Fachartikel Fachkräfte

Raus aus der Krise – rein in den Wettbewerb

Unbesetzte Lehrstellen

03.04.2019

Der Mangel an Lernenden hat längstens auch die Energiebranche erreicht, wobei es heute kaum mehr Branchen gibt, in denen ein Überfluss an Lernenden besteht. Will man diese Herausforderung jetzt ernsthaft anpacken, lohnt es sich, die Extrameile zu gehen und mit ausgebildeten «Fans» auch das Kernproblem, nämlich das Fachkräftedefizit, wesentlich zu dämpfen.

Bei beinahe allen Schweizer Lehrbetrieben nimmt der Leidensdruck hinsichtlich Lehrlingsmangel zu. Dies wird verdeutlicht, indem man sich auf dem renommiertesten Lehrstellenportal yousty.ch einen Überblick verschafft. Ende Januar 2019 wurden für diese Saison nämlich noch knapp 19 000 Auszubildende gesucht, wobei die Netzelektriker mit noch 112 offenen Lehrstellen vergleichsweise gut dastehen.

Verantwortlich hierfür dürften vergangene Bemühungen sein, denn die Energiebranche nehme das Problem nicht erst seit gestern ernst, sagt Michael Paulus, Bereichsleiter Technik und Berufsbildung beim Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen VSE. Viele Anstrengungen wurden bereits unternommen und das Thema Lehrlings- sowie Fachkräftemangel habe die letzten Jahre enorm an Bedeutung gewonnen. Regelmässige Berichte in Hauszeitschriften und Newslettern, Social-Media-Aktionen, Berufsanlässe- und Messen sowie Infoveranstaltungen sind ein kleiner Auszug von zwischenzeitlich breit angewendeten Massnahmen. Am effektivsten fruchteten jedoch vor allem direkte Empfehlungen im Familien- und Bekannten-Netzwerk, bestätigt Michael Paulus.

Fachkräftemangel – die eigentliche Herausforderung

Unerfreulicher entwickelt sich die Situation bei den Fachkräften. Die rund 600 Schweizer Energieverteiler vermissten bereits per Ende 2015 173 Netz­elektriker EFZ, 58 Netzfachleute mit eidgenössischem Fachausweis sowie 42 Netzelektrikermeister mit eidgenössischem Diplom. Überschlägt man auf den Jobportalen aktuell ausgeschriebene Branchen-Vakanzen, erkennt man rasch, dass der Bedarf nach Spezialisten zwischenzeitlich gar noch gewachsen ist.
Die Nachfrage nach Lernenden nimmt zu. Einer der wichtigsten Gründe, wieso die Nachfrage und ebenso der Kampf nach Lernenden zunehmen, zeigt ein Blick auf das Gesamtbild des gegenwärtigen Arbeitsmarktes. Einer Studie des Personaldienstleistungsunternehmens Manpower von 2018 zufolge bekundet beispielsweise jedes dritte Schweizer Unternehmen Mühe damit, dringend gesuchte Fachspezialisten zu finden. 2017 beklagte dies erst ein Fünftel der befragten Firmen.

Das Bundesamt für Statistik bringt es noch präziser auf den Punkt: Die Differenz der EU-/Efta-Staatsbürger, die zwecks Arbeit mit festem Schweizer Wohnsitz einreisten, zu jenen, die wieder zurück in ihr Heimatland auswanderten, lag vergangenes Jahr bei insgesamt +0,4%. Trotz brummender Konjunktur also ein weiteres Jahr, in welchem der Wanderungssaldo nicht markant zulegen konnte, jedoch immerhin stagnierte. 2018 arbeiteten zudem 0,8% weniger ausländische Pendler in der Schweiz als im Jahr zuvor. Diese Statistik ist damit erstmals seit 20 Jahren rückläufig. 2020 dürften ausserdem bereits 20 000 Menschen mehr in Pension gehen als Nachwuchs nachrückt. Im Jahr 2025 steigt diese Zahl auf über 40 000, 2030 werden es gar 60 000 der Baby-Boomer Generation sein – pro Jahr, versteht sich.

Weltweit leiden beinahe alle reichen Länder unter den ungünstigen Effekten des demografischen Wandels. Es dürfte also schwierig bleiben, im wachsenden Fachspezialisten-Wettbewerb genügend ausländische Arbeitskräfte für die Schweiz zu gewinnen und diese auch dafür zu begeistern, längerfristig im Land zu bleiben. Noch komplexer wird die ganze Angelegenheit aufgrund der vielen neuen Berufe, welche in den kommenden Jahren noch entstehen werden, denn diese werden sich bei den Jugendlichen garantiert grosser Beliebtheit erfreuen. Die hohen Anforderungen dieser Jobs könnten jedoch mehrheitlich zur Folge haben, dass vor allem der qualitative Lehrlingsmangel bei einem klassischen Beruf wie dem Netzelektriker noch mehr wachsen wird.

