Strategische Entwicklung der Netze
Energie- und Verkehrswende
Die erwartete Durchdringung in den Niederspannungsnetzen mit Ladeinfrastrukturen für Elektrofahrzeuge, mit Wärmepumpen und mit PV-Anlagen stellt die Verteilnetzbetreiber künftig vor grosse Herausforderungen. Eine Analyse und eine strategische Entwicklung des Netzes sind nötig, um auch in Zukunft einen zuverlässigen Betrieb sicherstellen zu können.
Erste Auswertungen von Feldversuchen zeigen, dass zukünftig ein sicherer und zuverlässiger Netzbetrieb ohne vorausschauende Netzplanung und eine Laststeuerung zu Hochlastzeiten nicht möglich sein wird [1]. Zudem ist ein klassischer Netzausbau mit Blick auf die prognostizierten Leistungen im Jahr 2050 mit enormen zusätzlichen Kosten verbunden.
In Deutschland nimmt dieses Thema vom rechtlichen Rahmen her Gestalt an. Netzbetreiber sollen zur Vermeidung von kritischen Netzzuständen künftig Verbraucher mit einem maximalen Leistungsbezug von mehr als 3,7 kW, wie zum Beispiel Ladeinfrastrukturen, Wärmepumpen (WP) oder Batteriespeicher, aus der Ferne temporär reduzieren dürfen. Dies jedoch nur so lange, wie unbedingt notwendig, damit der Komfort der Kundschaft so wenig wie möglich eingeschränkt wird. Im Gegenzug erhält die Kundschaft einen pauschalen Rabatt auf das Netzentgelt. Dies sehen Pläne der Bundesnetzagentur vor, welche Ende November 2022 zur Diskussion gestellt wurden [2].
Vor diesen Hintergründen sind die St. Galler Stadtwerke (SGSW) die strategische Entwicklung der Niederspannungsnetze angegangen. Aufgrund des grossen Mengengerüsts der Netze galt es zunächst, klare Zielnetzvorgaben und betriebliche Vorgaben zu definieren. Danach wurden die potenziell schwachen und somit frühzeitig kritischen Netze identifiziert. In den nächsten Jahren müssen diese punktuell verstärkt und zur Beobachtung der Netzverhältnisse sowie zur Vorbereitung für eine Lastregelung mit Messtechnik ausgestattet werden.
Für die Analyse und zur strategischen Entwicklung von Niederspannungsnetzen wurden in den letzten vier Jahren von Siemens im Rahmen einer Vielzahl von Projekten mit deutschen Netzbetreibern Werkzeuge entwickelt [3 – 5], die im Verlauf des Projekts zum Einsatz kamen bzw. weiterentwickelt wurden.
Im Folgenden werden die Projektschritte bei der strategischen Entwicklung der Netze beschrieben.
Schritt 1: Stresstest für zehn Netze, Ableitung von Vorgaben
Die SGSW haben zunächst zehn repräsentative Niederspannungsnetze mit einer Bebauung mit Ein- und Mehrfamilienhäusern ausgewählt und im Netzberechnungsprogramm Neplan V10 aufbereitet. Neben der Anzahl Wohneinheiten wurde das technische Leistungspotenzial für den Anschluss einer WP und einer PV-Anlage aus einer vorab durchgeführten Potenzialanalyse für jeden Hausanschluss übernommen.
Diese Netze wurden einem Stresstest unterzogen, indem über Monte-Carlo-Simulationen die schleichende Zunahme der Durchdringung der Netze mit Ladeinfrastrukturen für Elektrofahrzeuge (EFZ), mit WP und PV nachgebildet wurde. Dazu wurden automatisiert in Zweijahresschritten jeweils 100 Lastflussberechnungen für unterschiedliche Verteilungen der Ladeinfrastrukturen, WP und PV durchgeführt und protokolliert. Die Simulationen können für verschiedene Last- und Erzeugertypen getrennt oder kombiniert durchgeführt werden. Eine Beschreibung des Stresstest-Ansatzes für EFZ ist in [3] wiedergegeben.
Bild 1 zeigt die Ergebnisse des Stresstests Elektromobilität für eines der repräsentativen Netze. Es ist zu erkennen, dass das Leitungsnetz im Jahr 2026 die Kritikalität von 1,0 übersteigt und somit kritisch werden wird. Bei Abregelung aller Ladeinfrastrukturen auf 3,7 kW bei Volldurchdringung der EFZ im Jahr 2050 würden weiterhin kritische Auslastungen auftreten.
