Fachartikel Infrastruktur , Integration ins Netz

Speicher oder Netzausbau?

Chancen und Hindernisse auf dem Weg zur Energiewende

09.12.2016

Die «Energiewende» füllt seit der Erfindung dieses Begriffs sämtliche Medien, dicht gefolgt von den zu ihrer Umsetzung erforderlich werdenden «Speichertechnologien». Je mehr aber davon die Rede ist, desto weniger darf man vermuten, eine Patentlösung warte bereits vor der Tür. Wo stehen wir heute bei der gegenseitigen Anpassung von Erzeugung und Bedarf elektrischer Energie? Wo sind die Potenziale und wo die Grenzen?

Elektrische Energie ist das einzige Produkt, das genau dann erzeugt werden muss, wenn es verbraucht wird. Durch die Umstellung der Stromerzeugung auf regenerative Quellen wird die Erzeugung abhängig von Klima und Wetter. Um Versorgungsengpässe zu vermeiden, muss man Strom auf Halde produzieren bzw. von dort beziehen. Nur gleichen die bis heute realistisch machbaren Halden eher ein paar Maulwurfshaufen. Was nun?

Zur Lage

Nachfolgend soll unter «regenerativ», «erneuerbar» und «nachhaltig» im Kontext der elektrischen Energie eine Art der Erzeugung verstanden werden, die sich innerhalb eines Kreislaufs theoretisch unendlich fortsetzen liesse, ohne dass irgendwelche Brenn- bzw. Treibstoffe unwiederbringlich verbraucht würden.
In einem Landesnetz wie dem deutschen mit einer Leistungsentnahme zwischen etwa 35 GW und 82 GW, das über eine PV-Einspeisung mit einer gesamten Nennleistung von rund 40 GW sowie etwa 45 GW Windkraft verfügt, bedeutet dies, dass es Zeiten gibt oder geben könnte, zu denen ausschliesslich erneuerbare Energie «im Netz» ist. Man muss sich fragen, warum es eigentlich noch zuverlässig läuft. Sollte aber einmal ein Ereignis die PV-Einspeisung landesweit betreffen, dann, so berichtet ein Mitarbeiter des Netzbetreibers Westnetz, wird im Vorfeld wochenlang gerechnet, bis ein Plan z.B. zum Durchfahren der Sonnenfinsternis am 20. März 2015 stand. Gut, dass es dieses «deutsche Landesnetz» so gar nicht gibt, sondern ein Verbundnetz mit einer Verbundgesellschaft dahinter steht.[1] Die Betrachtung des Frequenzverlaufs (Bild 1) lässt somit gegenüber einem «normalen» Tag keine Auffälligkeiten erkennen. Auch hebt sich der fragliche Zeitbereich nicht vom Rest des Tages ab – «Stresstest bestanden».[2]

Lastprofile

Schon lange wird der Stromverbrauch aus zwingenden Gründen in Zusammenhang mit dem «Lastprofil» betrachtet. Das diente bisher vor allem der Beurteilung der Netzbelastung, der Steuerung der Erzeugung und der entsprechenden Tarifgestaltung in Abhängigkeit von der Zeit. Dabei werden zwei Arten unterschieden:

«Echte», gemessene Lastprofile

Traditionell wird der Stromverbrauch bei Kunden mit einer Abnahme ab 100  MWh/a in Form von 15-Minuten-Mittelwerten erfasst. Das ergibt 96 Werte pro Tag und damit schon eine ziemlich genaue Auflösung des Verlaufs (Tageslastgang), die sich in der Praxis bewährt hat. Bei Kunden im Bereich unter 100  MWh/a lohnt sich ein solcher Aufwand nicht.