Spätestens bei der nächsten Rezession wird sich die Mangelerscheinung von Lernenden und Fachkräften wieder entschärfen. Studiert man die Effekte aus vergangenen Wirtschaftszyklen, muss das wahrscheinlich so sein. Und aufgrund der Digitalisierung müssen freilich auch nicht alle Pensionierten ersetzt werden – einige potenzielle Rentner werden bestimmt weiterarbeiten, und schon demnächst folgen die geburtenstarken Jahrgänge. Entgegen allem Optimismus scheint es, als würden etliche Organisationen die Zukunft differenziert einschätzen und planen, darum auch zukünftig mit noch grösseren Geschützen aufzufahren, um den Fachkräftemangel mehrheitlich mit eigenem Nachwuchs abzudämpfen. Man darf gespannt sein.

Ab in den Wettbewerb

Zurück zu den Lernenden. Die steigende Beliebtheit des gymnasialen Weges, Berufe, welche weniger attraktiv sind, die Generation Z, die sich die Hände nicht mehr schmutzig machen will und weitere Gründe sind wohl Ursache für die heutige Lernendenknappheit. Nun gilt es, die bestehenden Herausforderungen gemeinsam mit den heutigen und künftigen Generationen anzugehen und zu lösen. Das könnte sich lohnen, denn Zukunftsforscher prognostizieren bereits heute die noch aufgewecktere Generation Alpha. Mit Robotern und künstlicher Intelligenz im Mittelpunkt können sich Kommunikation, Einstellung und Ziele der Jugendlichen von übermorgen ein weiteres Mal merklich verändern, und zwar rasend schnell. Dabei wird auch das Thema Berufswahl von anderen, vielleicht neuen Faktoren beeinflusst und bestimmt. Wer sich mit diesen unaufhaltsamen Entwicklungen befasst und das Thema Mitarbeiterkultur ins Zentrum rückt, kann auch in fünf bis zehn Jahren die besten Talente anziehen, vorausgesetzt er nimmt die Jugendlichen bedingungslos mit ins Boot.

Fakt ist, dass es deutlich mehr Lehrstellen als interessierte, passende Lehrstellensuchende gibt, so dass Lehrbetriebe heute im Zugzwang sind, sich dem Wettbewerb zu stellen. Primär könnte es jedoch hilfreich sein, herauszufinden, warum ausgerechnet das eigene Unternehmen Mühe bekundet, passende Lernende zu finden, wie Mitbewerber oder sogar führende Lehrbetriebe mit dieser Frage umgehen und wie sich das Defizit überhaupt entwickeln konnte.

Know-how dort abholen, wo es vorhanden ist

In diesem Zusammenhang ein reines Erwachsenen-Projekt, dazu noch mit Akademikern, zu lancieren, wäre wohl in den meisten Fällen nicht die fruchtbarste Idee, denn spätestens nach dem dreissigsten Geburtstag kann es schwierig werden, zu verstehen, wie Teenager beim Thema Lehrstellensuche abgeholt werden wollen, geschweige denn, wie man ihnen in dem ganzen Prozess begegnen soll. Wieso also nicht ein oder sogar zwei Lernende fest in ein entsprechendes Projekt einbinden? Zu Hause ermutigt man seine Kinder ja auch zum Mitreden, Mitdenken, und Mitentscheiden. Das eröffnet neue Perspektiven und kann für alle Parteien gewinnbringend sein.

Das Maximum an Früchten kann ferner ernten, wer sich Lehrstellensuchende als Kunden vorstellt und seine zu besetzenden Lehrstellen als Produkte. Denn kein Unternehmen geht heute mit komplexen Produkten auf den Markt, ohne potenzielle Kunden im Vorfeld zu befragen. Was für gut, schlecht oder verbesserungswürdig befunden wird, und unter welchen Umständen man bereit wäre zu kaufen – verbunden mit einer drei- bis vierjährigen «Verpflichtungsklausel» –, steht dabei ebenso im Mittelpunkt wie die vielen persönlichen Beraterinnen, Ratgeber und Beeinflusserinnen, wie beispielsweise Lehrer oder Eltern.

Solche potenziellen «Kunden» befinden sich meist bereits in den Betrieben, seien es die eigenen Lernenden oder Schnupperlehrlinge. Um anonymisierte Antworten auf solche Fragen zu erhalten, ist der Einsatz von Anbietern möglich, welche gemischte Gruppen von Jugendlichen für Workshop-Nachmittage organisieren. Das ist ein idealer Lösungsweg, um ein völlig unabhängiges Fremdbild rund ums Lehrlingswesen zu erhalten, und um zu erfahren, wie und wo man die «Kunden» überhaupt suchen soll.

