Doktorarbeit wechselte er an das Labor für elektrische Energieübertragung und Hochspannungstechnik (EEH) der ETH Zürich. Dort entwickelte er zusammen mit seinen zwei Kollegen Dr. Andreas Ulbig und Dr. Francesco Ferrucci die Simula­tions­software. Anfang 2014 gründeten die Forscher das Spin-off Adaptricity. Unter­dessen besteht die Firma aus einem Team von (meist in Teilzeit tätigen) 15 Softwareentwicklern und Verkaufsprofis. Mittelfristig will Adaptricity den Verteilnetzbetreibern eine umfassende IT-gestützte Entscheidungshilfe für Netzplanung und -management zur Verfügung stellen. Zudem sollen die Produkte beim Nachweis der Notwendigkeit von Ausbau­massnahmen gegenüber den Aufsichts­behörden Anwendung finden. Bis zum kommer­ziellen Erfolg braucht Adaptricity einen langen Atem. Gegenwärtig wird das Unternehmen noch durch Kooperationsprojekte mit der ETH Zürich und anderen Forschungspartnern finanziert. Um auf dem Markt zu reüssieren, hat das Management die Firma vor Kurzem in eine Aktiengesellschaft umgewandelt und sucht zurzeit einen Investor für die Finanzierung des Wachstums.

Das Zürcher Jungunter­nehmen ist charakte­ristisch für einen sich wandelnden Energiemarkt. Der Ausbau der dezentralen Stromerzeugung beispielsweise mit Photovoltaik-Anlagen stellt die Betreiber von Verteilnetzen vor neue Herausfor­derungen. Sie müssen sicherstellen, dass die dezentrale Einspeisung die Netze nicht aus dem Lot bringt. Die Verstärkung – also der Ausbau – der Netze ist nur eine Option. Die Überlastung der Netze lässt sich produktionsseitig vermeiden durch temporäre Abregelung von PV- oder Windkraftwerken. Auf Seiten der Konsumenten kann der Stromkonsum zeitlich verschoben werden (Demand Side Management resp. Demand Response). Abhilfe können der Bau von dezentralen Netzbatterien oder Anpassungen der Netzinfra­struktur (z.B. regelbarer Ortsnetz­transformator, Blindleistungsregelung) schaffen. «Auch wenn der Regulator zurzeit noch nicht alle Möglichkeiten als Alternative zum Netzausbau akzeptiert, ist absehbar, dass eine gut durchdachte Kombination der verschiedenen Smart-Grid-Technologien entschei­dende Kostenvorteile hat. Für jeden Verteilnetz­bereich muss separat entschieden werden, welche Option die beste Lösung ist. Unsere Software hilft den Netzplanern, die richtige Wahl zu treffen und den Netzausbau, sofern nötig, möglichst schlank zu halten», sagt Koch.

Smart Grid im Realitätstest

Eine Anwendung der Simulationssoftware testet Adaptricity zurzeit in der Gemeinde Riedholz bei Solothurn aus. Dort wurden im Frühjahr 2016 40 Einfami­lienhäuser und Wohnungen im Versorgungsgebiet der AEK Energie AG mit Geräten ausgerüstet, die Wärmepumpen, Elektroboiler und Ladestationen zeitlich so steuern, dass das Verteilnetz stets optimal ausgelastet ist. Die Geräte basieren auf der GridSense-Technologie der Alpiq InTec AG – eine von mehreren Smart-Grid-Technologien, die zurzeit in der Schweiz in Pilot­projekten getestet werden (siehe Fachartikel «Augen im Stromnetz», Bulletin SEV/VSE 5/2016, S. 31). Das Projekt unter dem Namen SoloGrid wurde vom BFE als Leuchtturmprojekt ausgezeichnet. Landis + Gyr steuert die Mess­infrastruktur zu dem 18-monatigen Vorhaben bei, das BFE sowie der Kanton Solothurn leisten finanzielle Unterstützung.

SoloGrid validiert die GridSense-Technologie für verschiedene Betriebssituationen des Verteilnetzes und simuliert einen flächendeckenden Rollout der dezentralen Steuerungseinheiten über grössere Verteilnetzbereiche. Auch werden Zukunftsszenarien mit einem grösseren Anteil von Einspeisungen aus dezentralen Kraftwerken modelliert. «Das Projekt bietet eine interessante Ausgangslage, weil zwischen der Trafostation und dem Wohnquartier eine relativ grosse Distanz von mehreren Hundert Metern liegt. Das macht das Netz anfälliger für Spannungsprobleme durch PV auf dem Hausdach, als wenn die dezentrale Erzeugung nahe am Trafo angeschlossen wird», sagt Koch. Nach einer Pilotanwendung in Biel-Benken (BL) im EBM-Netz mit vier Häusern ist SoloGrid der erste grössere Testlauf für die GridSense-Technologie.

