Fachartikel Energiemarkt , Regulierung

Schonfrist abgelaufen, Massnahmen sind nötig

Unbundling

26.04.2022

Artikel 10 des Stromversorgungsgesetzes besagt, dass Energieversorgungsunternehmen Netzbetrieb und übrige Tätigkeitsbereiche entflechten müssen. Diverse Strafverfahren haben gezeigt, dass der Artikel nach wie vor viel Interpretationsspielraum lässt. Daher sollten sich Energieversorger fit machen für die informatorische Entflechtung. Lösungsansätze dazu liefert dieser Artikel.

Vor gut 14 Jahren ist mit dem neuen Stromversorgungsgesetz (StromVG) dessen Art. 10 in Kraft getreten. Dieser regelt die Entflechtung zwischen dem Netzbetrieb und den übrigen Tätigkeitsbereichen eines vertikal integrierten Energieversorgungsunternehmens (EVU). Das «Unbundling» setzt sich zusammen aus einem Verbot der Quersubventionierung des Netzbetriebs zugunsten der Wettbewerbsbereiche [1] und aus der informatorischen Entflechtung.

Letztere wird in Art. 10 Abs. 2 StromVG geregelt. Im Wesentlichen besagt das informatorische Unbundling, dass Informationen, die aus dem Netzbereich gewonnen werden, nicht für Zwecke eines Wettbewerbsbereichs verwendet werden dürfen.1) Wer dies trotzdem tut, macht sich auch im Falle einer fahrlässigen Begehung strafbar; es besteht eine erhebliche Bussenandrohung von bis zu 100'000 CHF respektive 20'000 CHF bei fahrlässiger Begehung.[2]

Verschiedene Gerichte, Verwaltungsbehörden und Fachartikel haben sich mit der informatorischen Entflechtung beschäftigt, und es wurden auch schon verschiedene Strafverfahren gegen Verantwortliche und deren EVUs geführt. Dabei hat sich gezeigt, dass über den materiellen Gehalt von Art. 10 Abs. 2 StromVG auch heute noch wenig Klarheit und ein erheblicher Interpretationsspielraum besteht.2) So ist dem Autor bekannt, dass selbst seitens von vermeintlich zuständigen Bundesbehörden Auskünfte erteilt wurden, die sich nachträglich als (möglicherweise) falsch herausstellten. Dass Strafverfahren gegen Verantwortliche und EVUs geführt wurden, die sich auf diese behördlichen Auskünfte verlassen haben, ist für die Betroffenen sehr unbefriedigend. Die Verfahren wurden schliesslich eingestellt, was zwar korrekt und erfreulich ist, trotzdem: Die Dauer eines Strafverfahrens ist für alle Betroffenen sehr belastend und teuer, auch wenn am Ende eine Einstellung oder ein Freispruch erfolgt.

Auch wenn über den materiellen Gehalt nach wie vor wenig Klarheit besteht, wird der Spielraum für die Verantwortlichen und die EVUs offenbar zunehmend enger. Das für die Eröffnung von Strafverfahren zuständige Bundesamt für Energie (BFE) [3] scheint je länger, je rigoroser vorzugehen.

Höchste Zeit, um zu handeln

Die Verantwortlichen sind trotz der bestehenden Unsicherheiten dringend gehalten, in ihren Betrieben das Notwendige vorzukehren, damit sie (zumindest) aufzeigen können, dass sie die Thematik um die informatorische Entflechtung ernst nehmen.

Zunehmende Brisanz erhält die Thematik auch im Zusammenhang mit dem flächendeckenden Ausrollen von Smart Metern. Damit erhalten EVUs aus dem Netzbetrieb künftig deutlich mehr Daten, mit welchen sie nicht bloss im Rahmen der datenschutzrechtlichen Bestimmungen sorgsam umzugehen haben, sondern auch im Rahmen der informatorischen Entflechtung.3)

Wer dies im aktuellen Zeitpunkt unterlässt, setzt sich und sein EVU einer zunehmenden Gefahr aus, entsprechend belangt zu werden. Bei möglichen Verstössen drohen aufwendige Verfahren für das EVU und Verantwortliche, Bussen zulasten des EVU oder der Verantwortlichen und nicht zuletzt ein Reputationsverlust.

