Spannung im Netz mit Wasserkraft halten
Spannungsqualität im Übertragungsnetz
Der Zubau von erneuerbaren Energien und die steigende Verkabelung der Verteilnetze hat einen merklichen Einfluss auf die Spannungsqualität im Übertragungsnetz, speziell in Gebieten ohne Kraftwerke. Die überobligatorische Spannungshaltung kann zusätzliche Ressourcen wie zum Beispiel Wasserkraftwerke aktivieren, welche die Spannungsqualität verbessern.
Swissgrid, die Übertragungsnetzbetreiberin der Schweiz, hat den gesetzlichen Auftrag, das Schweizer Übertragungsnetz sicher und zuverlässig zu betreiben. Hierfür werden Systemdienstleistungen eingesetzt. Zu diesen gehört die Spannungshaltung mit dem Zweck, die Spannungsstabilität des Übertragungsnetzes zu gewährleisten. Das heutige Spannungshaltungskonzept [1] unterscheidet zwischen aktiven und passiven Teilnehmern. Aktive Teilnehmer sind verpflichtet, Blindleistung ihrer Betriebsmittel (Generatoren/Transformatoren) ohne Einschränkung des Wirkleistungsbetriebs einzusetzen, um die betrieblichen Vorgaben von Swissgrid zu erfüllen. Die passiven Teilnehmer haben den Anreiz für ein rückwirkungsfreies Verhalten, zum Beispiel Beschränkung des Blindenergieaustausches.
Kraftwerke, Verteilnetze und Endkunden, welche direkt am Übertragungsnetz angeschlossen sind, können zusätzlich überobligatorische Blindenergie für Swissgrid bereitstellen. Die Bereitstellung von überobligatorischer Blindenergie wird individuell mit den Partnern und Swissgrid ausgehandelt.
Um die Spannungssollwerte für die aktiven Teilnehmer zu bestimmen, wendet Swissgrid den Day-Ahead-Reactive-Planning-Prozess an. Swissgrid berechnet einen optimalen Lastfluss für jede der 24 Stunden und optimiert die Kosten für die Wirkverluste im Schweizer Übertragungsnetz sowie die Kosten für den Blindleistungseinsatz. Die Spannungssollwerte werden am Vortag allen aktiven Teilnehmern gesendet. [2] Falls im Betrieb die Spannung an einem Netzknoten den zulässigen Bereich verletzt, sendet Swissgrid dem aktiven Teilnehmer aktualisierte Spannungssollwerte. Kann die Spannung trotz dieser Intervention nicht entscheidend beeinflusst werden, ruft Swissgrid die überobligatorische Blindleistung bei den hierfür kontrahierten Kraftwerken ab.
Aktuelle Herausforderungen für Übertragungsnetzbetreiber
Im Schweizer Übertragungsnetz hat die Anzahl der Spannungswertverletzungen aufgrund zu hoher Spannungen in den letzten Jahren zugenommen. Untenstehendes Bild zeigt jene Gebiete im Übertragungsnetz, in denen häufig erhöhte Spannungen gemessen werden.
Die steigende Zahl dezentraler Erzeugungseinheiten sowie die steigende Verkabelung im Niederspannungsnetz sind die gewichtigsten Treiber für diese Spannungserhöhung. Die erhöhte dezentrale Produktion führt zu einem reduzierten Wirkleistungsbezug aus dem Übertragungsnetz. Zusätzlich erhöht sich der kapazitive Blindleistungsaustausch mit dem Übertragungsnetz zu Niederlastzeiten wegen des hohen Verkabelungsgrads im Niederspannungsnetz. Dies führt zu einer Erhöhung der Spannungen im Übertragungsnetz.
Die hohe Anzahl von Spannungsverletzungen im Übertragungsnetz führte in den vergangenen Jahren zu einem erhöhten Bedarf von überobligatorischer Blindleistung. Das folgende Bild zeigt die Entwicklung der total abgerufenen Stunden der überobligatorischen Blindleistung.
Swissgrid geht daher davon aus, dass der Bedarf an Blindleistung in den kommenden Jahren zunehmen wird und ist darum bemüht, richtige Anreize zur Teilnahme an der Spannungshaltung zu setzen. Ausserdem versucht Swissgrid, zusätzliche Kraftwerke für die Teilnahme an der überobligatorischen Spannungshaltung zu gewinnen. Das Beispiel des Kraftwerks Göschenen demonstriert, wie überobligatorische Blindleistungsbereitstellung durch Wasserkraftwerke möglich ist.
