Fachartikel Software

Schweizer VR formt zukünftige Augenärzte

Augenmodell von innen «erleben»

23.10.2019

Heute wird die virtuelle Realität (VR) zu einem grossen Teil durch die Welt der Unterhaltung und des Trainings genutzt. Immersive Technologien werden aber zunehmend für ihr Potenzial im Gesundheitswesen entdeckt. VR fördert Arbeitsverfahren und die Telekommunikation in der Augenheilkunde, aber auch in anderen Berufen.

Das Auge ist ein Wunderwerk der Natur. Rund 80% aller Informationen über die Umwelt werden durch das Auge ans Gehirn geliefert. Dabei werden elektromagnetische Lichtwellen durch winzige Sinneszellen aufgeschlüsselt in Informationen wie Farbe, Form und Bewegung.

Sehschwache Menschen sind auf eine gute Beleuchtung angewiesen, da die Verletzungsgefahr sonst steigt. Wechselnde Beleuchtungen verwirren und verunsichern. Ein Tunnel stellt für einen Autofahrer mit Sehbeeinträchtigung ein gewaltiges Problem dar, weil er nicht nur sich selber, sondern auch andere ungewollt gefährden kann. In Kaufhäusern können grelle Beleuchtungen Blendung und Kopfschmerzen auslösen. Betroffene meiden Gebäude, bei denen die Treppenstufen aus Design­gründen dezent gestaltet sind. Schlechtes Sehen kann auch zu Rückzug und zu sozialer Verarmung führen.

Virtuelle Realität nimmt Einzug

VR und die damit verbundene Datentechnologie haben das Potenzial, Arbeitsverfahren in der Augenheilkunde zu beschleunigen. Die Augenheilkunde ist besonders gut positioniert, um von der VR-Revolution zu profitieren, da sie seit vielen Jahren unschädliches Laser-Licht zur Herstellung von dreidimensionalen Bild-Informationen nutzt.

Der früher von Augenärzten meist angewandte Ansatz, Gewebe-Untersuchungen an Proben durchzuführen und Gewebe zu schneiden, um 2D-Bilder der Schnitte zu erhalten, ist begrenzt, denn man kann es nur einmal durchführen und verliert unweigerlich wertvolle Informationen. Hier kann VR die medizinische Praxis, Forschung und Ausbildung erneuern und die Kommunikation mit den Patienten verbessern.

Eine Machbarkeitsstudie, die in London unter Schweizer Führung durchgeführt wurde, zeigte die Leistungsfähigkeit einer neuen, in Basel entwickelten VR-Software. Dabei wurde erstmalig eine Echtzeit-Volumen-Rendertechnologie zur Darstellung von Daten für die Optische Kohärenztomographie (OCT) und Shadow Ray Casting in einer VR-Umgebung ermöglicht.

Laserbasierte Kohärenz­bildgebungs-Technologie

Für VR kann die Optische Kohärenz­tomographie (OCT) eingesetzt werden. Sie ist eine der am meisten eingesetzten Technologien zur Bildgebung der Netzhaut. Es handelt sich um eine berührungslose Bildgebungstechnologie, die mit Laserlicht mit niedriger Kohärenz optische Streuungen aus dem Gewebe auffängt, ohne den Patienten zu schädigen. Das Resultat ist ein detailreiches Bild mit einer Auflösung im Mikrometerbereich. OCT bietet zwar gewisse Vorteile, ist aber wie alle Bilddarstellungen durch mangelnde Interaktivität und räumliche Navigation eingeschränkt.

Diese Einschränkungen wurden nun durch eine interdisziplinäre Pionierabeit überwunden, um Echtzeit-Bilder in den virtuellen Raum zu übertragen. Dadurch wurde die nächste Generation der OCT-Bilddarstellung eingeführt.

Neue Erkenntnisse mit VR

Diese neue VR-Technologie verwischt die Grenze zwischen der physischen Welt und der Computersimulation. Ärzte waren bisher darauf beschränkt, die Bilder der Patienten aus der Vogelperspektive zu betrachten. Nun wird man mit der neuen Technologie ein Teil des Bildes und kann sich in digitalen Welten bewegen, um sich als Chirurg auf eine Operation im Detail vorzubereiten. Zudem kann dem Patienten ein interaktives Erlebnis geboten werden, das durch Visualisierungen seines Auges zum besseren Verständnis seines Zustandes führen kann.