Betroffene Unternehmen und Personen

Von der informatorischen Entflechtung sind grundsätzlich nur jene EVUs betroffen, die neben dem Netzbetrieb auch Tätigkeiten vornehmen, die dem Wettbewerb ausgesetzt sind. Insbesondere gehören sämtliche vertikal integrierten EVUs dazu.[4, 5] Diese betreiben neben dem Netzbetrieb und dem Stromvertrieb in der Grundversorgung auch den Stromvertrieb für Grosskunden, Netzdienstleistungen für Dritte, Elektro- und Gebäudetechnikdienstleistungen und beispielsweise auch Sicherheitsprüfungen, Wasserversorgung, LWL-Angebote etc.

Demzufolge müssen sich nur jene Personen um die Vorgaben von Art. 10 Abs. 2 StromVG kümmern, welche für ein vertikal integriertes EVU arbeiten. Sie können Informationen erhalten, die aus dem Netzbetrieb herrühren und die möglicherweise für einen Marktbereich von Interesse sein könnten. Da praktisch in allen Bereichen, die über den Netzbetrieb hinausgehen, solche Informationen nutzbringend sind, sind viele, wenn nicht praktisch sämtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eines vertikal integrierten EVU vom Unbundling betroffen.

Bei kleineren und mittleren EVUs üben viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus Effizienzgründen verschiedene Tätigkeiten im Netzbetrieb und anderen Bereichen aus; folglich sind insbesondere diese kleinen und mittleren EVUs gehalten, Massnahmen zu treffen.

Schutzobjekt

Art. 10 Abs. 2 StromVG zielt nicht auf den Schutz der Kunden oder der Daten ab, sondern auf den Schutz des fairen Wettbewerbs.[4, 5, 6] Folglich können die Kunden nicht auf diesen Schutz verzichten, beispielsweise indem sie entsprechende AGB akzeptieren.4) Der Schutz des fairen Wettbewerbs gälte trotzdem.

Da sich aus dem Netzbetrieb Informationen herauslesen lassen, die zu erheblichen Effizienzgewinnen führen können, ist dieser pauschale Schutz in gewissen Bereichen, volkswirtschaftlich beurteilt, nicht befriedigend. Dürften die Daten aus dem Netzbetrieb beispielsweise diskriminierungsfrei verwendet werden, könnten erhebliche Effizienzgewinne erzielt werden. Mithin könnte das sogar ein positiver Faktor sein, um die Ziele der Energiestrategie 2050 zu erreichen. Doch das ist aktuell nicht möglich beziehungsweise verboten.

Natürlich ist der Schutz des fairen Wettbewerbs zweifelsohne sinnvoll und angezeigt. Hingegen ist oftmals schwierig zu beurteilen, wo der Schutz des fairen Wettbewerbs beginnt, wo dieser Schutz zu einer Behinderung von vertikal integrierten EVUs und wo er zu volkswirtschaftlich ungünstigen Ergebnissen führt. Dort wo Effizienzmassnahmen verhindert werden, sollten seitens der Politik Möglichkeiten geschaffen werden, um dieses Potenzial auszunutzen. Dort, wo vertikal integrierte EVUs benachteiligt werden, beispielsweise weil sie aufgrund der informatorischen Entflechtung als nicht mehr kundenorientiert gelten, sollte Art. 10 Abs. 2 StromVG mit Augenmass umgesetzt werden.5)

Natürlich gibt es bei Zielkonflikten kaum je eine allumfassend «richtige Lösung». Jedoch gibt es bessere Lösungen als die aktuell bestehende. Dies mag auch daran liegen, dass Art. 10 StromVG zwar gilt, sein Gehalt aber nach wie vor unverdichtet geblieben ist.

Trotzdem – basierend auf dem aktuellen Wissensstand – sollen und müssen entsprechende Schutzmassnahmen zugunsten der betroffenen Verantwortlichen und EVUs umgesetzt werden.

Umzusetzende Massnahmen

Die Liste der umzusetzenden Massnahmen ist praktisch seit Einführung des StromVG bekannt.6) Jahrelange Praxiserfahrung hat gezeigt, dass diese Liste erheblich verkürzt werden kann, da entweder die jeweiligen Massnahmen viel Aufwand und praktisch keinen Nutzen bringen oder die verbleibenden Massnahmen die anderen in sich aufnehmen respektive ersetzen.
Es verbleiben die folgenden drei Massnahmen:

  • Bezeichnung einer Compliance-Stelle,7)
  • Erstellen einer Weisung betreffend informatorische Entflechtung,
  • Durchführung regelmässiger Schulung der betroffenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.