Aus den umfangreichen Ergebnissen der zehn repräsentativen Netze wurden die folgenden Erkenntnisse und Zielvorgaben abgeleitet:
- Im städtischen Gebiet sind die Netze meist lastgeprägt. Auch bei hohem PV-Anteil bestimmt der Lastfall die Dimensionierung der Netze.
- Zur Vermeidung einer zeitlichen Überlagerung der Ladespitzen mit dem Betrieb der Wärmepumpen sollen Letztere beim Anschlussnehmer in Hochlastzeiten (Laden) verriegelt werden. Bei konsequenter Umsetzung dieser Massnahme ist das dimensionierende Szenario das Ladeszenario durch EFZ.
- Die Netze sollen so ausgebaut werden, dass mindestens bis 2032 bei ungeregelter Ladung keine kritischen Auslastungen auftreten. Dies entspricht nach dem angesetzten Hochlauf einer Durchdringung der Netze mit EFZ von knapp 25%. Zudem sind die Stromnetze unter Berücksichtigung des Regelkonzepts für die Lasten im Jahr 2050 auszulegen.
- Bis zum Jahr 2032 soll ein Regelkonzept etabliert werden, über das bei sich anbahnenden kritischen Auslastungen untergelagerte Ladeinfrastrukturen des betroffenen Stranges auf maximal 3,7 kW abgeregelt werden können.
- Der Engpass liegt meist im Leitungsnetz und nicht beim Trafo. Teilweise liegt er aufgrund von Querschnittsreduktionen z. B. nach einem Verteilkasten (VK) nicht im Abgangskabel aus der Trafostation (TS), sondern im Leitungsnetz. Bei der Netzentwicklung soll der Engpass zu den Abgangskabeln aus der Trafostation geführt werden, sodass zukünftig ein einheitliches Regelkonzept auf Grundlage der messtechnisch erfassten Abgangsauslastung etabliert werden kann.
- Für die PV-Einspeisung soll eine Spitzenkappung auf 70% eingeführt und der Leistungsfaktor auf 0,95 induktiv eingestellt werden.
- Eine vorausschauende Überwachung von Spannungsverletzungen ist mit intelligenten Zählern im Zuge des Smart-Meter-Rollouts zu etablieren.
Diese Zielvorgaben dienen als Input für die Kalibrierung eines Tools für die Prognose unter anderem von kritischen Situationen.
Schritt 2: Kalibrierung eines Prognose-Tools
Gemäss der Zielvorgabe sollen alle Netze, die vor dem Jahr 2032 potenziell kritisch werden, punktuell verstärkt werden. Die Analyse einer Vielzahl von Netzen mit dem Stresstest-Tool ist aufgrund des hohen Zeitaufwands nicht praktikabel. Um diesen zu minimieren, wird ein Prognose-Tool eingesetzt. Anhand der folgenden Netzstrukturmerkmale wird über einen formalen Zusammenhang eine Prognose der kritischen Hochlaufjahre für den Transformator und das Leitungsnetz abgeleitet.
- Anzahl Wohneinheiten (#WE)
- Anzahl Hausanschlüsse (#HA)
- Vorlast (SL)
- Bemessungsleistung der Trafostation (Sr,Tr)
- Anzahl der Abgänge von der Niederspannungshauptverteilung der Trafostation (#Abg)
- Bemessungsstrom des Standardabgangskabels (Ir,K)
- Unsymmetriefaktor des Netzes (kU, maximaler Abgangsstrom im Verhältnis zum Mittelwert der Abgangsströme).
Die daraus ermittelten Prognosen werden mit den Ergebnissen des detaillierten Stresstests verglichen. An- schliessend wird das Prognose-Tool so kalibriert, dass die Ergebnisse des detaillierten Stresstests und der Prognose minimal voneinander abweichen. Diese Vorgehensweise ist in [4] beschrieben. Die Kalibrierung des Prognose-Tools ist in Bild 2 schematisch dargestellt. Das Prognose-Tool ist als VBA in MS-Excel implementiert.
Für die betrachteten zehn repräsentativen Netze ist eine Gegenüberstellung der kritischen Hochlaufjahre von Prognose und detailliertem Stresstest in Bild 3 dargestellt. Die Ergebnisse decken sich in ihrer Qualität mit den in [4] bzw. [5] veröffentlichten Resultaten. Die berechneten Ergebnisse für die kritischen Hochlaufjahre aus dem Prognose-Tool und dem detaillierten Stresstest für die Transformatoren liegen aufgrund der nahezu identischen Berechnungsgrundsätze dicht beieinander. Minimale Unterschiede beruhen primär auf spannungsabhängigen Effekten, die im Prognose-Tool nicht berücksichtigt werden können. In den Leitungsnetzen stimmen die Ergebnisse ebenfalls gut überein. Allerdings ergeben sich beim Vergleich von Prognose und Stresstest grössere Abweichungen als bei den Transformatoren. Dies resultiert aus der individuellen Struktur der Leitungsnetze und der stets unterschiedlichen Abgangsauslastungen. Die geringfügigen Unschärfen sind jedoch für eine Prognose vertretbar.