Grundbedürfnisse sind gleich, aber stärker

Eine ganze Reihe von Jugendlichen findet nicht ihren Traumberuf, ist sich aber auch bewusst, dass es so was vielleicht nur ansatzweise gibt. Diese Jugendlichen sind, zumindest für den Übergang in die Berufsbildung, auch bereit, erst einmal das Unternehmen selbst, die Lehrbetriebskultur sowie die Wunschrichtung des Berufs in den Vordergrund zu stellen. Geht man den eigentlichen Wünschen und Vorstellungen von Teenagern genauer auf den Grund, landet man automatisch beim Ursprung der menschlichen Grundbedürfnisse, was die Maslow-Pyramide perfekt zum Ausdruck bringt.

Das ist ein guter Zeitpunkt, um durchzuatmen. Denn Jugendliche sind Jugendliche geblieben, und grundsätzlich hat sich nichts verändert, jedoch ist der Drang nach Sicherheit, danach, gemocht zu werden, nach Wertschätzung und Selbstverwirklichung bei der Generation Z massiv gewachsen. Umso weniger wundert es, dass Attribute wie Wohlfühlfaktor, kollegiales Arbeitsklima, verständnisvolle Betreuung, Benefits, Image und Entwicklungs- respektive Perspektivensicherheit hoch im Kurs stehen. Nicht umsonst finden gerade Grosskonzerne mit bekannteren Namen auch bei Berufen mit eher wenig Sexappeal, jährlich 20, 50 und manchmal sogar 100 neue Lernende, teilweise sogar in abgelegenen Regionen.

Oft besuchen Jugendliche dabei nur eine einzige Schnupperlehre und unterschreiben danach gleich den Lehrvertrag. Ein Teil der «Schnellentscheider» sind wahrscheinlich schulisch schwächere Kandidaten, die froh sind, eine Ausbildungsstelle gefunden zu haben. Der Grossteil jedoch fühlt sich im Schnupperbetrieb grundsätzlich einfach wohl und versteht, dass man für die Ausbildungszeit sicher aufgehoben ist und Entwicklungsmöglichkeiten erhält. Natürlich müssen die Fähigkeiten der Teenager mit den beruflichen Anforderungen übereinstimmen. Dennoch ist das Potenzial passender Lernender mit den Brennpunkten Unternehmen und Lehrbetrieb um einiges grösser als viele glauben.

Die Jugendlichen von heute sind cleverer als gedacht. Sie informieren sich, tauschen sich bei jeder Gelegenheit aus und sind sich mehrheitlich bewusst, dass sie in ihrem Leben wohl mehrere Berufe ausüben werden. Schafft man es also, Stück für Stück, eine auf die Jugendlichen abgestimmte Lehrbetriebskultur zu implementieren, über die im Unternehmen und darüber hinaus gesprochen wird, spielt man in der Champions League der Ausbildungsbetriebe und wird bei Bedarf auch einen beachtlichen Teil seiner Feststellenvakanzen mit passenden LAP-Absolventen abdecken können.

Nur wie startet man solch ein Unterfangen? Man muss sich für die heutige Generation Z tiefgründig interessieren, permanent das Gespräch mit ihr suchen, sie bereits während der Schnupperlehre abholen und sicherstellen, dass die ersten drei bis sechs Monate der Lehrzeit unbedingt ein positives Erlebnis sind. Dazu kommt das berühmte MMMM, jedoch ein wenig angepasst: Man Muss Jugendliche Mögen. Das scheint banal, sollte aber der Hauptantrieb eines jeden CEO und Berufsbildners sein, überhaupt Lernende zu engagieren.

Wenn sich schliesslich das Ende der Lehre zum Start von etwas Grösserem entwickelt, sollt man sich immer wieder vor Augen halten, dass Denkweisen wie «Die übernehmen wir» oder «Der darf bei uns bleiben» je länger je mehr der Vergangenheit angehören. Denn erstens muss man die Jugendlichen frühzeitig darauf ansprechen und betonen, dass man an ihnen als Fachkraft und Mensch interessiert ist. Zweitens ist es zwingend zu verstehen, dass sich der Markt für frisch ausgebildete Lernende stark gewandelt hat. Die LAP-Absolventen können es sich heute nämlich leisten, zu vergleichen und auszusuchen. Damit bekommt die Ausbildung als Ganzes einen komplett neuen Stellenwert. Im Wettbewerb betrachtet ergibt dies jedoch eine Fülle an Chancen, wie man sich als Lehrbetrieb abheben und dadurch das Fachkräfteproblem wesentlich verringern kann.