Auch bei diesen drei Massnahmen besteht noch Optimierungspotenzial: Es ist zweifelslos wünschenswert, wenn nicht erst im Falle eines Verstosses eine (interne oder externe) Compliance-Stelle bezeichnet wird. Diese kann bereits im normalen Geschäftsalltag bei Unklarheiten belastbare Antworten geben, und selbst wenn – was nie ausgeschlossen ist – ein Vorfall geschehen sollte, ist es für eine Compliance-Stelle deutlich einfacher, die Situation aufzuarbeiten und angezeigte Verbesserungsmassnahmen einzuführen, wenn sie das EVU bereits kennt. Selbstverständlich soll eine Compliance-Stelle auch nicht bloss für das Thema Entflechtung zuständig sein, sondern auch zu anderen Themen beraten. Dabei ist darauf zu achten, dass sie auf die Grösse des Unternehmens angepasst ist. Oft wäre eine Voll- oder auch Teilzeitstelle übermässig; entsprechend bieten sich sowohl für kleine wie auch für mittlere EVUs «Compliance as a Service» von spezialisierten Anwaltsbüros an. Damit lässt sich schnell und effizient auf ein breites und tiefes Know-how in angemessenem Umfang zurückgreifen.8)

Auch wenn eine Weisung jeweils unternehmensspezifisch anzupassen ist, gibt es darin auch eine Vielzahl von Standards, welche problemlos von einem anderen Unternehmen übernommen werden können. Insofern kann verhältnismässig einfach auf Bestehendem aufgebaut werden. Damit lässt sich erheblich Aufwand einsparen und die Qualität leidet darunter nicht.

Bei der Durchführung von Schulungen ist zu beachten, dass der Themenkreis «Unbundling» nicht der einzige Bereich ist, bei welchem Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von vertikal integrierten EVUs regelmässig zu schulen sind. So ist das Unbundling thematisch nahe am Wettbewerbs- und Kartellrecht, und es bestehen auch Überschneidungen mit dem Datenschutz. Es drängt sich auf, zumindest diese drei Bereiche integral zu schulen. Selbstverständlich können darüber hinaus auch noch weitere aktuelle Themenbereiche zusätzlich geschult werden. Wichtig ist, dass die Schulung möglichst unternehmensspezifisch und regelmässig stattfindet.

In welchem Rhythmus eine Schulung durchzuführen ist, hängt von der Unternehmensgrösse und der Personalfluktuation ab. Bei kleineren vertikal integrierten EVUs mit geringerer Personalfluktuation ist eine Schulung mindestens alle fünf Jahre ausreichend. Je grösser das EVU, umso öfter ist die Schulung durchzuführen; grosse EVUs sollten circa alle zwei Jahre eine Schulung durchführen. Selbstverständlich lassen sich auch elektronische/Web-basierte Schulungen durchführen, doch ist der Lerngehalt dabei tendenziell oft eher überschaubar und die Kosten bewegen sich in einem ähnlichen Bereich. Insofern ist im Zweifelsfall eine Vorort-Schulung vorzuziehen.

Mit der Umsetzung dieser drei optimierten Massnahmen werden die beiden angestrebten Ziele, das EVU und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter besser zu schützen, effizient erreicht.

Fazit

Selbst wenn der konkrete Gehalt der informatorischen Entflechtung immer noch viele Fragen offenlässt, hat das BFE begonnen, möglichen Widerhandlungen vermehrt nachzugehen und entsprechende Strafverfahren zu führen. Die Verantwortlichen bei vertikal integrierten EVUs sind daher angehalten, sicherzustellen, dass in ihren Betrieben Massnahmen umgesetzt sind, damit die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter das informatorische Unbundling gemäss Art. 10 Abs. 2 StromVG korrekt einhalten.

Wird eine Compliance-Stelle bezeichnet, besteht eine Weisung und werden regelmässige Schulungen veranstaltet, kann das EVU gut darstellen, dass es das Thema Unbundling ernst nimmt. Im Falle eines Verstosses schützt dies zumindest das EVU und die Geschäftsleitung.