Im Rahmen einer weltweit ersten Machbarkeitsstudie erstellten der Autor und das Team um Prof. Philippe Cattin ein in C++/OpenGL geschriebenes VR-­Programm zum Importieren und Anzeigen von volumetrischen OCT-Daten mit einem High-End-Computer und einem vernetzten, kopfmontierten Display. Das Ray-Casting-System wurde integriert für eine realitätsnahe Darstellung, indem auch Schattenwürfe in Echtzeit mit 180 Bildern pro Sekunde
(zweimal 90 Bilder pro Sekunde und Auge) berechnet wurden. Dies ergibt eine hohe Realitätsnähe und Klarheit.

Die VR-Applikation erlaubte neue Ansichten und Interaktionen in einer augenblicklich projizierten digitalen Landschaft unter Verwendung von Punktwolkendaten und nicht von polygonbasierten Darstellungen.

Für diese VR-Anwendung wurden zahlreiche Aufgaben erstellt, darunter die Manipulation des VR-Modells mit Änderung des Blickwinkels der ersten Person, Änderung der Modellgrösse, Walk-Through-Option, Anpassung des Strahlengusslichts an die gewünschte Region, VR-Schnitt mit einer Ebene, Anzeige und Schneiden der ursprünglichen Punktwolke in jede Richtung sowie stereotaktische, bimanuelle Manipulationen. Der Realitätssinn wurde durch die Verwendung von vernetzten Headsets mit Kopfbedeckung verstärkt, die eine «room scale»-­Tracking-Technologie ermöglichten, mit denen sich der Benutzer im 3D-Raum bewegen und mit bewegungsgesteuerten Handheld-Controllern mit dem VR-Modell interagieren kann.

Resultate der ersten Studie

Die VR-Erfahrung wurde von 57 Personen getestet. 35 Augenärzte, 6 Optiker und 14 weitere medizinische Fachkräfte dokumentierten den Test. Über 70% der Teilnehmer hatten dank des Systems ein besseres Verständnis des klinischen Falls, ihr Vertrauen wurde erhöht und das System erweiterte ihr Wissen über Augenerkrankungen. 60,9% stimmten zu, dass es als Instrument eingesetzt werden könnte, um potenzielle Probleme zu erkennen und geeignete Massnahmen zu ergreifen, und 63,5% waren der Ansicht, dass das System die Wahrscheinlichkeit von Fehlern verringern könnte. 89,5% der Befragten würden die Applikation anderen empfehlen. Die Studie bekräftigt die Sicherheit dieses VR-Systems für eine Darstellung von 3D-Daten. Die meisten Probanden berichteten von einem sehr angenehmen VR-OCT-Präsenzeffekt ohne das Auftreten von Übelkeit oder Verwirrung.

Auswirkungen auf den Gesundheitssektor

Die neuen VR-Welten sind nicht wie ein medizinisches Lehrbuch, das man gelesen hat. Sobald man ein Buch schliesst, scheint der Wissenstransfer abgeschlossen zu sein. Stattdessen können die VR-Modelle Ärzte so begleiten, dass sie ein Teil von ihnen werden. Dadurch wird nicht nur der Arzt fähiger, sondern alle, die an dieser Art der visuellen Informationen teilnehmen können, d. h. auch Patienten und Studierende, beispielsweise bei der medizinischen Ausbildung, der Weiterbildung und Beratung durch Spezialisten. So wird dieses VR-System seit Kurzem für die medizinische Lehre am Augenspital in Basel und Moorfields in London und an der Universität Basel zur präoperativen Planung von Wirbelsäulenoperationen und zum Abklemmen von Aneurysmen von Hirngefässen eingesetzt.

Für Studenten und Patienten ist die Informationsverarbeitung viel einfacher und intuitiver, weil sie zum Beispiel ein Augenmodell von innen erleben können, als würden sie in den Bergen wandern. Zudem hat VR als digitale Anwendung das Potenzial, geografische Barrieren durch telemedizinische Kommunikation zu beseitigen, was Ärzten und Forschern an unterschiedlichen Standorten hilft, effektiv und effizient am gleichen Projekt zusammenzuarbeiten. Mit ihren Kommunikationsmöglichkeiten birgt die vir­tuelle Realität ein grosses Potenzial in der kollaborativen Medizin.

Autor
Dr. Peter Maloca

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Moorfields Eye Hospital in London und Gruppenleiter für Ophthalmic Imaging am Institute of Molecular and Clinical Ophthalmology der Universität Basel.

  • Universität Basel
    4056 Basel

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