Fachartikel Automation , ICT

Schöpfungsgeschichte der digitalen Fabrik

Das Projekt Genesis

20.07.2020

Die Halbleitermodulfertigung von ABB Power Grids in Lenzburg wird zurzeit komplett automatisiert und digitalisiert. Das entsprechende Programm namens «Genesis» ist europaweit das umfassendste Automatisierungs- und Digitalisierungsprojekt bei ABB. Der Standort in Lenzburg hat letztes Jahr für die Umsetzung seiner Digitalisierungsstrategie den Preis «Fabrik des Jahres» gewonnen.

Die Halbleitermodule von ABB werden als Umrichter für die Konversion zwischen Wechsel- und Gleichstrom verwendet und kommen u. a. in Traktionsanwendungen und in der Hochspannungs­gleichstrom­übertragung (HGÜ) zum Einsatz. Die dafür benötigten Leistungs­halbleiter­module werden in Lenzburg gefertigt. Aufgrund der steigenden Nachfrage nach solchen Modulen wurde in den Ausbau des Standorts und die Produktions­kapazitäten in Lenzburg investiert. Um die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts weiter zu erhöhen, wurde eine Strategie zur Automatisierung und Digitalisierung initiiert, die nicht nur den Vorteil gesteigerter Produktivität bietet, sondern durch die erhöhte Wiederholgenauigkeit einer automatisierten Fertigung auch die Ausbeute und Qualität der Produkte verbessert. Zusätzlich können durch die Digitalisierung Produktionsdaten erfasst werden, die dann für eine weitere Ausbeute- und Qualitätssteigerung verwendet werden können. Da Leistungshalbleiter meist in grossen Infrastrukturprojekten verwendet werden, können die benötigten Produktions­volumina stark schwanken. Dies kann mit einer automatisierten Fertigung wesentlich flexibler abgefedert werden.

Die Produkte durchlaufen Hunderte von Produktionsschritten, vom Anstoss der Silizium-Wafer bis zur Verpackung der fertigen Halbleitermodule. In den letzten ca. 50 Prozessschritten werden die Halbleiterprodukte (Chips), hergestellt aus den Silizium-Wafern, zu Modulen aufgebaut. Durch die Vielfalt der Produkttypen war bisher ein grosser Anteil an manueller Arbeit notwendig. Die Analyse der Fertigungsprozesse zeigte, dass viele nicht wertschöpfende Prozesse, wie etwa das Bereitstellen der Hilfsmaterialien, das Be- und Entladen sowie das Umrüsten von Anlagen und der Transport der Materialien, einen beträchtlichen Teil des Arbeitsaufwandes ausmachten. Somit mussten für eine signifikante Produktivitätssteigerung nicht nur die wertschöpfenden Prozesse, sondern auch die nicht wertschöpfenden, aber trotzdem nötigen Prozesse automatisiert werden. Das neue Konzept umfasste deshalb neben der Automatisierung sämtlicher Prozessschritte auch automatisierte Transporte, Umrüstprozesse und die Lagerung von Hilfsmaterialien.

Vom Konzept zur Umsetzung

Da die Produktionsstrecken nicht linear und zudem für die zahlreichen Produkte stark variieren, kamen Materialtransporte auf Förderbändern nicht infrage. Stattdessen wurde ein Transportsystem mit hoher Flexibilität benötigt. Die Lösung: fahrerlose Transportsysteme (AGV, Automated Guided Vehicles), die die jeweiligen Produkte zum nächsten Produktionsschritt bringen, unabhängig davon, wo sich die dafür benötigte Anlage befindet. Auch der Transport der Hilfsmittel aus den automatisierten Lagern sollte von den AGV übernommen werden.