Referenzen

[1]   Newsletter ElCom 12/2020 und 2/2021.
[2]   Art. 29 Abs. 1 lit. b und Abs. 2 StromVG.
[3]   Art. 29 Abs. 3 StromVG.
[4]   Lukas Lang, «Informatorische Entflechtung», EVU Partners AG, August 2019, S. 2.
[5]   Mariella Orelli, Martin Thomann, «Kommentar zum Energierecht», Bd. I, Bern 2016, N.  14.
[6]   Branchenempfehlung VSE zur Data Policy in der Energiebranche, Ausgabe Juli 2019, S. 17.

1) Art. 10 Abs. 2 StromVG spricht von «wirtschaftlich sensiblen Informationen», deren Verwendung in einem anderen Tätigkeitsbereich dann untersagt ist, wenn ein Marktvorteil damit erzielt werden könnte, BBl 2005, S. 1649. Ein unzulässiger Marktvorteil gegenüber anderen Markteilnehmern besteht, beispielsweise wenn ein Minderaufwand für dessen Erlangung notwendig ist, ein zeitlicher Vorsprung erzielt wird oder ein Mehrertrag in Aussicht stehen könnte, s. [6].
2) Dies wurde bereits früher festgestellt, s. Susanne Leber, Entflechtung bei Verteilnetzbetreibern, Teil 2, in Bulletin SEV/VSE 6/2010, S. 57. So ist beispielsweise nicht abschliessend geklärt, ob Art. 10 Abs. 2 StromVG nicht auch Informationen, welche aus dem Stromvertrieb in der Grundversorgung herrühren, als «wirtschaftlich sensibel» beurteilt; ohne nähere Prüfung wohl bejahend: Branchenempfehlung VSE zur Data Policy in der Energiebranche, S. 18, und Mariella Orelli, Martin Thomann, in Kommentar zum Energierecht, Bd. I, Bern 2016, N. 9 zu Art. 10 StromVG. Sind also auch Informationen aus dem Stromvertrieb in der Grundversorgung von Art. 10 Abs. 2 StromVG erfasst, obwohl nur vom «Betrieb der Elektrizitätsnetze» die Rede ist? Eine weitere Frage ist, ob bereits Adressen als «wirtschaftlich sensible Informationen» gelten, obwohl Adressen grundsätzlich öffentlich zugänglich sind. Allenfalls stellt sich dabei die Frage einer Zahlung für diese Adressen an den Netzbetrieb.
3) Zum Umgang mit den Daten vgl. [6] passim.
4) Beispielsweise, indem das EVU den Kunden darüber unterrichtet, dass sich sein Stromverbrauch durch den Einsatz einer Photovoltaik-, Batteriespeicheranlage oder einer anderen Heiztechnologie erheblich – auch finanziell attraktiv – optimieren lassen würde.
5) Zu denken ist beispielsweise an einen Netzbetreiber, der seine Kunden aufzufordern hat, eine regelmässige Sicherheitsprüfung vorzunehmen, diesen Kunden jedoch nicht mitteilen dürfen sollte, wer solche Sicherheitsprüfungen durchführt. Kunden werden dies als wenig kundenorientiert auffassen und sind von einem solchen vertikal integrierten EVU möglicherweise (und verständlicherweise) enttäuscht.
6) Diese Liste ist: Definition einer Compliance-Stelle (intern oder extern), Bestimmung der wirtschaftlichen sensiblen Informationen, Darstellung der Prozesse, in welchen diese Daten (weiter-)verarbeitet werden, Evaluation des Personenkreises, der mit diesen Informationen in Kontakt kommt, Aufnahme einer Verpflichtung zur Einhaltung in den Arbeitsverträgen, Erstellen einer Weisung betreffend informatorische Entflechtung, regelmässige Schulung der betroffenen Personen. Vgl. dazu insgesamt Leber, S. 57 ff.
7) Diese Compliance-Stelle kann sowohl intern als auch extern sein. Als hilfreich beim Erkennen möglicher Unzulänglichkeiten haben sich in diesem Zusammenhang auch Whistleblowing-Hotlines erwiesen, welche zum Schutz der Anzeiger vorzugsweise von externen Anbietern betrieben werden.
8) Denkbar wäre beispielsweise, eine externe Compliance-Stelle für ein oder zwei Tage pro Monat oder für ein Dienstleistungspaket von 50 Stunden pro Jahr zu beauftragen.
Autor
Dr. Etienne Schön

ist Rechtsanwalt bei Agon Partners Legal  AG.

  • Agon Partners Legal AG, 8008 Zürich

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