Standardisierte «synthetische» Lastprofile

Bei Kunden mit kleinerem Verbrauch benötigt man standardisierte Lastprofile. Viele Verteilnetzbetreiber geben im Internet die bei ihnen eingesetzten Lastprofile an, die meist eng an die Standard-Lastprofile des BDEW angelehnt sind. Teilweise werden leicht unterschiedliche Profile für verschiedene Bundesländer angewendet.[3] Am besten kommt man bei EWE zurecht.[4] Dort kommen die Standard-Lastprofile des BDEW zur Anwendung.
Kleine Abweichungen ergeben sich regional, weil das Klima nicht überall in Deutschland gleich ist, was insbesondere das Lastprofil «HZ0» von Nachtspeicherheizungen beeinflusst. Diese sind mit ihren hohen Anschlussleistungen und dem Nachtbetrieb wichtig für den Netzbetrieb.

Einspeiseprofile

Für die traditionellen grossen Kraftwerke benötigt man keine Einspeiseprofile. Diese Anlagen gehen je nach Bedarf (und Regelvermögen) ans Netz oder reduzieren ihre Einspeiseleistung. Einspeiseprofile für neue dezentrale Quellen sind bislang noch rar. Für Kleinwasserkraft und Wind gibt es jeweils nur zwölf verschiedene Werte, einen pro Monat. Dabei wird es wohl auch bleiben, da sich das Wetter weit weniger genau vorhersagen lässt als das Verhalten der Summe von bestimmten Verbrauchern. Für die PV-Profile gilt das gleiche. Sie sind lediglich um die Tageshelligkeit «moduliert». Diese aber wird als für jeden Tag eines Monats gleich angenommen.

Energiespeicher

Prinzipiell reicht die auf ein Einfamilienhaus treffende Sonnenstrahlung aus, um – über ein Jahr gemittelt – den Strombedarf dieses Hauses mittels PV zu ­decken. Man müsste «nur» die elektrische Energie speichern können – und zwar nicht nur für die Nacht, sondern auch für den Winter. Das ist der Engpass. Der Knackpunkt der Energiewende heisst also «Speichertechnologien». Genau daran aber hapert es.[5] Könnte das Stromnetz hier helfen?
Der vermehrte Einsatz regenerativer Energiequellen stellt das Stromnetz im Wesentlichen vor zwei neue Herausforderungen:
Der bekannte, aus Erfahrungswerten vorhersehbare Tageslastgang wird durch einen neuen, stochastischen Lastgang überlagert, der vorwiegend vom Wetter abhängt. Diese neue Anforderung ist beim heutigen Anteil solcher Einspeisungen von fast 33 % – und darüber hinaus bis etwa 40 % – beherrschbar.
Zusätzlich zum Tageslastgang müsste eigentlich ein Jahreslastgang eingeführt werden, der durch Energiespeicherung reguliert werden müsste. Zu diesem Problem ist – mit einer bedingten Ausnahme – keine Lösung verfügbar.
Die einzige Speichertechnik, die sich in grossem Umfang bei brauchbaren Wirkungsgraden wirtschaftlich umsetzen lässt, ist keine spektakuläre neue Technologie, sondern das altbekannte Pumpspeicherkraftwerk. Das ist schade für Forscher und Medien, die neue Themen viel besser gebrauchen können als alte.