Gemäss Prognose erfüllen alle Trafos in den untersuchten Netzen die aufgestellte Zielvorgabe, bis zum Jahr 2032 ohne Grenzwertverletzung zu funktionieren. In vier der zehn Leitungsnetze müssen jedoch zur Erfüllung dieser Zielvorgabe Netzmassnahmen durchgeführt werden, wobei Netz 01 im Vergleich zum detaillierten Stresstest zu kritisch beurteilt wurde.
Schritt 3: Anwendung des Prognose-Tools auf alle Netze
Das kalibrierte Prognose-Tool wurde auf alle Niederspannungsnetze der St. Galler Stadtwerke angewendet, wobei die oben beschriebenen erforderlichen Netzstrukturmerkmale erhoben wurden. Für den Unsymmetriefaktor, der selten vorliegt und nur über Messkampagnen bestimmt werden kann, wurde pauschal ein aus den repräsentativen Netzen abgeleiteter Wert von 1,6 angesetzt. Die zentralen Ergebnisse der Auswertungen sind in Bild 4 dargestellt. Demnach können schon recht zeitnah in einigen Netzen ohne weitere Massnahmen und bei ungünstigen Ladekonstellationen die Grenzen ihrer Übertragungskapazität überschritten werden. Bis zum Ende des Hochlaufs, bei Vollelektrifizierung des Verkehrs im Jahr 2050, sind in knapp 70% der Netze Massnahmen zur Vermeidung von Grenzwertverletzungen zu ergreifen. Zur Erfüllung der Zielvorgabe, bis zum Jahr 2032 ohne Grenzwertverletzung zu funktionieren, müssen nur 20% der Netze verstärkt werden, wobei der Engpass meist im Leitungsnetz (95%) und nicht auf dem Trafo (5%) liegt.
Schritt 4: Schwachstellenanalyse und Zielnetzplanung
Im letzten Schritt, der eigentlichen Zielnetzplanung, werden die als frühzeitig kritisch prognostizierten Netze priorisiert untersucht. Dazu werden zunächst im Prognosetool die für dieses Netz angesetzten Netzstrukturmerkmale überprüft und ggf. über Messkampagnen der tatsächliche Unsymmetriefaktor bestimmt. Sollte sich das untersuchte Netz im Prognose-Tool weiterhin als kritisch erweisen, wird dieses gemäss dem Prozess zur strategischen Netzentwicklung beurteilt und allenfalls punktuell verstärkt. Die aufgestellten Zielvorgaben sind dabei für das Zielnetz einzuhalten.
Beim Stresstest mit Schwachstellenanalyse greift das Tool wiederum direkt auf Neplan V10 zu. Dazu werden die Ergebnisse der Monte-Carlo-Simulation mit jeweils 100 stochastisch verteilten Lastflussberechnungen gemäss der eingestellten Planungskriterien in der Oberfläche eingefärbt dargestellt. Eine beispielhafte Anwendung des Tools zeigt Bild 5.
Gemäss dem Stresstest für das Zieljahr 2032 treten an drei Stellen im Leitungsnetz bei ungünstigen Ladekonstellationen Auslastungen grösser als 100% auf (Bild 5a, rot eingefärbte Strecken). Durch Änderung des Schaltzustands in VK1 und Kabelverlegungen zwischen TS bis VK2 und zwischen TS bis VK3 gelingt es, diese Auslastungen für das Zieljahr 2032 deutlich unter 100% zu reduzieren. Zudem wird der Engpass im Leitungsnetz zum Abgang der TS verschoben (Bild 5b). Auch der Stresstest für das Jahr 2050 bei Abregelung aller Ladeinfrastrukturen auf 3,7 kW ergibt keine unzulässigen Kabelauslastungen (Bild 5c), womit die Zielnetzvorgaben erfüllt sind.