Erneuerung des KW Göschenen
Das Wasserkraftwerk Göschenen besteht aus einer Speicherstufe, welche vier vertikale Maschinengruppen speist, und einer Laufstufe, welche zwei ebenfalls vertikale Maschinengruppen speist. Die sechs Maschinengruppen bestehen aus dreidüsigen Pelton-Turbinen, welche direktgekuppelt Synchrongeneratoren antreiben. Drei dieser Maschinengruppen werden zur Erzeugung von 50-Hz-Drehstrom verwendet, die anderen drei zur Erzeugung von 16,7-Hz-Einphasenwechselstrom.
Das Kraftwerk wird von CKW betrieben und war bis 2012 ohne nennenswerte Ersatzinvestitionen in die elektromechanischen Primärkomponenten zuverlässig in Betrieb. Um weiterhin einen zuverlässigen und sicheren Betrieb ihrer Anlagen zu gewährleisten, setzen die Verantwortlichen des Kraftwerks Göschenen seit 2013 ein Projekt zur Erneuerung der Turbinenräder, Generatoren, Transformatoren, Energieableitung und Steuer-/Regelsysteme der sechs Maschinengruppen um. Insgesamt werden im Zeitraum von 2013 bis 2021 rund 60 Mio. CHF investiert.
CKW setzt die drei erneuerten 50-Hz-Maschinengruppen zur obligatorischen und überobligatorischen Spannungshaltung ein. Der Phasenschieberbetrieb dient dabei als Grundlage für innovative Betriebskonzepte, die dazu beitragen, die Anforderungen des Strommarktes zu meistern. Der Phasenschieberbetrieb ermöglicht CKW,
- die Spannungshaltungskapazität zur obligatorischen Spannungshaltung zu erhöhen,
- die Grundlagen zur Teilnahme an der überobligatorischen Spannungshaltung zu schaffen,
- einen Mehrwert zu generieren,
- einen wesentlichen Beitrag zur Netzstabilität zu leisten.
Konzepte für obligatorische Spannungshaltung
Bei der Umsetzung des Erneuerungsprojekts wurden zur Erbringung der Systemdienstleistung Spannungshaltung neue Regel- und Betriebskonzepte eingeführt. Diese ermöglichen der Betreiberin CKW, das Kraftwerk optimiert am Markt einzusetzen, den Verschleiss der Anlagen zu minimieren und neu die überobligatorische Spannungshaltung für Swissgrid zu erbringen. Bei der Einführung dieser Konzepte mussten verschiedene technische Herausforderungen gelöst werden.
Einführung eines Phasenschieberbetriebs
Im Rahmen des Erneuerungsprojekts wurden neue Turbinenräder beschafft. Obwohl klar war, dass der Phasenschieberbetrieb wesentliche Vorteile für den Betrieb und die Vermarktung bringt, sollten aus wirtschaftlichen Gründen an der Turbine sonst keine Änderungen vorgenommen werden. Durch den Phasenschieberbetrieb verringert sich die Grundlast der Turbine, was die Grenzkosten senkt und die flexibel einsetzbare Leistung steigert. Berechnungen des Turbinenlieferanten zeigten, dass mit Ventilationsverlusten von 100 bis 300 kW und einer Erwärmung des Turbinenrads von bis zu 70°C zu rechnen ist. Weitere Berechnungen haben gezeigt, dass die aus der Erwärmung resultierenden thermischen Spannungen für das Laufradmaterial zulässig sind. Um den Phasenschieberbetrieb für den kontinuierlichen Betrieb freigeben zu können, wurde ein Erwärmungslauf durchgeführt. Dabei wurde eine Erwärmung von lediglich 18 °C ermittelt.
Um die betrieblichen Vorgaben von Swissgrid für die obligatorische Spannungshaltung möglichst optimal und automatisiert zu erfüllen, hat CKW bei der Erneuerung der Steuer-/Regelsysteme ein Konzept zur Spannungshaltungsregelung erstellt. Die Regelung ist in einer lokalen Automatisierungskomponente des Kraftwerks Göschenen implementiert.
Obenstehendes Bild zeigt schematisch, wie der Spannungshaltungsfahrplan von Swissgrid an das Netzführungssystem von CKW übermittelt wird. Das Netzführungssystem wandelt die Zeitreihe in ein stetiges Sollwertsignal um und sendet es an die Spannungshaltungsregelung weiter. Hier wird der Spannungshaltungs-Sollwert mit dem Spannungs-Istwert des Unterwerks Göschenen verglichen. Ein Regler wandelt die Regelabweichung in Blindleistungssollwerte für die Maschinengruppen um.
Dank dieser automatisierten Regelung wird der Dispatcher bei der Kraftwerksführung entlastet, und es wird eine hohe Qualität der Spannungshaltung erzielt (konform gelieferte Blindenergie >99 %). Weiter werden dank der neuen Regelung die Betriebsbereiche der Primärkomponenten optimal ausgenutzt, was zu einem Mehrwert für den Kraftwerksbetreiber und einer verbesserten Netzstabilität führt.