Folgerungen für die Energiewende

Die Schweiz kann in ihren Stauwasserkraftwerken Strom für 55 Tage lagern – und das grösstenteils ohne zu pumpen, sondern direkt in den Erzeugungsanlagen. Das weltweit grösste Stauwasserkraftwerk in China ist nicht zum Aufstauen von Energiereserven ausgelegt, um dem Jahreslastgang folgen zu können, sondern eher zum Aufstauen von Wasserreserven bzw. Verhütung von Überschwemmungen. Das Stauwasserkraftwerk von Itaipú in Südamerika, das sich bezüglich eingespeister Energie als das grösste der Welt bezeichnen liesse, nutzt den verfügbaren gigantischen Wasserstrom von 62 200  m³/s bei Weitem nicht aus (Bild  3) und liefert dafür Grundlaststrom. Der Speicher wird also umgekehrt genutzt: nicht, um die elektrische Leistung hochfahren zu können, wenn der Bedarf steigt (das Kraftwerk läuft ohnehin auf voller Leistung), sondern um sie weiterhin auf 100 % zu halten, auch wenn die natürliche Quelle für längere Zeit den dafür benötigten Wasserfluss unterschreitet. So gesehen ist in Itaipú die Errichtung eines jahreszeitlichen Speichers gelungen – und das lange vor der Erfindung des Begriffs «Energiewende»: Die Anlage ging 1982 ans Netz.
Doch wo lassen sich weitere ähnliche Anlagen bauen? Die Potenziale sind begrenzt. Alle anderen derzeit diskutierten Speichertechnologien sind um mehrere Grössenordnungen hiervon entfernt.

Gemischte Aussicht

Am Ende läuft alles darauf hinaus, dass Energie sparen immer noch die beste «Energiequelle» ist. Dazu gibt es einige Optionen, die im Kontext der Energiewende diskutiert werden, aber einerseits durch die Diskussionen über Speichertechnologien und alternative Erzeugung aus dem Fokus zu rutschen drohen oder andererseits überbewertet werden.

Bilanz

Ausgerechnet bei Gasturbinen-Kraftwerken, die als Lückenfüller dringend gebraucht würden, wird in letzter Zeit vermehrt von Stilllegungen «aus wirtschaftlichen Gründen» berichtet. Es wird angeführt, dass sich die Anlagen allein aus dem Verkauf der Energie nicht mehr tragen, seit sie nicht mehr regelmässig laufen. Es fehle ein Regelenergiemarkt, auf dem nicht nur gelieferte Energie, sondern auch vorgehaltene – und womöglich meist nicht abgerufene – Leistung bezahlt wird.

Regelenergie, Regelleistung

Zumindest in der Schweiz funktioniert der Markt für Regelenergie und Regelleistung: 10 MW für eine Woche vorzuhalten brachte 2014 zwischen 30000 und 70000 CHF ein.[6] In einem Land, wo eine Kilowattstunde nur rund 15 Rp. kostet, sind das immerhin zwischen 12% und 28% dessen, was man für eine konstante Abnahme der vollen 10 MW über eine ganze Woche bezahlen müsste – gerechnet allerdings mit Haushaltstarifen und nicht jenen, die für Bandlast zu zahlen wären. Wird die bereit gehaltene Leistung tatsächlich in Anspruch genommen, so bekommt der Anbieter für die Energie zusätzlich den aktuellen Börsenpreis +20%. Wer negative Sekundär-Regelleistung im Angebot hat, also auf Kommando Strom abnimmt, bekommt einen Rabatt von 20% auf den aktuellen Preis. Was dort jedoch nicht stand, war, wer denn für diese Kosten aufkommt, doch müssen diese wohl am Netzbetreiber hängen bleiben. Der gibt sie in Form der Netznutzungsgebühren an seine Kunden weiter.