Die St. Galler Stadtwerke haben parallel zum beschriebenen Projekt eine Schnittstelle geschaffen, mit welcher die Netze pro Trafostation aus dem geografischen Informationssystem inklusive Anreicherung der nötigen Betriebsmittel-, Zustands-, Last- und Erzeugungsdaten ausgegeben werden können. Diese Netze stehen anschliessend für den Import im Netzberechnungsprogramm Neplan V10 zur Verfügung. Der grosse Aufwand liegt darin, die einzelnen Netze und die hinterlegten Daten auf deren Richtigkeit zu kontrollieren bzw. zu bereinigen. Dieser Aufwand zahlt sich jedoch mit einer höheren Datenqualität und einem rechenbaren Netz aus, welches für die beschriebene standardisierte Schwachstellenanalyse und Zielnetzplanung zur Verfügung steht, aber auch für die Beurteilung von Anschlussgesuchen.
Zusammenfassung und Ausblick
Die St. Galler Stadtwerke haben gemeinsam mit Siemens eine systematische Vorgehensweise zur vorausschauenden Identifikation von Netzengpässen und zur Planung von zielgerichteten Netzverstärkungen für Niederspannungsnetze entwickelt.
Mit dem Prognose-Tool werden zunächst die potenziell kritischen Netze auf Grundlage von Netzstrukturmerkmalen identifiziert. Diese werden dann, priorisiert nach ihrer Kritikalität, einer Schwachstellenanalyse unterzogen, wobei das Stresstest-Tool direkt auf Neplan V10 zugreift. Die Ergebnisse des Stresstests werden in der Oberfläche dargestellt. Mit dem Tool ist somit eine effiziente Schwachstellenanalyse und eine interaktive Überprüfung von möglichen Zielnetzvarianten möglich.
Bei konsequenter Anwendung dieses Ansatzes sollte in allen Netzen ein ungeregeltes Laden bis 2032 auch bei ungünstigen Ladekonstellationen möglich werden. Bis dann muss ein einheitliches Regelkonzept für die kritischen Netze eingeführt worden sein, wobei die Zustandsbeobachtung auf den Abgangskabeln der Trafostation erfolgt. Bei sich anbahnenden kritischen Auslastungen werden die Ladeinfrastrukturen des betroffenen Stranges auf minimal 3,7 kW abgeregelt. Zudem sind die Netze unter Berücksichtigung des Regelkonzepts für die Lasten im Jahr 2050 auszulegen. Die für die Stresstests getroffenen Annahmen bezüglich Hochlaufdynamik und Lademix werden in den kommenden Jahren beobachtet und können bei Abweichungen angepasst werden.
Die abgeleiteten Erkenntnisse und Zielvorgaben müssen nun bestmöglich umgesetzt werden, wobei auch der rechtliche Rahmen wichtig ist. Es ist derzeit noch unklar, in welche Richtung sich z. B. die Abregelung von Ladeinfrastrukturen zu Hochlastzeiten und die Limitierung der PV-Einspeiseleistung in der Schweiz bewegen wird. Dennoch müssen bereits heute Massnahmen getroffen werden, da die Anzahl kritischer Netze kontinuierlich zunimmt. Die St. Galler Stadtwerke werden nun in einem ersten Schritt die in den kommenden Jahren kritisch werdenden Stationen punktuell verstärken und mit Messtechnik ausrüsten. Die strategische Entwicklung des Niederspannungsnetzes wird unter Betrachtung der Lastentwicklung und des rechtlichen Rahmens laufend neu beurteilt.
Referenzen
[1] www.netze-bw.de/news/netzlabore-intelligentes-lademanagement
[2] www.bundesnetzagentur.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2022/20221124-14aEnWG.html; jsessionid=1B3C5F4B120F3596AD42C31FCA0BABE8
[3] M. Maximini, U. Prause, S. Schulze, A. Slupinski, U. Jordan, C. Löhken, C. Rekowski, «Stresstest E-Mobilität – Sind die Niederspannungsnetze den künftigen Herausforderungen gewachsen?», ew Spezial III, S. 24–29, 2018.
[4] M. Maximini, U. Prause, S. Schulze, A. Slupinski, M. Auverkamp, «Stresstest E-Mobilität – Prognosetool auf Grundlage von Netzstrukturmerkmalen», Elektrizitätswirtschaft, Jg. 118, Nr. 10, S. 46–50, 2019.
[5] M. Maximini, U. Prause, S. Schulze, A. Slupinski, C. Johae, L. Günther, «EWR GmbH überplant ihre Mittelspannungsnetze – Integration des Stresstests für Elektromobilität in einen standardisierten Prozess», Elektrizitätswirtschaft, Jg. 119, Nr. 10, S. 50–53, 2020.
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