Online Marketing – ohne wird es schwierig

Lebte Henry Ford noch, wäre er bestimmt ein exzellenter Online-Marketing-Spezialist, denn schon vor mehr als hundert Jahren wusste er: «Wenn Sie einen Dollar in Ihr Unternehmen stecken wollen, so müssen Sie einen weiteren bereit halten, um das bekannt zu machen.» Klar geht Online Marketing heute günstiger, aber ein moderner Lehrbetrieb, der gewillt ist, in Jugendliche zu investieren, sollte sicherstellen, dass dies möglichst viele Lehrstellensuchende und Beeinflusser erfahren. Autonome Websites für Lehrstellensuchende, Apps, Social Media, Videos oder Chatbots richtig angewendet, können einen Ausbildungsbetrieb rasch ans Ziel bringen. Lehrstellenportale sind zwischenzeitlich die meist verbreitete Art, auf elektronischem Wege für Lernende zu werben. Bestimmt ist es nicht falsch, da mitzuwirken, denn Jugendliche partizipieren gut und gerne mit. Auf solchen Portalen stehen Betriebe jedoch ständig in Konkurrenz zu den Lehrstellenangeboten ihrer Mitbewerber.

Ob man den Technologiegiganten nun mag oder nicht, Fakt ist, dass auch Lehrstellensuchende permanent googeln; übrigens fast ausnahmslos, wenn es darum geht, eine Lehrstelle zu finden. Riesige Chancen lassen sich erahnen, wenn man weiss, dass ein Grossteil der Jugendlichen bei den Google-Suchresultaten auf die Anzeigen klickt. Was aber nicht bedeutet, dass ausschliesslich die oberen Werbeanzeigen angeklickt werden, denn die «Scroller-Generation» gibt den weiter unten gelisteten Resultaten ebenso grosse Beachtung. Bis heute nutzen nur ganz wenige Lehrbetriebe den enormen Vorteil, potenzielle Lernende über Google-Anzeigen (Google Ads) auf ihre Zielseiten zu lenken. Das könnte sich jedoch bald ändern, denn die Projekte sind im Vergleich zum Return kostengünstig, wie auch die CPCs (Kosten pro Klick auf die Zielseite).

Apropos Scroller-Generation: Mit Lernenden in Lehrlingsmarketing-Projektteams ist man in den Kategorien Basiswissen und Trends fast immer aktuell. Denn wer weiss beispielsweise schon, dass das heute angesagteste Social-Media-Netzwerk nicht Facebook, Instagram oder Snapchat ist, sondern die chinesische App «Tiktok»? Man lernt aber noch viel mehr von Jugendlichen, beispielsweise dass die Aufmerksamkeits-Zeitspannen rapide abnehmen. In den ersten vier bis sieben Sekunden entscheidet das junge Zielpublikum, ob es auf der angewählten Website verweilt oder zur nächsten wechselt. Ein nicht unwesentlicher Teil der künftigen Werbevideos wird heute deshalb auf sechs Sekunden reduziert. Diese sogenannten «Bumper Ads» beinhalten meist etliche Bildsequenzen und eine klare Botschaft.

Aber auch bei guten Websites für Lehrstellensuchende können Unternehmen von konstruktiver Kritik ihrer Auszubildenden profitieren, um gewünschte Effekte maximal auszuschöpfen. Gewährt man etwa der Generation Z bei coolen Seiten nicht die Möglichkeit zu sharen (teilen), kann dies eine vergebene Chance für einen positiven Schneeballeffekt bedeuten. Wenn nur schon ein Viertel der Lehrstellensuchenden die angesagte Seite seinen Whatsapp-Gruppen weiterleitet, kann dies hinsichtlich Bewerbungen Wunder bewirken. Die wohl am meisten vergebene Chance ist aber, wenn die Websites nicht responsive sind. 99% der Jugendlichen wechseln sofort die Website, wenn die Ansicht viel zu klein ist und man jegliche Infos heranzoomen muss.

Nein, nicht alles muss jetzt cool und Generation-Z-konform sein, aber schon ein Treffen in der goldenen Mitte kann enorm viel bewirken. Der langfristige Nutzen ist für beide Seiten bedeutend. Aber nur die Haltung «Weg vom Stift und hin zum Mitarbeiter in Ausbildung» führt zu treuen Fans und schliesslich motivierten Fachkräften.

Autor
Peter Heiniger

ist Inhaber von Heiniger Lehrlingsberatung.

  • Heiniger Lehrlingsberatung, 8008 Zürich

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