Die Kostenstruktur als Faktor

Dies führt zum nächsten beachtenswerten Punkt: Auf einer aufschlussreichen Website [7] kann der Schweizer Stromkunde nicht nur ermitteln, wo er in welchem Tarif wie viel bezahlt, sondern auch, wie viel davon auf die Energie und wie viel auf Netznutzung entfällt. Tendenziell sind es in den Haushaltstarifen 60% bis 66% für das Netz und nur 33% bis 40% für die Energie. Sonstige Abgaben sind vernachlässigbar – in einem Land mit 50% nachhaltiger Erzeugung. Ja, Berge und «schlechtes Wetter» sollte man haben. In Deutschland – wie in den meisten Ländern – muss man solche erneuerbaren Energien nutzen, die nur dann zur Verfügung stehen, wenn sie mögen, und die sich nicht wirtschaftlich speichern lassen. Die Situation:
Zuerst bauen wir neben der bestehenden Erzeugungsanlage, die komplett ausreicht, um alle Bedürfnisse aller Stromkunden zu decken, eine zweite auf, die dann eingreift, wenn sie verfügbar ist. Solange sie produziert, spart sie Brennstoff ein. Die Errichtung erfordert aber eine zweite Investition, die gemäss KEV über einen Aufpreis auf den Strom bezahlt wird. Die Finanzierung aus den Einsparungen beim Brennstoff ist «schwierig», denn der Strom aus dem bestehenden System wird nun auch teurer, da die Anlagen ständig auf und ab fahren. Wird ein Dampfkraftwerk abgefahren, kühlt es langsam aus. Ist es erst einmal kalt, frisst es über Stunden Brennstoff, ehe sich wieder etwas rührt. Für Braunkohlekraftwerke rechnet man mit 9 bis 15 h.
Bei Teillast verschlechtert sich der Wirkungsgrad. Auf der konventionellen Seite entsteht weniger Elektrizität pro Brennstoff, weil nebenan die erneuerbar arbeitende Anlage Brennstoff spart. Der relative Mehrverbrauch auf der «alten» Seite müsste korrekterweise von der Einsparung auf der «neuen» abgezogen werden.
Wenn Sonne und Wind zusammen annähernd voll verfügbar sind, können sie zeitweise den gesamten Leistungsbedarf Deutschlands decken. Nur der Zeitpunkt ist unbekannt.
Bekannt ist aber, dass Braunkohlekraftwerke nicht unter 40%, moderne Anlagen nicht unter 20% ihrer Nennleistung betrieben werden können.[8] Es ist auch bekannt, wie viel Zeit und Energie es kostet, ein Braunkohlekraftwerk wieder anzufahren.
Nun beklagt man sich, dass durch die Finanzierung dieses Systems der Strom zu teuer wird, um ihn z.B. für Heizzwecke einzusetzen und so «regenerativ» zu heizen.
Das Problem: Der Strom ist aus Sicht des Verbrauchers eben nicht kostengünstig. Er ist deswegen teuer, weil der regenerativ erzeugte Anteil darin enthalten ist. Schliesslich ist ein höherwertiges, da nachhaltigeres, Produkt meist teurer.  Dies ist eine mögliche Sichtweise.
Die andere mögliche Sichtweise ist: Erneuerbar erzeugter Strom ist noch weniger wert als Grundlast-Einspeisung. Ein Mitarbeiter des Kernkraftwerks Emsland berichtete (2009): «Wir speisen die Kilowattstunde für 2,9 Cent ins Netz ein.» Eine Eisenbahn-Zeitschrift schreibt: «Tagsüber erhalten Kraftwerksbetreiber im Sommer zwischen 2 bis 3 ct/kWh.»[9] Für Kohlekraftwerke werden an­dern­orts ebenfalls 3  ct/kWh angegeben. [10] Die Grundlast-Einspeisung steht zwar immer nur in konstanter Höhe, aber doch wenigstens rund um die Uhr, Sommer wie Winter zur Verfügung. PV steht bei Nacht gar nicht und im Winter nur sehr begrenzt zur Verfügung. Daher hat PV-Strom auf dem Markt zunächst einmal einen noch deutlich geringeren Wert als Grundlast-Einspeisung.
Offenbar hat erneuerbare Energie im Stromnetz so lange einen gewissen (finanziellen) Wert, wie sie als Ergänzung zu den konventionellen Quellen auftritt. Der Marktpreis entspricht grob den Kosten für den eingesparten Brennstoff – oder jedenfalls müsste dies so sein, wenn es sich nicht um einen «regulierten Markt» handelte. Spätestens dann, wenn sich keine konventionelle Einspeisung mehr ersetzen lässt, kommt es zu Zeiten mit negativen Strompreisen. Diese lagen 2010 noch bei 12 h/a und stiegen auf 115 h/a im Jahr 2015. Zurzeit pendelt die Situation im Netz also zwischen den beiden Sichtweisen hin und her, wie die Ausschläge an den Strombörsen zeigen.