Automatisierte Verteilnetzplanung

Die zeitliche Verschiebung von Lasten ist nur eine Möglichkeit, um Stromverteilnetze für die künftigen Herausforderungen fit zu machen. Welche Konzepte für ein bestimmtes Netzgebiet am besten geeignet sind, müssen Netzplaner entscheiden. Möglicherweise nimmt ihnen aber auch künstliche Intelligenz und mathematische Optimierung diese Entscheidung ab. In diese Richtung arbeitet Adaptricity in einem Projekt der Kommission für Technologie und Innovation (KTI). Als Studienobjekt dient u.a. das Niederspannungsnetz der Elektrizitätswerke des Kantons Zürich (EKZ) in Dietikon. Dort wird am konkreten Beispiel untersucht, wie Verteilnetzbetreiber mit der wachsenden Zahl von PV-Anlagen und dem Bau von Parkhäusern für Elektrofahrzeuge umgehen können. Das zweijährige KTI-Projekt möchte nun bis Herbst 2016 klären, mit welchen Smart-Grid-Technologien sich im konkreten Einzelfall ein Netzausbau umgehen lies­se. Mittel zum Zweck ist eine IT-Lösung, welche die optimierte Investitionsentscheidung in der Verteilnetzplanung unterstützt. Neben KTI und Adaptricity sind die Firma Embotech, die Technologietransfer-Institution Inspire AG und die ETH Zürich an dem Projekt beteiligt.

Die Aufrüstung der Verteilnetze zu Smart Grids ist heute in aller Munde. Welche Geschäftsmodelle daraus für innovative Dienstleister wie Adaptricity erwachsen, müssen die nächsten Jahre zeigen. Die Schweizer Verteilnetzbetreiber haben hier vermutlich mehr Entscheidungsspielraum, da die Schweizer Verteilnetze robust ausgestattet sind und der Ausbau der dezentralen Energieerzeugung weniger schnell vorangeht als zum Beispiel in bestimmten Regionen Deutschlands. «Finanzielle Anreize, ein dynamisches, schlankes Netz zu bauen, sind in der Schweiz noch nicht da, weil die Kosten (für den Netzausbau) im Normalfall auf das Netzentgelt geschlagen werden können. Doch haben viele Netzbetreiber von sich aus die Grundhaltung, ein schlankes Netz zu bauen», sagt Koch. Die Netzbetreiber müssen sich hier aber ohnehin wappnen, denn die nächste Revision des Stromversorgungsgesetzes könnte genau die von Koch genannten Anreize mit sich bringen. Auch muss den Unternehmen an Geschäftsmodellen gelegen sein, die durch kluge Nutzung von Kundendaten in einer zunehmend digitalisierten Netzinfrastruktur einen Mehrwert generieren. «In diesem Umfeld positioniert sich Adaptricity als innovativer Technologieprovider, um die Strombranche auf dem Weg in die Digitalisierung zu begleiten», sagt Stephan Koch.

Funktionsweise der Software

Die Software DPG.sim (Distributed Prosumer and Grid Simulation) der Firma Adaptricity ermöglicht die virtuelle Nachbildung von Verteilnetzen. Die Simulationen beziehen sich typischerweise auf Netze, die ein Quartier oder eine Kleinstadt versorgen. Mit einer solchen Simulation lässt sich das Verhalten eines Netzes nachvollziehen. Es lässt sich ableiten, welche Auswirkung die Einspeisung einer PV-Anlage auf jeden Netzknoten hat oder wie gross Batteriespeicher dimensioniert werden müssen, um das Netz zu stabilisieren. Es können auch Endkundenmodelle erstellt werden, die zeigen, wann ein Eigenheimbesitzer mit einer PV-Anlage seine Wärmepumpe betreiben muss, um den Eigenverbrauch zu maximieren.

Simulationen von Adaptricity arbeiten nicht mit Echtzeit-Daten, sondern mit historischen Daten bzw. statistisch generierten Daten. Die Simulationen bilden zwar das Verteilnetz nach, nicht aber die Energieflüsse innerhalb eines Hauses, einer Wohnung oder eines Unternehmens. Hierin unterscheidet sich die Software von anderen Produkten wie Polysun, die das Energiesystem innerhalb eines einzelnen Verbrauchers modelliert, also das Stromnetz und Heizungsstränge innerhalb eines Hauses einschliesslich Produktions- und Verbrauchsgeräten wie Wärmepumpe oder Kühlschrank. (Siehe auch «Die richtige Batterie für Selbstversorger» unter www.bfe.admin.ch/CT/strom).

Autor
Dr. Benedikt Vogel

ist Wissen­schafts­journalist.

  • Dr. Vogel Kommunikation
    DE-10437 Berlin

Unterstützung durch BFE

Das Projekt SoloGrid gehört zu den Projekten, mit denen das Bundesamt für Energie die sparsame Energie­verwen­dung fördert und die Nutzung erneuer­barer Energien vorantreibt. Das BFE fördert Pilot-, Demonstra­tions- und Leucht­turm­projekte mit 40% der anrechen­baren Kosten. Gesuche können jederzeit eingereicht werden. Weitere Informa­tionen unter Pilot-, Demonstrations- und Leuchtturm­programm.

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