Der Einsatz von AGV eröffnete ungeahnte Möglichkeiten und ist in einer flexiblen Fabrikautomatisierung ebenso wichtig wie die Industrieroboter. Jedoch erforderte eine so komplexe Produktion ein übergeordnetes System für die Steuerung der Materialflüsse und die Versorgung der Anlagen mit Informationen. Nachdem das Konzept vollständig ausgearbeitet war, begann die Suche nach geeigneten Lieferanten für Sonderanlagen, MES-Systeme und AGV. Als Lösung für die übergeordnete Steuerung wurde das MES (Manufacturing Execution System) «ABB Ability MOM» gewählt, welches sämtliche der rund 120 unterschiedlichen Anlagen vertikal integrieren sollte. Da für diese Aufgabe kein Generalunternehmer gefunden werden konnte, entschied man sich, diese Rolle selbst zu übernehmen.

Mangels Erfahrung mit grossen Automatisierungsprojekten wurde 2015 zunächst eine Pilotlinie aufgebaut, in der die vorgeschlagenen Automatisierungskonzepte für die wichtigsten Produktionsabläufe nachgestellt werden sollten. Damit sollte die Machbarkeit gezeigt, das Risiko minimiert und Know-how aufgebaut werden. In der Pilotlinie sollten Datenschnittstellen, Hardware (u. a. die AGV) und die Produktionslogik entwickelt und getestet sowie in einem realen Umfeld Erfahrungswerte gesammelt werden. Zudem sollten parallel dazu die Konzepte für die Fabrikautomatisierung anhand dieser Erkenntnisse weiterentwickelt und mit einer Prozessfluss­­simulation modelliert und durchgespielt werden, um mögliche Engpässe in der automatisierten Fertigung vorab erkennen zu können. Da es unmöglich gewesen wäre, neben dem operativen Tagesgeschäft eine Neuausrichtung dieser Grössenordnung zu planen und umzusetzen, wurde für dieses nun «Genesis» genannte Programm ein dediziertes Projektteam eingestellt.

Noch 2015 begann mit dem neu gebildeten Team, externen Partnern und der Unterstützung der internen Geschäftseinheiten Control Technologies und Robotics der Aufbau der Pilotlinie mit Industrierobotern, AGV sowie automatisierten Sonderanlagen, um das Konzept zu validieren und es dann auf die gesamte Fertigung hoch zu skalieren. Die Erfahrungen, die durch diese Pilotinstallation gesammelt wurden, und die Zusammenarbeit mit den einzelnen Partnern, waren essenziell, um das Gesamtprojekt anschliessend umsetzen zu können. Das Ziel war, die Pilotanlage 72 Stunden ohne Unterbruch und menschliche Eingriffe betreiben zu können. Erst die so gewonnenen Erkenntnisse und das aufgebaute Know-how ermöglichten die erfolgreiche Umsetzung während der laufenden Produktion.

Das Ergebnis

Nach der Demonstration der Machbarkeit in der Pilotlinie wurde die Umsetzungsphase gestartet. Das «Genesis»- Programm umfasst über 120 Projekte mit insgesamt 55 Robotern, davon 40 Industrieroboter von ABB. Rund 30 neue Sonderanlagen und insgesamt 120 Anlagen werden in das MES integriert. Im November 2018 wurde die erste Roboterzelle in Betrieb genommen. Im Endausbau wird der Standort in Lenzburg eine automatisierte ­Fertigung von einer Komplexität aufweisen, die ihresgleichen sucht. Der Standort wird damit auch als Leuchtturmprojekt und Demonstrationsfabrik dienen, anhand der erfahrbar wird, was sich mit AGV, Roboter- und Ability-Lösungen von ABB realisieren lässt.