Der grösste Schritt liegt noch vor uns

Bislang müssen die regenerativen Einspeisungen in das bestehende Netz integriert werden. 33% haben wir schon; bis 40% sieht die ETG kein unlösbares Problem.[11] Doch wenn die Sache «kippt», also eher von einem Netz gesprochen werden muss, in dem die konventionellen einen kleinen Zusatz zu den regenerativen Quellen bilden (Fernziel 80%), muss man sich fragen: Wie soll der Weg dorthin aussehen? Denn mit (stark vereinfachten) Beispielzahlen ergibt sich der Trend:
Eine Windkraftanlage oder 50000 m² PV liefern im Jahr so viel Energie wie etwa 1000 Haushalte im selben Jahr verbrauchen. Tatsächlich sind die Haushalte damit aber z.B. nur zur Hälfte versorgt, weil Sonne und Wind nicht bedarfsgerecht verfügbar sind.
Mit zwei Windkraftanlagen bzw. 100000 m² PV klappt die Versorgung vielleicht schon über ¾ der Zeit, aber beide müssen im Mittel der Zeit um je 50% abgeregelt werden, liefern also nur noch halb so viel Energie, wie sie könnten. Die Errichtungskosten haben sich verdoppelt; der Ertrag leider nicht.
4 Windkraftanlagen bzw. 200000 m² PV versorgen die 1000 Haushalte schon zu ⅞; nur über ⅛ der Zeit treten Versorgungslücken auf.
Die Abregelung erneuerbarer Einspeisungen, die heute nur in Extremsituationen notwendig wird, tritt umso häufiger ein, je mehr die Erneuerbaren in Konkurrenz zueinander treten.
Anders ausgedrückt: Deutschland verfügt über ⅓ subventionierte regenerative Einspeisung, die von ⅔ konventioneller Einspeisung mitgetragen werden muss. Wir wollen in Deutschland 80% regenerative Einspeisung, die von 20% konventioneller Einspeisung mitgetragen werden soll bzw. sich selbst trägt, wie dann erwartet wird. Das heisst dann aber, dass eine Windkraftanlage nur an jedem fünften Starkwindtag wirklich läuft, also bei Starkwind eine laufende vier stillstehende finanzieren muss bzw. alle fünf Anlagen nur mit 20% ihrer Bemessungsleistung laufen – wie bei sanfter Brise.
Technisch geht das. Die Anlagen stehen dann aber wirklich überall herum  und kosten Geld. Eher müsste sich das System mit weiterem Ausbau von nun an wieder weiter von der Selbstfinanzierung entfernen. Dabei ist es schon jetzt erstaunlich, dass die Abregelung erneuerbarer Einspeisungen noch nicht den Alltag darstellt, denn es muss Zeiten geben, zu denen mehr Wind- und Solarstrom in das deutsche Netz eingespeist wird, als daraus entnommen wird.
Der «Muttertag» 2016 glänzte mit ungetrübtem Sonnenschein, viel Wind und geringem Strombedarf, welcher dann zu 95% aus Sonne und Wind gedeckt werden konnte.[12] Dennoch sackten die Preise an der Strombörse um 14 Uhr auf –130 €/MWh ab, obwohl immer noch 5% konventioneller Leistung «im Netz» waren. Dabei lag die Wind-Einspeisung erst bei gut 50% der installierten Leistung. Was ist nun bei 80%? Und was ist während dieser Zeiten mit den zusätzlich laufenden konventionellen Kraftwerken, die sich nicht ohne Weiteres abregeln oder gar stillsetzen lassen? Die Erklärung ist:
Wie bereits dargelegt, gibt es kein «deutsches Stromnetz», sondern einen wesentlich weiträumigeren Verbund.
In diesem nimmt Deutschland bezüglich Anteil an erneuerbarer Stromerzeugung die Spitzenposition ein.
Deutschland ist ein Strom-Exportland mit steigender Tendenz (Bild 4).

