Schrittweise zur optimalen Fertigung
Die Rolle von Industrie 4.0
Viele Firmen stellen sich heute zu Recht die Frage, ob sie die Effizienz ihrer Fertigung mit Industrie 4.0 steigern könnten. Aber für eine erfolgreiche Digitalisierung müssen zunächst bestehende Prozesse optimiert werden. Zudem beschränkt sich die Einführung von Industrie 4.0 nicht nur auf technische Aspekte.
Unternehmen, die Produkte herstellen, fragen sich nicht nur, welche Produkte sie auf den Markt bringen sollen, sondern auch, wie sie diese Produkte am effizientesten und preisgünstigsten produzieren können. In diesem Zusammenhang taucht dann öfter die Frage auf, ob sich der Einsatz von Industrie 4.0 lohnen würde – dem Konzept der digitalisierten Wertschöpfungskette mit dezentraler, vernetzter Intelligenz. Die Antwort auf diese Frage ist nicht immer einfach, denn man hat es bei Industrie 4.0 mit einem Konzept zu tun, das nicht ab Stange erhältlich ist. Dr. Hans Wernher van de Venn, Professor an der ZHAW und Leiter des Instituts für Mechatronische Systeme, befasst sich schon lange mit der Digitalisierung in der Industrie. Er betont: «So individuell wie ein Unternehmen ist, so individuell muss auch dessen Industrie-4.0-Lösung aussehen.» Um eine Antwort zu finden, werden manchmal Readiness-Diagnosetools eingesetzt. Anhand einiger Fragen kann man ermitteln, wie weit ein Unternehmen von einer Implementierung von Industrie 4.0 entfernt ist und wo noch Handlungsbedarf besteht. Das mag zwar zum Einstieg nützlich sein, nimmt aber dem Management nicht die Frage ab, was die Unternehmensziele sind und wie sie mit Industrie 4.0 erreicht werden könnten. Eigentlich müssten sich Firmen diese Frage kontinuierlich stellen, um das Optimum aus ihrem Potenzial herauszuholen. Wenn hier keine Klarheit herrscht, bringt ein punktuelles Implementieren von Industrie-4.0-Elementen nur wenig.
Ein weiteres Thema, um das man nicht herum kommt, ist die Optimierung der bestehenden Produktionsprozesse.[1] Es geht um Lean Production, einer Produktion, bei der das Produktionstempo nicht von Prognosen bestimmt ist, sondern vom tatsächlichen Bedarf. Wenn es gelingt, die Geschäftsprozesse vom Einkauf bis zur Auslieferung von Produkten zu synchronisieren, können Verzögerungen in der Produktion bzw. Ineffizienzen wie Zwischenlager minimiert werden. Diese unter dem Begriff Kanban bekannte Methode ist an sich nichts Neues: Sie geht zurück auf das 1947 durch Taiichi Ohno bei Toyota entwickelte Produktionsprinzip.
Digitalisierung als zweiter Schritt
Erst wenn man die Prozesse verschlankt, Engpässe beseitigt und die Materialwege in der Fabrik optimiert hat, kann die Digitalisierung einen Mehrwert schaffen: Einerseits durch die Automatisierung gewisser Prozesse und andererseits durch das Eröffnen neuer Möglichkeiten, beispielsweise von Online-Bestellungen, die automatisch in die Produktion fliessen, ohne Informations- und Systembruch. Wenn ausserdem aktuelle Daten von bereits genutzten Produkten zurückfliessen können, wird auch eine vorbeugende bzw. zustandsabhängige Wartung möglich. Gemäss van de Venn gab es das auch schon früher: «Es ist die Integration der Services und der Produktion in ein gemeinsames Konzept, welches die gesamte Wertschöpfungskette ausmacht.»
Zu den neuen Möglichkeiten gehört beispielsweise das Konzept der digitalen Zwillinge, d. h. von Modellen, die physische (aber manchmal auch immaterielle) Produkte und ihr Verhalten mittels Daten und Algorithmen möglichst genau beschreiben. Mit ihnen lassen sich Simulationen durchführen, um die Anzahl Prototypen zu reduzieren (frühes Erkennen von Konstruktionsfehlern), um Entwicklungszeiten zu verkürzen und um Produktionsabläufe zu optimieren.
Aber die digitalen Zwillinge sind nicht nur für die Entwicklung und die Produktion nützlich, sondern zukünftig unter anderem beim Recycling, wo man die sortenreine Rückgewinnung vereinfachen und verbessern könnte.[2] Eine der Herausforderungen hier ist die Motivation der Hersteller, die nötigen Daten zur Verfügung zu stellen. Denn obwohl dafür nur ein Bruchteil der Produktdaten nötig wäre, sind Hersteller oft aus Datenschutzgründen zurückhaltend mit der Herausgabe solcher Daten.