Um die Vorteile des Phasenschieberbetriebs und der optimierten Spannungshaltungsregelung zu nutzen, hat CKW ein Phasenschieberbewertungsmodell entwickelt. Dabei handelt es sich um einen Optimierungs-Algorithmus, welcher Marktinformationen, relevante technische Parameter und den aktuellen Betriebszustand des Kraftwerks berücksichtigt, um zu entscheiden, ob eine Maschinengruppe in den Phasenschieberbetrieb überführt oder ob sie vom Netz genommen und stillgesetzt werden soll.
Zwei unterschiedliche Aspekte lieferten CKW die Motivation, dieses Modell einzuführen. Erstens will CKW mit den Betriebsmitteln möglichst schonend, effizient und nachhaltig umgehen. Die Vermarktung des Kraftwerks am Spot-Markt widerspricht diesem Ansatz und führt zu einem intermittierenden Betriebsmuster, da das ökonomische Rationell bedingt, dass nur während der Stunden mit den höchsten Strompreisen produziert wird. Zweitens werden auch im Phasenschieberbetrieb Erträge durch die obligatorische Spannungshaltung generiert. Diese Erträge übersteigen, abhängig von den Spot-Marktpreisen, die Kosten für die Verlustenergie im Phasenschieberbetrieb. Dank dem Bewertungsmodell wird der Maschinen einsatz so optimiert, dass diese Erträge zuverlässig erzielt werden.
Obenstehendes Bild zeigt die notwendigen Daten, welche das Modell benötigt, um den Maschineneinsatz zu optimieren und die Kosten für einen Startvorgang zu berechnen. Die wichtigsten Eingangsparameter sind die Preisvorwärtskurve, der Vergütungssatz für gelieferte Blindenergie und technische Faktoren.
- Die oben beschriebene Optimierung hat die folgenden Effekte auf den Maschineneinsatz:
- Die äquivalenten Betriebsstunden werden gesenkt, da die Anzahl der Startvorgänge sinkt
- Dank der längeren Betriebsdauer wird ein zusätzlicher Beitrag zur Netzstabilität erbracht
- Die Verfügbarkeit der Maschinengruppen steigt für kurzfristige Re-Dispatches. Insbesondere Ausfälle von anderen Kraftwerken können schnell durch die Maschinengruppen im Phasenschieberbetrieb ausgeglichen werden.
- Das Phasenschieberbewertungsmodell liefert die wesentlichen Informationen, welche zur Preisgestaltung der überobligatorischen Spannungshaltung notwendig sind (Kosten pro Startvorgang).
Einsatz zur überobligatorischen Spannungshaltung
Mit dem Phasenschieberbetrieb war die wichtigste technische Grundlage für eine Präqualifikation zur Erbringung der überobligatorischen Spannungshaltung geschaffen. Dank dem Phasenschieberbewertungsmodell waren CKW die Kosten für Startvorgang und Betriebsstunden bekannt. Diese bilden eine wesentliche Grundlage für die im bilateralen Vertrag geregelten Vergütungen. Somit konnten die Vereinbarungen zwischen Swissgrid und CKW schnell abgeschlossen werden. Das Kraftwerk Göschenen ist seit dem Sommer 2017 für die überobligatorische Spannungshaltung präqualifiziert. Bis dato wurden die Maschinengruppen mehrfach von Swissgrid abgerufen.
Die Abrufe von Swissgrid erfolgen zurzeit noch telefonisch und werden per E-Mail bestätigt. Ein Dispatcher in der CKW-Leitstelle in Rathausen führt die Abrufe aus. Sollte die Anzahl Abrufe in Zukunft steigen, plant CKW, die technischen und administrativen Prozesse zur Erbringung der überobligatorischen Spannungshaltung zu automatisieren.
Spannungshaltung im Verteilnetz
Nachdem die zwei Maschinengruppen, welche direkt an das Übertragungsnetz angeschlossen sind, optimal für die (über-)obligatorische Spannungshaltung eingesetzt werden, stellte sich für CKW die Frage, wie die dritte 50-Hz-Maschinengruppe zur Spannungshaltung eingesetzt werden kann. Bild 3 zeigt, dass diese Maschinengruppe (MG6) in das 50-kV-Verteilnetz einspeist und keine direkte Spannungshaltung für das Übertragungsnetz erbringen kann.