Fachleute kommentieren, dass «die Energiewende in Deutschland nur so lange gutgeht, wie unsere Nachbarländer nicht auf dieselbe Idee kommen». Tatsächlich bedeutet ein Export von 15 % der jährlichen Energie-Erzeugung, dass ein halbes Jahr lang durchschnittlich 30 % der im Inland erzeugten Leistung ins Ausland fliesst. Ein Import von 6 % der jährlichen Energie-Erzeugung bedeutet, dass das andere halbe Jahr lang durchschnittlich 12 % des inländischen Leistungsbedarfs aus dem Ausland bezogen wird. Da die Lastflüsse nicht konstant sind, muss davon ausgegangen werden, dass der Grenzverkehr zeitweise auch viel höher liegt. Nur so ist zu erklären, dass das System als Ganzes noch funktioniert, ohne dass alle «Windmühlen» bei starkem Wind stets unausgelastet sind und PV-Anlagen bei Sonnenschein meist gedrosselt werden müssen. Einige europäische Nachbarländer (Polen, Tschechien …) statten derzeit die Kuppelstellen an ihren Grenzen mit Längsdrosseln aus, damit der deutsche Nord-Süd-Transit deren Netze nicht so stark auslastet.

Auch hierzu meldet die ETG: «Es sei darauf hingewiesen, dass die … abgeschätzte erforderliche installierte Leistung (für das dort entworfene Szenario) in einem Bereich von 276  GW bis 516  GW etwa das Drei- bis Sechsfache der heutigen Spitzenlast von rund 80  GW ist»[13] und «Der Zubau an erneuerbaren Energiequellen führt dazu, dass diese Leistung insgesamt etwa das Vierfache der heutigen Höchstlast beträgt» [14]. Steigert man obiges Szenario nun noch auf 100 %, so steigt der dafür notwendige Aufwand, um die Rundum-Vollversorgung voll erneuerbar sicherzustellen, ins Unendliche. Damit ist das Problem einer «Dunkelflaute» noch nicht einmal gelöst. Speichertechnologien, die die in jedem Szenario verbleibenden Lücken schlies­sen könnten, gibt es nicht – bis auf eine, die aus geografischen Gründen nur in einigen Ländern umsetzbar ist. Gäbe es die flächendeckende Speicherlösung, so wäre diese umso seltener gefordert, je üppiger die Ausstattung mit einspeisenden Quellen wäre. Benötigt würden sie aber noch immer – am Ende des Szenarios nur noch für ein paar Augenblicke im Jahr, wie ein Notstrom-Aggregat. Die Kostendeckung würde dadurch immer schlechter.

Neue Netze braucht das Land

Es wäre also weise, sich mit dem Fernziel zunächst auf die vom VDE erwähnte 40- %-Marke zu konzentrieren. Damit ist schon viel gewonnen, und alle Beteiligten werden genug damit zu tun haben, die Netze entsprechend umzubauen und zu erweitern.

Energiewende «gegen den Strom»

Hiermit ist natürlich nicht der elektrische Strom gemeint, sondern der der Zeit. Der will es im Moment gerade mal wieder, dass der einige Jahre lang viel gepriesene Netzausbau völlig überflüssig sei und «nur» dem Stromhandel diene.