Die Mitarbeitenden nicht vergessen
Zu einer erfolgreichen Umsetzung der Digitalisierung führen aber nicht nur technische Aspekte. Es ist ebenso wichtig, die Mitarbeitenden in den Transformationsprozess mit einzubeziehen. Einerseits, um ihr spezifisches Know-how berücksichtigen und ihnen so Wertschätzung zeigen zu können, andererseits, um es ihnen zu ermöglichen, sich mit den Umstellungen und mit ihrer neuen Rolle zu identifizieren. Widerstand in den eigenen Reihen kann teuer werden.
Das Sensibilisieren der Mitarbeitenden sollte laut van de Venn auf mehreren Ebenen stattfinden. Zunächst sei es wichtig, die Unternehmensziele im Bereich Industrie 4.0 klar zu kommunizieren und das Bewusstsein zu wecken, dass der Wandel bereits stattfindet. Ein Hinweis auf ähnliche Technologien aus dem Privatbereich, die von Konsumenten schon genutzt werden, erhöht die Akzeptanz und macht den Nutzen klar. Dann gilt es, das Interesse an den Technologien zu wecken, um Motivation für die erforderliche Weiterbildung zu schaffen. Gleichzeitig können Wissenslücken identifiziert und mit betrieblicher Weiterbildung die nötigen Kompetenzen vermittelt werden. Und es besteht durchaus die Chance, dass sich die Transformation für die Mitarbeitenden positiv auswirkt, beispielsweise indem sie eine verantwortungsvollere Aufgabe übernehmen können, mit weniger repetitiven Aufgaben. Auch Professor Dieter Fischer, Dozent am Institut für Business Engineering der FHNW, betont, dass eine zielgerichtete und nachhaltige Umsetzung der Digitalisierung erst möglich ist, wenn die internen Industrie-4.0-Kompetenzen aufgebaut sind und die nötige Akzeptanz vorhanden ist. Die Leute müssen eingebunden werden.
Damit sich Systeme verstehen
Ein Aspekt, der bei der Industrie-4.0- Lösungsvielfalt an Bedeutung gewinnt, ist die Interoperabilität. Hier befindet man sich in einem Spannungsfeld zwischen proprietären und interoperablen Lösungen. Meist sind es grosse Hersteller, die mit proprietären Lösungen Kunden an sich binden wollen. Sie bieten dafür ein breites Spektrum an kompletten, oft modularen Systemen an. Kleinere Hersteller bedienen hingegen oft spezifische Nischen und sind deshalb eher auf Interoperabilität angewiesen, damit ihre Produkte in grössere Systeme integrierbar sind.
Zunehmend etabliert sich das in IEC 62541 definierte Kommunikationsprotokoll OPC UA (Open Platform Communications Unified Architecture) als offener Schnittstellenstandard. Gemäss van de Venn ist OPC UA auch konsequenterweise als einzige Empfehlung im Reference Architecture Model for Industry 4.0 (RAMI 4.0) enthalten. Van de Venn fügt hinzu: «Die von der deutschen Plattform Industrie 4.0 entworfene Checkliste für Produkthersteller sieht die Kategorien Basic, Ready und Full vor, wobei bereits die Stufe Basic beinhaltet, dass eine Komponente mindestens OPC UA fähig ist.» Zurzeit arbeitet man an einer Erweiterung dieses Standards zu einer echtzeitfähigen Lösung (OPC UA TSN). Van de Venn konstatiert erfreut: «Mit OPC UA gibt es also zum ersten Mal einen wirklich unabhängigen Protokollstandard in der Automatisierungstechnik, der von einer grossen Anzahl von Herstellern gemeinsam unterstützt und getragen wird.»
Nebst der technischen Ebene muss aber auch die datenlogische Ebene berücksichtigt werden, die besonders dann anspruchsvoll wird, wenn an den Prozessen mehrere Gruppen wie Zulieferer, Service- und Vertriebsorganisationen beteiligt sind. Gemäss Fischer müssen die involvierten Gruppen die zu verbindenden Prozesse inhaltlich verstehen und entsprechende Konventionen festlegen. Fischer betont: «Diese Ebene ist heute der dominantere Kostentreiber bei der Realisierung und Wartung von Schnittstellen.»