Da das Verteilnetz durch einen Transformator mit dem 220-kV-Übertragungsnetz gekoppelt ist, besteht die technische Voraussetzung, um den Blindleistungsaustausch dieses Netzknotens (T21) zu regeln. Deshalb hat CKW beschlossen, die Spannungshaltungsregelung zu erweitern und den Übertragungsnetz-Knoten des Transformators T21 für die aktive Teilnahme an der Spannungshaltung zu präqualifizieren. Gemäss den Vorgaben von Swissgrid haben alle direkt dem Übertragungsnetz unterlagerten Netze die Möglichkeit, zwischen einer aktiven oder passiven Teilnahme an der Spannungshaltung zu wählen und nach erfolgreicher Präqualifikation an der aktiven Spannungshaltung teilzunehmen.
Das von CKW implementierte Regelkonzept des Netzknotens T21 ist in Bild 3 dargestellt. Die Übermittlung des Spannungshaltungsfahrplans funktioniert wie oben beschrieben. Im Unterschied zur Spannungshaltung mit den Maschinengruppen, die direkt ins Übertragungsnetz einspeisen, werden aber zwei grundlegende Betriebszustände unterschieden:
Spannungshaltung T21:
- T21 verfügt über einen eigenen Regler, der die Blindleistung und die 50-kV-Spannung des Transformators ausregeln kann.
- Sobald T21 am Netz gekoppelt ist, empfängt dieser vom Netzführungssystem den Spannungssollwert und regelt den Blindleistungsbezug abhängig vom Spannungsistwert des Netzknotens T21 des Unterwerks Göschenen aus.
Spannungshaltung mit MG6:
- Sobald MG6 und T21 am Netz betrieben werden, sendet das Netzführungssystem den Spannungssollwert an die Spannungshaltungsregelung des Kraftwerks Göschenen.
- Damit die von MG6 erzeugte Blindleistung über T21 ins Übertragungsnetz eingespeist werden kann, sorgt der Regler des T21 dafür, dass die Spannung des 50-kV-Netzes auf einen stabilen Wert fixiert wird.
Mit diesen Betriebskonzepten und entsprechenden Betriebsvereinbarungen zwischen Verteilnetz- und Kraftwerksbetreiber ergeben sich die folgenden Vorteile:
- Der Übertragungsnetzbetreiberin steht zusätzliche Blindleistungskapazität zur Verfügung.
- Der Verteilnetzbetreiber vermeidet Kosten aufgrund von Blindenergiebezug in der passiven Rolle und kann durch Zusatzerträge als aktiver Teilnehmer seine Netzkosten senken.
- Der Kraftwerksbetreiber erhält Zugang zur Spannungshaltung.
Erste Betriebserfahrungen haben gezeigt, dass die implementierte Lösung zuverlässig funktioniert und die Regelung sehr robust ist, wenn alle Betriebsmittel verfügbar sind. Da das Konzept sowohl die Verfügbarkeit von Netzelementen als auch Maschinengruppen voraussetzt, müssen die Ausserbetriebnahmen der einzelnen Anlagen gut aufeinander abgestimmt werden.
Fazit
Das Beispiel Kraftwerk Göschenen zeigt, dass es möglich ist, mit innovativen Betriebskonzepten die Spannungshaltungskapazität im (über-)obligatorischen Bereich zu steigern. Damit Investitionen in solche Konzepte von den Kraftwerksbetreibern getätigt werden, sind aber stabile regulatorische Rahmenbedingungen und faire, transparente Vergütungsmodelle durch den Übertragungsnetzbetreiber notwendig. In der Schweiz sorgt Swissgrid für die entsprechende Planungssicherheit. Bis dato sind die technischen und ökonomischen Potenziale der Wasserkraftwerke, insbesondere der Hochdruckspeicherkraftwerke, jedoch noch nicht vollumfänglich ausgeschöpft. Da der Bedarf an Spannungshaltungskapazität in Zukunft weitersteigen wird, überarbeitet Swissgrid das Spannungshaltungskonzept, damit das technische Potenzial mit gezielten Investitionen besser genutzt werden kann.
Weiter zeigt sich am Beispiel der Spannungshaltung mit Erzeugungseinheit im Verteilnetz, dass dank enger Zusammenarbeit zwischen Kraftwerks- und Verteilnetzbetreiber weitere Spannungshaltungskapazitäten erschlossen werden können.
Referenzen
[1] Swissgrid AG, «Konzept für die Spannungshaltung im Übertragungsnetz der Schweiz ab 2011», 2010.
[2] A. Zigkiri, M. Scherer, J. Gallmann, C. Roduner and L. Cuderman, «On centrally coordinated voltage support in a self-dispatch system», in Power & Energy Society General Meeting, IEEE, 2017.
[3] B. Comte, «Betrieb und Wartung von Wasserkraftwerken», 1998.
Die Autoren bedanken sich bei Mirko Feindel, Specialist Ancillary Services & Analytics bei Swissgrid AG, für die Bereitstellung der Daten betreffend die überobligatorischen Abrufe.
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