Viel besser sei es, an vielen Stellen dezentral jeweils das einzuspeisen, was sich am Ort des Geschehens anbiete. Dies ist im Ansatz richtig, doch haben «Dunkelflauten» die Eigenschaft, mehrere europäische Nachbarländer gleichzeitig zu überziehen. Der richtige Ansatz lautet: Das eine tun, aber das andere nicht lassen. Je mehr dezentrale Einspeisung, desto besser ist es, aber desto wichtiger wird auch das interkontinentale Verbundnetz (Bild  5) – und keinesfalls etwa weniger wichtig, wie gerne behauptet wird. Ein globales Stromnetz wäre die Lösung – ein immenser Aufwand, aber im Gegensatz zu den stetig propagierten Speichertechnologien wenigstens rein technisch und physikalisch machbar. Irgendwo ist es immer hell oder windig – keine netzweiten «Dunkelflauten» mehr. Wie erwähnt, wurden und werden die grössten Wasserkraftwerke der Welt wegen der jahreszeitlichen «Gezeiten» heute so gebaut, dass bei «Flut» eine Menge Potenzial an ihnen vorbeifliesst, weil sich die Nutzung der relativ kurzzeitigen Flut nicht lohnt: Das nächste Kraftwerk in der Nähe hat auch gerade Hochsaison und steht vor der gleichen Situation. Bestünde jedoch eine Stromtrasse von Kanada nach Paraguay, so träfe die «Ebbe» (der Sunk) an den Niagarafällen auf die «Flut» (den Schwall) in Itaipú und umgekehrt, und an beiden Enden würde die Auslegung auf «Flut» unter Umständen doch sinnvoll – abhängig davon, was man dafür zu bezahlen bereit wäre. Schon wäre eine Menge mehr erneuerbarer Energie an bestehenden Standorten gewonnen. Die Leitungsverluste lassen sich durch entsprechenden Materialaufwand reduzieren – eine Frage des Geldes, nicht der Machbarkeit. «Desertec» wäre ein Schritt in diese Richtung gewesen; die zunehmende Zahl an Seekabeln zwischen Grossbritannien, Norwegen, Deutschland und den Niederlanden [15] sowie weitere geplante und in Bau befindliche Verbindungen sind welche. Dies ist gelebte Energiewende – ohne dass dies zwingend unter diesem Namen vermarktet werden muss. Von «Speicher als Option zur Flexibilisierung der Netze und Vermeidung von Netzausbaukosten» ist die Rede.[16] Nach allem, was bis hierhin ausgeführt werden konnte, muss es eher umgekehrt lauten: «Netzausbau als Option zur Flexibilisierung der Netze und Vermeidung von Speicherkosten». Das lässt sich auch die Entso-E (European Network of Transmission System Operators for Electricity) durch eine Studie [17] so vorrechnen. Wenn dies so umgesetzt werden sollte wie es dort steht, würde dies «Netzausbau bis zum Exzess» bedeuten.

Gestützt werden müsste das Ganze noch lange Zeit, wenn nicht für immer, mit GuD-Kraftwerken und für die ganz kurzfristigen Einsätze zur Frequenzhaltung mit reinen Gasturbinen. Hier kommt auch der Einsatz von Akkumulator-Speichern in Betracht; für die Stundenreserve allerdings schon nicht mehr. Doch am Ende des Erdgases? Biogas? Nahrungsmittel vergasen? Man kann es drehen und wenden, wie man will, und stösst immer wieder irgendwo auf irgendwelche Grenzen oder Konfliktfelder. Einen Königsweg gibt es nicht.

Unabhängig davon, ob es gelingen wird, den weltweiten CO2-Ausstoss tatsächlich zu reduzieren, und ob das CO2 wirklich das Hauptproblem ist, bezweifelt niemand, dass wir in 100 Jahren verbrennen, was in 100 Millionen Jahren entstanden ist. Man könnte auch den Standpunkt beziehen, wir möchten getrost alles Brennbare verbrennen; wenn die fossilen Brennstoffe zu Ende seien, werde sich das Problem des CO2-Ausstos­ses von selbst regulieren. Das kann aber auch zu spät sein. Nichts geht jedoch von heute auf morgen zu Ende, und bislang ist Energie immer noch viel zu billig. Die Preise geben nicht den Wert dessen wieder, was da verbrannt wird, doch bei knapper werdenden Vorräten und zugleich zunehmendem Verbrauch, weil die Weltbevölkerung unaufhaltsam wächst und vor allem in Asien der Lebensstandard kräftig steigt, wird in Zukunft so manches finanzierbar werden, was heute absurd erscheint. Nur wirklich möglich muss es sein, und diese Optionen gibt es. Sie liegen aber zum grössten Teil im Netzausbau und nur bedingt in den viel thematisierten Speichertechnologien.