Mit «Genesis» wird eine Indus­trie-4.0-Fertigung mit umfassender horizontaler und vertikaler digitaler Integration geschaffen, vom Einschleusen der Leistungshalbleiterchips bis zu vollständig automatisiert gefertigten, geprüften und versandfertigen Leistungshalbleitermodulen in zahlreichen Varianten. Die Intelligenz bzw. Produktionslogik steckt im Manufacturing Execution System: Die Roboter, AGV, Anlagen, Lager usw. erhalten Transportaufgaben und Informationen wie Rezepte, Konfigurationen und Produktinformationen aus diesem übergeordneten System. Sämtliche Anlagen und Roboter tauschen Informationen mit dem MES aus, sodass in einer Produktionszelle mit mehreren Robotern verschiedene Produkte gleichzeitig bearbeitet werden können. Die Roboter rüsten dabei die Anlagen anhand der Informationen aus dem MES um. Umrüstprozesse und weitere nicht-wertschöpfende Transportprozesse werden damit automatisiert. Es wurde eine hoch agile Produktion geschaffen, die sich selbstständig an die jeweiligen Anforderungen anpasst. Die Steuerung der Fertigung erfolgt aus einem Kon­trollraum, so dass eine Person die gesamte Fertigung überwachen und steuern kann. Die hierfür notwendigen Informationen und Daten aus der Fertigung werden durch die vertikale Integration ins MES geliefert und dort visualisiert. Relevante Produktions­daten und Kennzahlen werden in Grafiken in einem «Production Dashboard» dargestellt.

Herausforderungen, Lehren und Erfolgsfaktoren

Jede Phase in einem solchen Programm hat ihre eigenen Herausforderungen. Die grösste der Planungsphase war, die Vision zu formulieren sowie das Grundkonzept zu entwerfen. Letzteres macht die Vision anhand eines Plans sichtbar und definiert das zu erreichende Ziel. Dieses entwickelt sich im Laufe der Zeit kontinuierlich weiter. Ein ausgereiftes Konzept im Detail zu entwickeln, dauert mehrere Jahre. Die Planungsphase stellt eine Zeit ohne «Return of Invest» dar, daher ist es für das Projektteam essenziell, in dieser Zeit von der gesamten Organisation unterstützt zu werden.

In der Vorbereitungsphase wurden sämtliche Teilprojekte und Aufgaben definiert. Der Programm-Manager ist für die Erstellung und Ausführung der Strategie zuständig. Er stellt sicher, dass sich das Konzept in die erwünschte Richtung entwickelt und koordiniert die Projekte, setzt Prioritäten und unterstützt das Projektteam in der Lösungserarbeitung und bei der Überwindung von auftretenden Problemen. Entscheidend in dieser Phase war der durch die Pilotphase gewonnene Aufbau von Know-how, sowohl in der Organisation wie bei den Lieferanten.

In der Umsetzungsphase müssen die Projektmitarbeiter befähigt werden, selbstständig Entscheidungen zu treffen. Hier sind Vertrauen, Transparenz und Ehrlichkeit auf allen Ebenen elementar. Eine zentrale Rolle nehmen dabei die Kollegen des Kern-Teams des Projekts ein, die die Projekte leiten und verwalten. Ihr technisches Verständnis und ihre Problemlösungs­fähigkeiten spielen eine zentrale Rolle bei der Umsetzung der Projekte. Eine der grössten Herausforderungen in dieser Phase ist die Realisierung der Automatisierung in der bestehenden Fertigungsstätte während des laufenden Betriebs, ohne diesen übermässig einzuschränken. Deshalb ist eine detaillierte Planung der Durchführung hier sehr wichtig.

Ergänzend zur üblichen Planung wurde eine grafische Planung mit sogenannten «Drehbüchern» eingeführt, welche die Installationsabfolgen Schritt für Schritt visualisieren. Diese Darstellung erleichtert die Planung erheblich, da so für alle Beteiligten leichter verständlich wird, was wann zu tun ist. Zudem werden mögliche Fehler in der Planung aufgedeckt. Einen weiteren Erfolgsfaktor stellen die Lieferanten dar. Es empfiehlt sich, mit möglichst wenigen Lieferanten zu arbeiten, um Synergien in den verschiedenen Projekten nutzen zu können und den Koordinationsaufwand zu minimieren. Schliesslich hängt der Erfolg des Gesamtprojekts vom Einsatz aller Mitarbeitenden vor Ort ab.

 

Autor
Dr. David Hajas

ist Programm-Manager bei ABB Power Grids.

  • ABB Power Grids Switzerland AG
    5600 Lenzburg
Autor
Moritz Maute

ist Projekt-Manager bei ABB Power Grids.

  • ABB Power Grids Switzerland AG
    5600 Lenzburg

Kommentare

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