Gefahren lauern
Nebst den Einsatz- und Schnittstellenfragen trägt eine weitere, durch die Vernetzung besonders brisante Frage zur Unsicherheit bei: die Frage nach äusseren «Einwirkungen»: Industriespionage, Cyberattacken, Bedrohungen der funktionalen Sicherheit. Dies sei heute gemäss Fischer der grösste Disabler von Industrie 4.0. Diese Gefahren sind natürlich bei modularen, flexiblen Anlagekomponenten höher als bei konventionellen Fertigungslösungen mit bekannten, planbaren Konfigurationen. Alle sicherheitsrelevanten Daten und Parameter müssen deshalb überwacht werden und die dynamische Anlagenkonfiguration muss sicherheitstechnisch beherrschbar sein. Für van de Venn steht fest, dass «eine Überwachung bei Industrie-4.0-Anwendungen deshalb nur automatisch erfolgen kann, da kein Anlagenbediener in der Lage sein wird, die auftretenden, komplexen Konfigurations- und Überwachungsaufgaben in allen Situationen zu beherrschen.» Diese Herausforderung könne heute aber mit Sicherheitssteuerungen gemeistert werden, die unter anderem über Schutzfunktionen wie Know-how-, Kopier- und Zugriffsschutz verfügen. Zudem müssen die aus dem IT-Bereich bewährten Massnahmen wie rechtzeitige Software- und Firmware-Updates ausgeführt werden, um erkannte Sicherheitslücken zu schliessen. Van de Venn weist auf eine weitere Gefahr hin: «Eines der grössten Sicherheitsrisiken ist der Mensch selbst. Unachtsamkeit und Nachlässigkeit öffnen potenziellen Angreifern viele Einfallstore, welche unbedarften Mitarbeitern meist nicht bekannt sind, oder als unwahrscheinlich abgetan werden.»
Ausbildungsbedarf
Van de Venn und Fischer betonen, dass der Ausbildungsbedarf im Bereich Industrie 4.0 grundsätzlich sehr hoch ist. Da das Gebiet interdisziplinär ist, hat der Industrie-4.0-Ingenieur ein anderes Profil als der heutige Automationsingenieur. Die IT bekommt dabei zwar einen höheren Stellenwert, aber reine IT-Spezialisten haben zu wenige Kenntnisse bezüglich Automatisierungstechnik. Van de Venn macht auf eine weitere Herausforderung aufmerksam: «Zunächst müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass die Innovationszyklen heute deutlich kürzer sind als die Ausbildungszyklen, d. h. bei einer normal langen Studiendauer kann bereits das am Anfang des Studiums erlernte Wissen zwar noch richtig, aber nicht mehr aktuell sein.» Er plädiert deshalb für eine zweispurige Strategie: dem Lernen aus der industriellen Praxis sowie dem Transfer von neuem Wissen aus der angewandten Forschung und Entwicklung direkt in die Industrie. Dazu schlägt er eine Reihe von Massnahmen vor, die die Initiierung und Förderung von Modellprojekten gemeinsam mit der Industrie, die Einrichtung und Förderung von Best-Practice-Netzwerken sowie die Förderung von neuen Industrie-4.0- spezifischen Lerninhalten und interdisziplinärer Zusammenarbeit zwischen den Ingenieurdisziplinen und der IT umfassen.
Fazit
Das Konzept Industrie 4.0 ist heute ein Hype-Thema, bei dem viele Fragen offen und eine Fülle von entsprechend angepriesenen Produkten auf dem Markt sind. Die Praxis zeigt, dass sich der Einsatz der Digitalisierung lohnen kann, wenn vorher die Unternehmensziele klar definiert wurden, die nötigen Optimierungsarbeiten an den Fertigungsprozessen durchgeführt und die Mitarbeitenden in den Transformationsprozess einbezogen und entsprechend ausgebildet werden. Zudem sollte der Umbau so ausgeführt werden, dass er überschaubar und kontrollierbar bleibt. Mit kleineren Implementierungen können Know-how und Erfahrung aufgebaut werden, die es später ermöglichen, Fehler mit grösseren finanziellen Auswirkungen zu vermeiden und das für grössere Transformationen nötige Selbstvertrauen aufzubauen.
Ausbildung
Sowohl die ZHAW als auch die FHNW bieten diverse Kurse im Kontext der Industrie 4.0 und der Digitalisierung an. Der ZHAW-Kurs «CAS Industrie 4.0 – von der Idee zur Umsetzung» und der «CAS Industrie 4.0» der FHNW befassen sich konkret mit dem Thema.
Referenzen
[1] Giorgio V. Müller, «Standardisierung der Prozesse kommt vor der Digitalisierung», NZZ, 17. April 2018, S. 28.
[2] Bettina Reckter, «Digitaler Zwilling optimiert Wertstoffrückgewinnung», VDI Nachrichten, 18. Mai 2018, S. 1.
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