 

Literatur

BDEW Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft e.V., «Stromzahlen 2015 – Der deutsche Strommarkt auf einen Blick», BDEW 2015, shop.wvgw.de/Produkte/Informationsmedien/Erdgas-Energie/Broschueren-und-weitere-Printmedien/Stromzahlen-2015.

Referenzen

[1]    Stefan Fassbinder: «Euroverbundnetz – wie funktioniert das?», ET Elektrotechnik 11/2009, S. 55

[2]    «Stresstest bestanden». Bulletin SEV/VSE 6/2015, S.  51, www.bulletin-online.ch/de/themen/artikel-detailansicht/news/13222-stresstest-bestanden.html.

[3]    Z.B. www.avacon.de/cps/rde/xchg/avacon/hs.xsl/786.htm für Niedersachsen und Sachsen-Anhalt.

[4]    Energieversorgung Weser-Ems, www.ewe-netz.de/strom/1988.php

[5]    Eine ausführliche Darstellung der Möglichkeiten und Grenzen bekannter Speichertechnologien findet sich in der Vollversion dieser Abhandlung, verfügbar beim Deutschen Kupferinstitut, Düsseldorf, sowie auf www.elektropraktiker.de und in der Zeitschrift «Galvanotechnik».

[6]    Benedikt Vogel, «Netzwerk steuert Strom im ­Sekundentakt», ET HK extra 2015, S. 138.

[7]    www.strompreis.elcom.admin.ch/Map/­ShowSwissMap.aspx.

[8]    Erwin Kaltenbach, Uwe Maassen, «Braunkohle»,  BWK – Das Energie-Fachmagazin 4/2014.

[9]    «Rekordwert bei regenerativen Energien», «eb» Elektrische Bahnen – Elektrotechnik im Verkehrswesen 6/2016, S. 346.

[10]    Alfons Kather: «Aschenputtel der Energiewende». VDI-Nachrichten 31-32/2016, S. 2, www.vdi-nachrichten.com/Technik-Gesellschaft/Aschenputtel-Energiewende

[11]    VDE/ETG-Studie «Batteriespeicher in der Nieder- und Mittelspannungsebene» (Energietechnische Gesellschaft im VDE) Mai 2015; Zusammenfassung «Stromspeicher in der Nieder- und Mittelspannungsebene», in: ETG-Mitgliederinformation 2/2015, S. 29.

[12]    ecomento.tv/2016/05/11/neuer-deutschland-rekord-oeko-energie-deckt-strombedarf-fast-komplett.

[13]    VDE/ETG-Studie «Der Zellulare Ansatz», S. 62, www.vde.com/de/InfoCenter/Seiten/Details.aspx?eslShopItemID=285c9c8d-a1bb-4463-af26-cf1d3a53a93a.

[14]    VDE/ETG-Studie «Der Zellulare Ansatz», S. 24.

[15]    «HGÜ Norwegen – Deutschland und Norwegen – Grossbritannien», «eb» Elektrische Bahnen – Elektrotechnik im Verkehrswesen 10/2015, S. 527.

[16]    www.zukunftsnetz.net/programm.html

[17]    «e-Highway 2050 – Modular Development Plan of the Pan-European Transmission System 2050 – D3.2: Technology innovation needs». www.entsoe.eu

Autor
Stefan Fassbinder

Dipl.-Ing., ist seit 1995 Berater für elektrotechnische Industrie-Anwendungen.

  • Deutsches Kupferinstitut
    DE-40474 Düsseldorf

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